Questlove – Auf dem Sprung

Questlove ist der Kopf der großen HipHop-Band The Roots, er trommelt in Jimmy Fallons Late-Night-Show und wird von Jay-Z, Prince und halb Hollywood geschätzt. Warum nur wird er immer noch nervös, wenn schöne Frauen in der Nähe sind?

Als Erstes sieht man die Haare – sogar aus der Entfernung. Als ich ihn auf einem Parkplatz in Los Angeles treffe, kann ich den schwarzen Afro, der über die Nackenstütze seines Miet-Mercedes quillt, selbst von Weitem nicht übersehen. Es ist das Merkmal, über das Ahmir Thompson alias Questlove spontan identifizierbar ist. Wenn Fans ihn auf der Straße entdecken und ein gemeinsames Erinnerungsfoto schießen, kann es auch schon mal passieren, dass sie den Zierkamm auf seinem Afro mitgehen lassen. Genaugenommen passierte es so häufig, dass er sich vor einigen Jahren eine Kiste mit 2000 Kämmen bestellte – so wie Elaine in „Seinfeld“, die immer einen Vorrat an Schwämmen bunkert. Inzwischen ist die stille Reserve auf 60 geschmolzen.

Thompson ist übers Wochenende in L.A., weil er für einen Gig als DJ gebucht wurde. Gestern Abend hatte er in New York ein Flugzeug bestiegen, nachdem die Aufzeichnung der „Late Night with Jimmy Fallon“ im Kasten war. Seit Beginn der Talkshow im März 2009 treten The Roots, seine langjährige Gruppe, dort als Hausband auf. Für eine HipHop-Crew aus Philadelphia, die den größten Teil ihrer 16-jährigen Bandgeschichte im kommerziellen Niemandsland verbrachte, war es sicher ein gewöhnungsbedürftiger Arbeitsplatz, aber auf verquere Art und Weise passt alles perfekt zusammen.

Thompson, 40 Jahre alt, ist ein großer Verehrer des Schriftstellers Malcolm Gladwell, er benannte sogar eins seiner Alben nach Gladwells „The Tipping Point“. In dem Buch behandelt Gladwell das Phänomen der „Konnektoren“: Leute, die über einen enormen Freundeskreis verfügen und einen entsprechend großen Einfluss auf ihre Kultur haben. Innerhalb der Musikwelt ist Thompson vermutlich der perfekte Konnektor. Liest man auch nur einen Auszug seiner Credits und Kollaborationen, glaubt man, auf einer exotischen Party gelandet zu sein: Mick Jagger, Al Green, Christina Aguilera, Amy Winehouse, Lil Wayne, Fiona Apple, D’Angelo. In Australien war er mit den White Stripes auf Tour, in Europa mit den Red Hot Chili Peppers. Mit Hank Williams Jr. und Bootsy Collins nahm er die Titelmelodie der populären Sportsendung „Monday Night Football“ auf – und bei der „Late Night“-Show spielte er mit Gott und der Welt, von Bruce Springsteen über Public Enemy bis hin zu „Animal“ von der „Muppet Show“. Er hängt mit Jay-Z und Beyoncé ab, geht mit Eddie Murphy und Prince zum Skaten – und muss sich auch mal gefallen lassen, von Präsident Obama wegen seines Afros aufgezogen zu werden.

Zunächst einmal entschuldigt er sich für seinen Wagen. Es ist ein cremefarbenes Coupé und im Innenraum so beengt, dass sein Bauch fast schon das Lenkrad berührt. Wenn er in L.A. ist, mietet er gewöhnlich einen Mini Cooper – innen erstaunlich geräumig -, aber diesmal waren bei der Autovermietung alle vergriffen. Zu Hause fährt er einen unauffälligen Toyota Scion, der immerhin reichlich Kopffreiheit bietet (die Haare!), ansonsten aber so ziemlich das letzte Automodell ist, das man mit ihm in Verbindung bringt. „Ich bin nun mal körperlich etwas überdimensioniert“, sagt er. „Ich kann mir nicht erlauben, auch noch mit einem protzigen Wagen durch die Welt zu rollen.“

