Radiohead in Berlin: Für einen Moment habe ich mich selbst verloren

Panopticon-Bühne, Thom Yorkes Tanz-Exzentrik, „Kid A“ in Dark-Folk – Radioheads Rückkehr nach Berlin setzt neue Maßstäbe. Die Highlights.

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Foucault würde sich amüsieren über diese Bühne, ein geschlossenes Rund, das wie ein Panopticon aussieht, ein Gefängniskäfig, der als Prinzip gesellschaftlicher Überwachung und Disziplinierung dient. Tatsächlich wollen die sechs Musiker (Radiohead plus neuer Live-Drummer Chris Vatalaro) von darin mit der Außenwelt kommunizieren. Schon vor dem Konzert. Von den Panopticon-Wänden ertönt ein Dreiklang-Motiv wie eine Variation der Kodály-5-Ton-Skala, mit dem Außerirdische in „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ Kontakt zu den Menschen aufnahmen. Das funktioniert auch hier in Berlin, beim ersten von vier Konzertabenden. Dreiklang ertönt, Panopticon-Wand richtet seine Lichtstrahlen in eine Hallenecke, dort brandet Jubel auf. Die Panopticon-Wände dirigieren als Call and Response die Massen noch vor den ersten Takten, die die Band selbst spielt.

Der Catweazle auf der Rundbühne

Dann endlich stehen Radiohead auf der Bühne. Die Themen Kommunikation und Macht bestimmen auch die ersten drei Songs, eine Suite aus „Planet Telex“, „2+2=5“ und „Sit Down, Stand Up“. Es heißt immer, Radiohead „spielen in ihrer eigenen Liga“, was heißen würde, dass sie nur mit sich selbst im Wettbewerb stehen könnten, und es stimmt: Sieben Jahre lang sind sie nicht getourt, und sie hinterließen eine Lücke aus Rock, Frickel und Electronica, die keine andere Band für ein Massenpublikum aufzuführen vermochte.

Was für ein großartiges Konzert. Der erstmalige Einsatz einer Rundbühne bietet vielleicht keine akustischen, sicher aber visuelle Offenbarungen. Thom Yorke tanzt in Stücken wie „The Gloaming“ um die blau fluoreszierend umrandete Bühne wie um ein Lagerfeuer, stets ein wenig so, als müsste er aggressive Spinnen zunächst aus dem Ärmel in Richtung Hosenbund und dann aus dem Hosenbein schütteln. Es gibt keinen Catweazle unter 1,70 Meter, der exzentrischer wuselt als er. Er positioniert sich abwechselnd in alle vier Himmelsrichtungen der Zuschauer, und seine Bandmitglieder müssen mitziehen, was ungewohnte Eindrücke beschert, etwa wenn Bassist Colin Greenwood Lücken füllen muss und sich erstmals in der seit 1985 bestehenden Radiohead-Livegeschichte mehr als zwei Meter von seinem Schlagzeuger Phil Selway entfernt; auch, weil Gitarrist Ed O’Brien sich so ungerne bewegt.

Live-Versionen offenbaren neue Möglichkeiten

„Videotape“ spielen sie live mit dem gewohnten „Secret Rhythm“, „Weird Fishes / Arpeggi“ erhält von Jonny Greenwood ungewohntes Supertramp-Wurlitzer-Flair und bei „No Surprises“ lässt Greenwood sich auf dem Xylophon zu einem Solo hinreißen, das auch die Studioversion schön geschmückt hätte. Überhaupt offenbaren die Live-Fassungen Möglichkeiten, die Radiohead sicher in Erwägung gezogen hatten, aber für die Alben dann verwarfen – sie gelten als Stanley Kubricks der Musik, zig Studio-Variationen pro Lied, und sie brauchen ewig für eine Entscheidung.

Der Höhepunkt des Abends etwa, „Kid A“, spielen sie in einer Dark-Folk-Version (wie ein Outtake aus „A Moon Shaped Pool“), das viel vollendeter, lebendiger klingt als das „Kid A“-Titelstück mit seinem absichtlich verzerrt-dumpfen Produktionsanspruch. Es ist noch immer ein Wunder, dass dieses Album auf Platz eins der US-Billboard-Charts stand. „Modetrends für was auch immer – Jay!“ („fads für whatever“) heißt es sarkastisch im später erschienenen Lied „15 Step“, und es stimmt: Radiohead wurden gegen jede Wahrscheinlichkeit zu Stars.„15 Step“ ist eines von sechs am heutigen Abend dargebotenen „In Rainbows“-Songs, es ist ihr bestes Album, vielleicht auch das liebste der Band. Darauf deuten die Überrepräsentationen auch auf anderen Konzerten dieser Reunion-Tournee hin.

