Radikale Verwirrung

Genesis P-Orridge und Throbbing Gristle schockierten einst mit drastischer Bildgewalt und infernalischen Industrial-Sounds. In Berlin traten sie nun erstmals wieder auf.

Städel-Kunsthochschule Frankfurt, 10. n. 1980: Ein frostiges Neonlicht gibt dem neoklassizistischen Raum das Aussehen eines Operationssaals. Doch als die Beleuchtung ausgeht und der Kurzfilm „After A Cease To Exist“ beginnt, sehen wir Bilder, die furchterregender sind als ein normaler chirurgischer Eingriff: Die Throbbing Gristle-Gitarristin Cosey Fanni Tutti führt ihren Kollegen Chris Carter in ein kahles Zimmer, wo sie ihn festbindet, knebelt und kurz und emotionslos stimuliert. Die folgende minutenlange, in jedem Detail gezeigte Kastration schickt einige Konzertbesucher in eine gnädige Ohnmacht.

Der eigentliche Auftritt von Throbbing Gristle ist auf andere Weise drastisch und intensiv. Die an elektronischen Instrumenten hantierenden Musiker versuchen weder Popstar-Posen noch eine Kommunikation mit dem Publikum. Nur Genesis P-Orridge, der im Military-Look gekleidete Sänger mit den rasierten Augenbrauen, strahlt etwas Bedrohliches aus. „Discipline! I need discipline!“ schreit er immer wieder und rennt dabei so lange gegen eine Säule, bis Blut von seiner Stirn läuft. Es hämmert, dröhnt und heult. In der körperlich spürbaren wall of sound glaubt man Walgesänge zu hören, tibetanische Blasinstrumente, UFOs. Es ist wie ein Angriff des Fremden auf die etablierten Pop-Traditionen. Nach etwa 20 Minuten hält ein Zuschauer diese Intensität nicht mehr aus und entleert eine Flasche Wein über der Elektronik. Das Konzert wird abgebrochen.

In den sechs Jahren ihrer Existenz, von 1975 bis 1981, spielten Throbbing Gristle nur 25 Konzerte, fünf Alben verkauften sich knapp 90 000 mal. Dennoch wurden die Briten und ihr Label Industrial Records zum Pop-Mythos. Die aus der Pertormance-Gruppe COUM Transmissions hervorgegangene Band etablierte ein popästhetischen System der Grenzüberschreitung, auf das sich heute Nine Inch Nails ebenso beziehen wie unzählige andere Bands zwischen Metal und Elektro. Vieles wurde dabei falsch verstanden und aus dem ironischen Motto „Industrial Music For Industrial People“ entstand ein eher dumpfes Genre, von dem sich die Band ausdrücklich distanziert.

Zum Jahreswechsel spielten Throbbing Gristle in Berlin zwei Konzerte. Die renommierte Galerie Kunst-Werke widmete der seit zwei Jahren wieder praktizierenden Band und ihrem Label im Januar sogar eine Ausstellung. „The Annual Industrial Report“ beseitigt im Nachhinein viele Mißverständnisse und stellt klar, daß hier mit einer radikalen Verwirrung der popästhetischen Zeichensysteme experimentiert wurde. Zu sehen gab es vor allem Fotos, Manifeste, Plattencover, Filme und Devotionalien, die den Verdacht nähren. TG hätten sich aus der Konzeptkunst entwickelt. Cosey Fanni Tutti ist anderer Meinung: „Wir verstehen uns eher als Kollektiv, das permanent Ideen austauscht.“ Das Ex-Porno-Model wirkt heute wie eine nette Hausfrau. Ihr Kollege Peter „Sleazy“ Christopherson ähnelt einem älteren Professor: „Wir haben immer die Musik gemacht, die wir hören wollten, weil das niemand sonst für uns getan hat.“ Aber warum wirkte das alles so finster, gewalttätig und zerstörerisch? „Das ist 25 Jahre her“, betont der höfliche

Chris Carter, Lebensgefährtin Cosey ergänzt: „Wir waren damals sehr zornig.“ Das größte Mißverständnis war wohl der Faschismus-Verdacht. Belege dafür schienen reichlich vorhanden: Songs wie „Zyklon B Zombie“, das militärische Outfit der Musiker, die gewaltverherrlichenden Texte und vor allem das Logo von Industrial Records – ein stilisiertes Foto des Verbrennungsofens von Auschwitz.

„Wir wollten Dinge zeigen, die Menschen lieber verdrängen. Deshalb stellten wir dieses Auschwitz-Foto voran. Unkommentiert, ohne Statement dafür oder dagegen. Wenn man weiß, was es ist, dann ist das ein sehr beladenes Bild. Wenn man es nicht weiß, ist es nur ein Gebäude. Wir wollten, daß die Leute nachdenken und aufhören, so passiv zu sein.“ Das „passiv“ spricht Cosey fast angeekelt aus. „Sleazy“, der als Video-Regisseur für Stars wie Paul McCartney arbeitet, behauptet: „Man müßte den Leuten noch mehr Angst einjagen – zu ihrem eigenen Nutzen. Sie mit Bildern konfrontieren, die ihnen die Verantwortung über das eigene Urteilsvermögen zurückzugeben. Wer bloß Disney-Filme sieht, wird nur schwer eine realistische Vorstellung vom Leben bekommen.“

Beim Silvester-Konzert unter dem kirchenhohen Himmel der Volksbühne zeigt sich Sänger Genesis P-Orridge in seiner neuen hermaphroditischen Pracht: blonder Damenhaarschnitt, ein rotes Top nach Hausfrauenart, unter dem sich große anoperierte Brüste abzeichnen, dazu einen kecken Pailletten-Mini. Der 55jährige Freigeist gibt auf diese Weise den Gegenentwurf zu den maskulinen Unterwerfungs-Ritualen der nachgeborenen Industrial-Rocker. (Wer mehr über den Künstler erfahren will, liest die gnadenlose Biographie „Painful But Fabulous: The Life and Art of Genesis P-Orridge“.) Mit Quadro-Anlage und den tiefsten Bässen des Universums erzeugt die Band dazu buchstäblich ein Erdbeben. „I pull out your baby/ I chew his hand off with my teeth“, singt P-Orridge in einer Zeitlupen-Version des Klassikers „Slug Bait“. Dazu wiegt er ein imaginäres Baby an seinen falschen Brüsten und fletscht die Metallzähne. Throbbing Gristle haben ihren Biß noch nicht verloren.

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