Wir fahren Richtung Downtown auf der Suche nach einem Café, um ungestört unser Interview zu führen. Er erzählt, dass er die vergangenen Stunden mit der Suche nach geeigneten Songs verbracht habe, die er nächste Woche in der Late-Night-Show spielen will – die sogenannten „walk-on songs“, die auf den jeweiligen Talk-Gast zugeschnitten sind. „Wenn du mich fragst“, sagt er, „ist dieser Song sogar der wichtigste Teil der Show.“ Manchmal quält er sich drei Stunden lang, um etwas Passendes aufzutreiben – auch wenn seine kleinen Anzüglichkeiten nicht jedermanns Sache sind: Rapper Common, der Freund von Serena Williams, war etwas verschnupft, als man bei seinem Auftritt „Da Butt“ spielte. Jimmy Fallon lässt ihm bei der Auswahl freie Hand und legte nur einmal sein Veto ein, als er Katie Holmes mit „She Blinded Me With Science“ begrüßen wollte. Thompson sagt mit gespieltem Bedauern: „Es wäre zu schön gewesen.“

Vor uns sehen wir plötzlich einen mobilen Taco-Stand. „Weißt du, was wir jetzt machen? Wir setzen uns in die Bude und verdrücken ein paar Tacos.“ Er kehrt abrupt um und steuert einen gebührenpflichtigen Parkplatz an. Als der Parkwächter ihn beim Einparken beobachtet, fragt Thompson: „Willst du etwa hier die ganze Zeit rumstehen und mir zuschauen? Ich bin ein Meister meines Faches.“ Er dreht sich um und prustet vor Lachen. „Was natürlich erstunken und erlogen ist.“

Wie sein Kumpel Will Smith wuchs Thompson in West Philadelphia auf – nicht die übelste Gegend, aber auch nicht gerade die beste. Er erzählt, dass von den 33 Kindern, die in seiner Straße wohnten, nur noch drei übrig blieben: einige starben, andere verabschiedeten sich in den Drogensumpf. „Zwischen 1987 und 1996 gab es eine regelrechte Epidemie, die meine Nachbarschaft ausradierte“, sagt er. (The Roots beschäftigen sich mit dieser Thematik auf „Undun“, ihrem neuen Konzeptalbum über Leben und Tod eines jungen Schwarzen.)

Tariq „Black Thought“ Trotter, Roots-Mitbegründer und Questloves ältester Freund, erinnert sich, dass die Thompsons ihre Haustür mit einem Vorhängeschloss gesichert hatten. Es hielt die Crackheads draußen – und Ahmir drinnen. Thompsons Vater war ein Profimusiker, der früh beschlossen hatte, dass sein Sohn Schlagzeuger werden solle. Ahmir übte jeden Tag, nach Beendigung der Hausaufgaben bis zur Schlafenszeit. „Ich hatte überhaupt keine Wahl“, sagt Thompson. „Als ich 13 oder 14 war, hätte ich gern mal den Samstag freigehabt, aber da draußen gab es für mich gar keine Alternativen.“

Thompson Vater sang in einer Doo-Wop-Gruppe namens Lee Andrews And The Hearts, und seine Familie nahm Ahmir regelmäßig mit auf Tournee. Als Kind wurde er einmal hochkant aus Chuck Berrys Umkleideraum geworfen, mit acht bürstete er Papas Anzüge, ein Jahr später durfte er an die Lichtanlage – und hatte mit elf seinen ersten Job als DJ, „in einer Redneck-Bar“ irgendwo in West Virginia. Als er zwölf war, verpasste der reguläre Schlagzeuger der Band einen Gig – und Ahmir sprang ein. Es sollte sein erster Auftritt als professioneller Musiker sein. Der Ort: die heilige Radio City Music Hall in New York.

Er war von Musik schon immer besessen. Seine Mutter Jacqui erinnert sich, dass er als Kind stundenlang gedankenverloren vor seinem Plattenspieler stand. „Er hatte jede Menge Vinyl-Singles, und er nahm sie in die Hand und starrte sie an. Einmal hielt er eine hoch und sagte:, The Isley Brothers! Motown! Katalognummer 7643 …'“ Wie sich später herausstellen sollte, hatte er sie alle auswendig gelernt.