Die Frage nach der Zukunft

Die zwei großen Comeback-Tourneen des Jahres absolvierten Oasis und Radiohead. Und nachdem sich die Aufregung nach den ersten Konzerten ein wenig gelegt hat, rückt längst die vielleicht noch wichtigere Frage in den Mittelpunkt: Wie geht es weiter? Geht es überhaupt weiter?

Liam Gallagher wäre schlecht beraten, seinen Bruder Noel nicht um neue Oasis-Songs zu bitten – die müssten dann allerdings live gespielt werden, was das perfekte Konzerterlebnis ihrer jüngsten „Nur-Hits“-Reise vermutlich unterbieten würde. Und was denkt Thom Yorke wohl über neue Radiohead-Songs? Womöglich bleibt ihm sein Zweitprojekt The Smile wichtiger. Immerhin vereint es mit ihm und Jonny Greenwood bereits die Nummer 1 und Nummer 2 der fünf Mitglieder von Radiohead – keine ideale Voraussetzung, um sich überhaupt noch einmal zu fünft in ein Studio zu begeben. Anders als Oasis sind Radiohead jedoch nicht nur eine Neunziger-, sondern auch eine prägende Nullerjahre-Band; vielleicht haben sie dieses Jahrzehnt mit dem Indietronica von „Kid A“ sogar noch stärker beeinflusst.

65 Songs, erzählte Bassist Colin Greenwood, habe Yorke der Band zum Einstudieren gegeben. Die Setlist ist sehr gut, aber vorhersehbar. wie eine Tournee, die Radiohead zwei Jahre nach ihrem letzten Album „A Moon Shaped Pool“ hätten geben können, mit dem impliziten Auftrag: Genug von der letzten Platte – jetzt erst einmal 25 Evergreens. Für ihre 20 Europa-Konzerte haben Radiohead Hunderttausende Tickets verkauft. Da geht es auch um Verbindlichkeiten, weil nicht nur Die-Hard-Fans und B-Seiten-Fanatiker begeistert werden müssen, sondern auch der Normalhörer: „Paranoid Android“ und „Karma Police“ dürfen nicht fehlen.

Die Setlist zwischen Sicherheit und Wagnis

Gerade weil Radiohead auf die bedingungslose Liebe ihrer Anhänger zählen können, hätten sie unter ihre „65 Songs“ auch einmal solche mischen können, die sie nur ganz selten performen. „Spectre“, „Faust Arp“, „Hunting Bears“, „Electioneering“. Auch mal „High and Dry“. Oder einfach ein Konzert mit „Paranoid Android“ beginnen und mit „Reckoner“ beenden. Greenwood hatte eine gewisse Variabilität versprochen; eine gewisse Ordnung aber ist klar erkennbar: „Everything in its Right Place“ ist das Motto Thom Yorkes. Dass Radiohead „Creep“ nicht live darbieten? Es gilt als schick, diese Leise-Laut-Leise-Hymne des Grunge zu verachten – und Radiohead tun das selbst. Aber es ist nun einmal ihr größter Hit. (Gibt es irgendeine andere Superstar-Band, die ihren größten Hit einfach ignoriert?)

Jetzt, da die Tournee sich dem Ende zuneigt, schwinden die Chancen, „Creep“ doch noch zu spielen. Und vielleicht würde es auch zu sehr nach gewichtigem Statement aussehen, dieses Lied ausgerechnet beim letzten Auftritt, in Kopenhagen, zu bringen. Zu viel Klischee – Yorke dürfte sich bei diesem Gedanken allein schon schütteln. Dass Radiohead sieben Jahre nach ihrer letzten Tournee ihren Backkatalog nicht neu bewerten, ist solide, vielleicht aber auch ein wenig enttäuschend. Sie klingen also eher wie sehr gut eingespielt als wie eigens eingeübt.

Aber nicht sehr gut eingespielt wäre ja auch keine Lösung. Vor bald zehn Jahren veröffentlichten Radiohead ihr letztes Album. Seitdem haben alle Mitglieder kreative musikalische Projekte verfolgt. Und niemand von Radiohead hat jemals Scheiße gebaut. Wer sie wegen ihrer politischen Haltung angreift (Yorke und Greenwood haben durchaus Differenzen), dem fehlten bald die Argumente, weil Radiohead saubere Antworten geben. Wenn man sie so auf der Bühne beobachtet, im Jahr 2025 wünscht man sich, so cool zu altern wie sie. For a minute there I lost myself.