Ein anderes Mal beobachtete sie ihn dabei, wie er ein paar Altersgenossen das Leben auf Tour zu erklären versuchte. „Sie sagten nur:, Was erzählst du da für einen Scheiß? Das ergibt alles überhaupt keinen Sinn!‘ Als Mutter wäre ich fast verzweifelt. Ich dachte:, Oh, mein armer Junge. Er wird in dieser Welt nie auf einen grünen Zweig kommen.'“

Auch wegen seiner langen Haare zogen ihn die anderen Kids auf, nannten ihn „Ahmira“ oder fragten: „Wie kommt’s, dass du wie ein Weißer redest? Glaubst du, du wärst was Besseres?“ Wenn er zur Schule musste oder zum Supermarkt, legte er sich vorher immer eine Route zurecht, um unnötigem Ärger aus dem Weg zu gehen.

Im elften Schuljahr wechselte er auf die High School for Creative and Performing Arts, traf dort Trotter und legte den Grundstein zu dem, was später einmal The Roots werden sollten. Zu diesem Zeitpunkt begann er auch, sich ernsthaft mit HipHop zu beschäftigen. Seine Eltern waren dummerweise strikte Christen – was bedeutete, dass Alben mit „explicit lyrics“ im Haus verboten waren. Um sich ein Donnerwetter zu ersparen, versteckte er die Alben unter der Matratze. „Je mehr ich rebellierte, desto rigoroser wurde es mir mit dem Herrgott ausgetrieben. Ich durfte keine Cartoons sehen und auch keine Sitcoms. Auf alles, was von Prince stammte, stand die Höchststrafe. Zwischen 1982 und 1987 habe ich allein rund neun Kopien von, 1999′ verschlissen.“ (Als er später einmal im Prince-eigenen Studio war, rutschte ihm versehentlich ein Fluch über die Lippen. Prince, inzwischen auf dem Zeugen-Jehovas-Trip, verlangte, dass er 20 Dollar Bußgeld in ein Glas stecke, das dort für derartige Fehltritte bereitstand. „Ich fragte:, Wofür?‘, und er:, Du hast geflucht, und hier ist Fluchen verboten.‘ Ich sagte:, Du Motherfucker, hast du eine Ahnung, wie oft ich deinetwegen Prügel bekam? Ich habe doch all diese Wörter von dir gelernt.'“)

Was seine Plattensammlung betrifft, ist Thompson auch heute noch der klassische Nerd. Wenn er sich ein schönes Wochenende machen will, digitalisiert er einen Stapel seiner 77.000 Alben, die er in einem separaten Haus in Philadelphia lagert. Er gibt locker 750 Dollar aus, wenn er erst einmal einen Plattenladen betritt. „In den letzten Jahren habe ich schon auf die Bremse getreten“, sagt er, „aber zwischen 1997 und 2006 habe ich mindestens 50.000 Dollar pro Jahr für Platten rausgetan. Wenn ich einmal auf Einkaufstour ging – und das war rund 20 Mal im Jahr der Fall -, kamen im Nu 2.500 bis 4.000 Dollar zusammen.“ Er besitzt auch kleine Juwele wie Michael-Jackson-Mastertapes oder Aufnahmen von Prince-Proben. Sein teuerstes Exemplar ist eine Anpressung von Princes „Black Album“, das er für 3.700 Dollar erstanden hat. Sein Freund John Legend schwört, dass neben ihm selbst gestandene Musikhistoriker alt aussehen – und Jimmy Fallon nennt ihn „das wandelnde Spotify“.

Jeder hat eine besondere Questlove-Anekdote auf Lager. Erykah Badu erinnert sich an eine Marathon-Session, die bis vier Uhr morgens dauerte. Thompson, ohnehin schon krank, war drauf und dran, hinter seinem Drumkit einzunicken. Er schreckte hoch, als ihm ein Stick aus der Hand fiel – was ihn aber nicht davon abhielt, den Beat unbeirrt durchzuhalten. Jay-Z erwähnt die Proben zu einem seiner Konzerte, bei der Questlove die Drum-Parts eines neuen Songs einstudierte, sich gleichzeitig aber angeregt mit ihm unterhielt: „Es ist mir ein Rätsel, wie er das machte.“

Jimmy Fallons Anekdote aber ist die beste. „Bruce Springsteen kam zur Show“, sagt er, „und wir gingen durch seine Setlists aus den 70er-Jahren. Bruce fragt (er imitiert perfekt seinen Tonfall):, Was ist mit, Wiggle Waggle‘? Roots, kennt ihr, Wiggle Waggle‘? Und die Roots sagen:, Hm. Nee. Noch nie gehört.‘ Wir reden noch drei Minuten weiter, und als dann die Pause für die Werbung kommt, fangen die Roots plötzlich an,, Wiggle Waggle‘ zu spielen. In der Zwischenzeit hatte Questlove den Song im Internet gefunden und den Rest der Band instruiert. Bruce wollte es nicht glauben, es war wie eine Weihnachtsbescherung für ihn. Er sprang vom Stuhl auf und rief nur:, Oh Mann,, Wiggle Waggle!'“

Wenn man mit Thompson unterwegs ist, entwickeln sich selbst vermeintlich normale Nächte zu einer Kette überraschender Begegnungen. Nach seinem DJ-Set macht er sich auf den Weg nach Hollywood, um seine gute Bekannte Sasha Grey zu treffen, einst Porno-Star, zuletzt in den HBO-Serie „Entourage“ zu bewundern. Sie lernten sich vor einigen Jahren kennen, als Grey in einem Roots-Video mitspielte, und sind seither dicke Freunde. Sie stehen auf dem Bürgersteig, von Paparazzi umgeben, als Thompson eine SMS von „Community“-Star Donald Glover bekommt: „Bin ich eben an dir vorbeigefahren?“ Er textet, dass er gerade auf dem Weg zu einer Party sei – und dass alle doch mitkommen sollen. Thompson ist sich nicht sicher, ob er sich wirklich aufraffen kann: Die Party ist im Haus von Schauspielerin Alison Brie – und Thompson hat sich unsterblich in sie verguckt. Er traf sie einmal in der Fallon-Show, war aber zu schüchtern, um sie anzusprechen.

Am Ende kann er der Versuchung nicht widerstehen. In den Hollywood Hills angekommen, öffnet Glover die Tür. Ein paar Freunde aus Glovers Fernsehserie sind ebenfalls anwesend, die musikalische Unterhaltung liefert eine Mumford-&-Sons-ähnliche Bluegrass-Band. Brie kommt vorbei, um Getränkewünsche entgegenzunehmen, doch Thompson hält sich bedeckt. Als sie in die Küche verschwindet, sagt er, dass er sich durchaus mal einen Drink genehmige – dass ihm aber seine alkoholischen Vorlieben etwas peinlich seien. (Er trinkt bevorzugt Kahlúa mit Sahne.)

Bei einer kleinen Jam-Session später in der Nacht übernimmt Thompson das Schlagzeug, während Brie zum Mikro greift und ein paar handgemachte Reime zum Besten gibt. Im Anschluss findet sich sogar Gelegenheit, ein paar Minuten mit ihr zu plaudern, doch als er später wieder im Auto sitzt, ärgert er sich. „Es ist hart, Mann. Solange mein Hirn funktioniert, bin ich das Selbstbewusstsein in Person. Aber dann gerät man in eine Situation, wo man sich nur denkt:, Oh Scheiße, oh Scheiße, oh Scheiße …‘ Inzwischen bin ich wieder cool und bei Sinnen und kann vollständige Sätze sprechen. Aber vorhin gab es einen Moment, als ich mich daran erinnern musste, das Atmen nicht zu vergessen.“ Er schüttelt den Kopf. „Ich habe ja mit allem gerechnet, aber nicht mit einer Singalong-Sause, bei der ich mich ständig davon abhalten musste, über sie herzufallen. Was für eine abgefahrene Nacht.“

Nach einem weiteren Nachtflug ist Thompson wieder im New Yorker Fernsehstudio 6B, um die nächste Show aufzuzeichnen. Der Rest der Roots quetscht sich in einen zehn Quadratmeter großen Probenraum, während Thompson in seiner separaten Schlagzeug-Höhle thront. Der Raum ist ein Paradies für Popkultur-Sammler: An der Wand hängt das Foto von Obama und Thompson, das er auch als Twitter-Avatar nutzt. Es gibt den 50-Dollar-Schein, den Prince als Wetteinsatz anbot, wenn Thompson ausnahmsweise mal in einen Anzug schlüpfen würde. Natürlich ist hier auch der Grammy, den The Roots 1999 in Empfang nehmen durften.

Man bereitet zunächst die „walk-on songs“ für die heutigen Gäste vor. Sie proben „Movin‘ Right Along“ aus der „Muppets-Show“ (für Jason Segel), dann „Leader Of The Pack“ (für Super-Guru Deepak Chopra) – und kommen schließlich zu dem Song, den Thompson für die Teaparty-Ikone Michele Bachmann ausgesucht hat. Thompson ruft den Fishbone-Song „Lyin‘ Bitch Ass“ bei YouTube auf und spielt der Band den Refrain mit seiner lustigen Ska-Melodie vor. Wenn man die Worte nicht kennt, könnte man die Nummer glatt für ein unschuldiges Kinderlied halten.

„Was ist das denn?“, fragt Keyboarder James Poyser. „Das willst du lieber nicht wissen“, antwortet Thompson. „Nun komm schon“, quengelt Poyser. „Ich will’s aber wissen.“ „Glaub mir“, sagt Thompson, „ich halte nur meine schützende Hand über dich.“

Wenig später sind sie auf der Bühne und spielen den Song. Für einen Moment sieht es so aus, als wolle Bachmann etwas sagen, lässt es dann aber bleiben. Die Show geht planmäßig über die Bühne, doch Thompson will dem Braten nicht trauen. „Ich garantiere dir, dass morgen im Internet die Hölle los ist.“

Am nächsten Morgen schickt er mir eine SMS: „Muss mir beim Schulleiter eine Backpfeife abholen.“ Morgens um neun hatte man ihn geweckt und wissen lassen, dass er sich im NBC-Headquarter „30 Rock“ einzufinden habe. NBC hatte bereits ein offizielles Statement veröffentlicht – und Jimmy Fallon bei Bachmann angerufen, um sich persönlich zu entschuldigen. Von ganz oben wurde die Anweisung erlassen, dass künftig drei separate Personen Thompsons Musikauswahl absegnen müssen. Zudem wurde ihm verboten, via Twitter über den Vorfall zu berichten.

Als ich Jimmy Fallon später im Büro treffe, gibt er sich diplomatisch. „Natürlich war es saublöd, dass so was passiert. Wir wollen ja keine Zensur einführen, aber …“ Er zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht … Vielleicht ist Questlove ja ein heimlicher Anhänger von Mitt Romney.“

Ein paar Tage später öffnet Thompson mir die Tür seiner New Yorker Bleibe. Es ist ein Zwei-Zimmer-Apartment in Lower Manhattan, im höchsten Wohngebäude Nordamerikas, das von Star-Architekt Frank Gehry entworfen wurde. Zuerst hatte er sich ein Apartment im 70. Stock angeschaut, aber dann fragte er, wie lange er brauchen würde, um die Wohnung notfalls über die Feuerleiter zu verlassen. „35 Minuten!“, sagt er. „Worauf ich dankend ablehnte. Ein Apartment in den unteren Stockwerken reicht mir vollkommen.“

Zuvor hatte er in Hotels übernachtet oder war abends nach Philadelphia zurückgefahren. Als er schließlich den Mietvertrag unterschrieb, brauchte er noch einige Monate, um die gewünschten Möbel aus Europa heranzuschaffen – wie etwa den silbernen Gaetano-Pesce-Stuhl oder die dunkelblaue Leder-Garnitur, von der aus man nun einen Panorama-Blick über die Brooklyn Bridge genießen kann.

Und dennoch ist das Apartment vergleichsweise leer. Thompson hat den größten Teil seiner Sammlungen in Philadelphia eingelagert – Hunderte von raren Lunchboxen, die MC-Hammer-Puppen in Originalverpackung, Brettspiele von Milton Bradley und nicht weniger als 3.000 Paar Turnschuhe.

Im Fernseher läuft eine alte Folge von „Soul Train“, doch Thompson hat den Ton abgestellt. Er mag die stummen Bilder, weil sie ihn an seine Kindheit erinnern. „Ich weiß auch noch genau, wann diese Folge lief. Es war 1977, und meine Eltern waren auf Tournee. Ich übernachtete bei meiner Großmutter, die aber zu einer Kirchenversammlung gegangen war, sodass ich, Soul Train‘ gegenüber bei Miss Philips sehen musste.“

Sein Hirn funktioniert einfach etwas anders. Er zählt zum Beispiel konstant seine Schritte, wenn er vom Hauseingang zum Fahrstuhl geht. Oder versucht, vom Make-up-Zimmer zum Schlagzeug weniger als 100 Schritte zu brauchen. („Ausgeschlossen“, sagt er, „es geht nicht unter 140.“) Er misst die Zeit auch nach der Länge von Songs. „Ich spiele, Sister‘, das genau eine Minute und 19 Sekunden lang ist, und versuche, in dieser Zeit unter die Dusche zu gehen und vor Song-Ende wieder rauszukommen. Einige Leute meinen, ich hätte eine Zwangsneurose, aber für mich sind es nur kleine Spielchen, um mein Hirn auf Trab zu halten.“

Und dann gibt es natürlich noch die Listen. Thompson greift zu seinem MacBook – zu einem der acht, die er besitzt. Hier hat er alles gespeichert: mögliche Titel für künftige Alben, Produktionstricks, Songs für ein Mixtape, das er dem Baby von Jay-Z und Beyoncé schenken will. „Im Moment versuche ich mich gerade an der Liste mit meinen Top-100-Alben“, sagt er. „Ich weiß, dass, Nation Of Millions‘ auf Platz eins landen wird, ich weiß auch, dass, Let’s Get Serious‘ von Jermaine Jackson Platz 97 belegen wird, weiß aber noch nicht, wer vor ihm auf Platz 96 steht.“ Er hat auch Listen mit Prominenten, in die er verknallt ist. Bei der Liste mit den weißen Mädchen belegt Alison Brie zurzeit Platz zwei.

Es ist diese manische Akribie, die ihn auch zu einem Twitter-Star gemacht hat. Zeitweise schrieb er 40 bis 50 Tweets am Tag und hat momentan 1,7 Millionen Follower – etwa doppelt so viel wie die beste Verkaufszahl eines Roots-Albums. Doch trotz seines immensen Netzwerks bleibt offen, wie viele Freunde er wirklich hat. „Seit rund acht Jahren gehe ich zur Therapie“, sagt er. „Mein Therapeut bläut mir immer ein, wie wichtig die Freunde seien, die nicht in irgendeiner Form finanziell von mir abhängig sind.“ Dabei ist offensichtlich, dass er sich intensiv um seine Freunde sorgt. Jay-Z etwa riet er ständig, er solle noch aufs College gehen und einen Abschluss machen. „Und er meinte das wirklich ernst“, erzählt Jay-Z. „Es war entweder Harvard oder Princeton. Er machte mir wirklich Druck, bis ich ihm eines Tages sagte:, Man geht gewöhnlich aufs College, um einen Job zu finden. Ich habe schon einen Job, Mann.'“

„Er ist einer der Zeitgenossen, die fast schon zu nett sind“, fährt Jay-Z fort. „Man macht eine Nacht mit ihm durch, aber am nächsten Tag spricht er einen nicht mehr an, weil er sich nicht sicher ist, ob man sich noch an ihn erinnert. Und deshalb will er einem lieber nicht auf den Keks gehen. Ich vermute, es ist das Schlagzeuger-Syndrom: Er will lieber im Hintergrund bleiben.“

Am Nachmittag nach dem Bachmann-Eklat sitzt Thompson, noch immer etwas mitgenommen, in der Umkleidekabine der „Late Night“-Show und schaut sich die Mails auf seinem BlackBerry an. Jonathan Cohen, der für das Buchen der musikalischen Gäste zuständig ist, kommt rein und fragt, ob Thompson ihm einen Gefallen tun und Erykah Badu zu einem Besuch überreden könne. Thompson lässt sich nicht lange bitten. „Hey, Erykah, Ahmir hier. Ich wollte nur ausrichten, dass man sich über einen Auftritt von dir in der James-Fallon- Show freuen würde.“ Er fragt, ob es irgendeinen besonderen Song gäbe, den sie gern singen möchte. Als er selbst ein paar Vorschläge macht, hört er, wie am anderen Ende der Leitung irgendjemand weitere Ideen hat. Badu, offensichtlich genervt, drückt das Telefon dem unbekannten Dritten in die Hand.

Thompsons Augen treten fast aus den Höhlen. „Oh, Scheiße“, sagt er. „Was geht ab, Dre?“

Es ist Andre 3000 von Outkast, der Badu und ihren gemeinsamen Sohn in Dallas besucht. Andre erzählt, dass er vom neuen Roots-Album begeistert ist. „Ich wünschte mir, ich hätte das gewusst, bevor ich es abgeliefert habe“, sagt Thompson. Eine Pause. „Mann, bist du sicher? Wir würden in die Luft springen, wenn du auf einem Remix mitmachen würdest. Natürlich! Du bist als MC für mich der Größte.“ Er greift sich einen Kuli. „Kann ich deine E-Mail haben? Ich fühle mich wirklich geehrt, Mann. 17 Jahre lang habe ich darauf gewartet. Wir klopfen überall wegen frischen Reimen an, aber bekommen nur Absagen. Ich dachte immer, du würdest uns hassen. Freue mich riesig, dass das nicht der Fall ist.“

Er legt auf. „Oh mein Gott“, sagt er und stößt einen tiefen Seufzer aus. „Weißt du, wie es ist, wenn du ein schlechtes Zeugnis nach Hause bringst und dein Vater dir den Hosenboden versohlt? So habe ich mich den ganzen Tag gefühlt. Aber dieses Gespräch gerade – der Weltuntergang ist abgesagt.“

Für eine Weile starrt er auf das Papier mit der E-Mail-Adresse – wie ein Fan, der endlich das begehrte Autogramm bekommen hat. Dann rafft er sich auf und trottet zum Proberaum. Die Uhr an der Wand zeigt 15:15. Zeit, mit dem Trommeln zu beginnen.

Springende Punkte

The Roots im Schnelldurchlauf

Do You Want

More?!!!??! 1995

Das Major-Debüt (nach einem Indie-Album) erinnert an die große Zeit des verkifften Downbeat und Old-School-Jazz-Hop. Damals spielten die Roots bei Lollapalooza und beim Montreux-Festival – was ihren Kosmos treffend umreißt.

Things Fall Apart

1999 Der Durchbruch, die erfolgreichs-te Platte, der letzte Schritt weg vom Jam- Ensemble. Musikalisch sind sie hier ausgefuchst wie nie, die Gäste Erykah Badu, Mos Def, Eve bringen Farbe und Drive: „It’s the next movement!“

Phrenology

2002 Das eklektische Mammutwerk, für das die Roots auch maximal viel Zeit brauchten: eine Suite aus Soul, Funk, Rock, in Kraft und Komplexität den großen Stevie- Wonder-LPs ähnlich. Mit ihrem bekanntesten Song „The Seed (2.0)“.

Undun

2011 Nach vielen soliden Platten ein neuer Höhepunkt im Roots-Katalog: Das Konzept-album über den Ghetto-Charakter Redford Stephens klingt symphonisch und dunkel, bringt Story-telling und Atmosphäre zusammen.

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