Radiohead Berlin: Die ultimative Bilanz der vier Konzertabende

Radiohead beenden ihre Mini-Residency in Berlin mit 26 Songs. Die besten Performances, schlechtesten Momente und was die Rundbühnen-Tournee für die Zukunft bedeutet.

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Radiohead haben ihre Mini-Residency in Berlin beendet und beschließen ihre Tournee kommende Woche in Kopenhagen (ganz ehrlich: leider dort, nicht bei uns).  Auf einen Blick: Die Tops und Flops der vier Berlin-Abende (lesen Sie hier die Konzertberichte zu Abend 1, Abend 2 und Abend 3).

Die besten Songs

1. „There There“

Große Rock-Bands pflegen die Angewohnheit, ihr Mehrzweckhallenpublikum mit versöhnlichen, friedliebenden „Good Night, Stay Safe“-Songs nach Hause zu schicken. Leider. In Wirklichkeit ist es immer besser, wenn Rock-Bands ihr Publikum aufgerieben, geladen oder unbehaglich entlassen. Das war bei allen vier Abenden leider nur bei Abend 2 der Fall, mit „There There“.

Der Song vereint den Donner von zwei Schlagzeugen und zwei Steh-Schlagzeug-Sets, ein wütend-nervöses, tribalistisches Herantasten ins Unbewusste, nicht erlöst, sondern noch intensiviert durch Jonny Greenwoods späteren Wechsel an die Leadgitarre. Sein irres, quälendes Solo schreitet der Rhythmus-Kavallerie voran. „There There“ ist das Lied, das Colonel Kurtz im Dschungel gehört haben muss, als er „The Horror, the Horror“ sagte.

2. „Jigsaw Falling into Place“

Der einzige Uptempo-Song, bei dem Thom Yorke Akustikgitarre spielt, erhielt bei allen vier Konzerten in Folge den größten Applaus und hielt die Leute zum ekstatischsten Tanzen an. Die Evolution dieses Lieds zum Publikumshit ist atemberaubend. Im Jahr 2007 nur als „gute Vorab-Single“ von „In Rainbows“ abgenickt, bewegt es die Menschen mittlerweile mehr als „Everything in Its Right Place“ und „Paranoid Android“. Es wird schwer werden für Radiohead, in Zukunft auf den Song zu verzichten.

3. „Exit Music (For a Film)“

Das wie ein verlorenes Canzone-Italiana-Stück anmutende Lied, inklusive Giallo-Orgeltönen Greenwoods, an dessen stillem Ende eine Zuschauerin während „Berlin 2“ ein perfekt getimtes „Bravo!“ ruft. Das ist schon fast nicht mehr Canzone Italiana, sondern italienische Oper. Thom Yorke musste 57 Jahre alt werden, um die Ballade über zwei junge tragische Liebende so überzeugend zu singen. Vielleicht, weil er selbst Vater von zwei Kindern ist.

4. „Kid A“

„Kid A“, spielen sie in einer Folk-Version (wie ein Outtake aus „A Moon Shaped Pool“), das viel vollendeter, lebendiger klingt als das „Kid A“-Titelstück mit seinem absichtlich verzerrt-dumpfen Produktionsanspruch. Es ist noch immer ein Wunder, dass dieses Album auf Platz eins der US-Billboard-Charts stand.

Die schlechtesten Darbietungen

1.  „The National Anthem“

„The National Anthem“ fehlt ohne die Studiobläser das Momentum. Das tat es in allen Live-Fassungen, von Anfang an, also seit dem Jahr 2000. Nach zweieinhalb Minuten, und ohne den Einsatz einer Brassband, verliert sich das Stück.

2. „Bodysnatchers“

Songs mit drei E-Gitarren klingen auf der Rundbühne nicht gut. „Just“ funktioniert erstaunlicherweise noch; der Soundbrei von „Bodysnatchers“ lässt keine Höhen mehr zu. Es ist zeitweise kaum zu erkennen und Yorke nicht zu verstehen.

3. „Paranoid Android“

Keine schlechte Darbietung, aber ein nicht immer gelungener Output. Manche Passagen klangen versetzt. Es wirkte gelegentlich so, als fehle aufgrund der Rundbühnen-Konstruktion eine Schallfront – Töne schienen zeitlich verspätet anzukommen. Waren das etwa nur Echos – oder doch „das Original“, was man da stets hörte?

„In Rainbows“ ist ihr liebstes Album

Als wichtigste Alben von Radiohead gelten das Future-Rock-Album „OK Computer“ und das Electronica-Album „Kid A“. Bei dieser Tournee spielten sie in der Regel die meisten Songs (6) aber von „In Rainbows“ – ein eher traditionell arrangiertes Werk, das tatsächlich ihre schönsten Lieder vereint.

„Kid A“-Klassiker wie „Everything In Its Right Place“ und „How To Disappear Completely“ verschwanden im Rahmen der Konzertreise sogar zunehmend von der Setlist. Fairerweise muss man sagen, dass einige der 2007 veröffentlichten „In Rainbows“-Stücke aus früheren Zeiten stammen, wie „Nude“, das einst als „Big Ideas“ Gestalt annahm und zig Versionen durchlief, bis es final aufgenommen wurde. Auf die Tourpremiere von „House of Cards“ musste man 2025 leider umsonst warten.

Der beste Platz im Publikum

Für solche Songs, in denen Thom Yorke die E-Gitarre intoniert, ist es die Südseite beim Halleneingang (Frontalsicht). Wer ihn frontal an der Akustikgitarre sehen wollte, tut das auf der Nordseite. Ed O’Brien, der neben Yorke am meisten dem Publikum zugewandte Radiohead-Musiker, steht meist auf der Westseite. Jonny Greenwoods Maschinenpark steht im Osten und bietet etliche Schauwerte, hier setzt er auch zu den Gitarrensoli von „Paranoid Android“ an. Leider ist sein Equipment derart raumeinnehmend, dass Yorke sich so gut wie nie an seiner Seite vorbeiquetschen könnte. Bei „Berlin 4“ passierte das erst beim 14. Stück, „The Gloaming“, was man auch nur daran merkte, dass in dieser Ecke plötzlich Zuschauerjubel erklang.

Die Band könnte wieder gleichberechtigt funktionieren

Thom Yorke mag „Let Down“ nicht. Tatsächlich spielten Radiohead es bei bisher allen 18 Konzerten. Vielleicht, weil Ed O’Brien es liebt. Die Musiker scheinen gleichberechtigte Wünsche zu äußern.

„Amnesiac“ wird nicht verschwiegen

Auch „You and Whose Army?“ ist bei jedem Konzert vertreten. „Pyramid Song“ ist besser, aber Yorke hat bei „Army“ seit vielen Jahren eine Mimikspiel-Flirteinlage mit einer Kamera im Programm, die Nahaufnahmen von ihm einfängt. Ziemlich eitel, aber die Menschen lieben es.

Berlin-Premiere

Als einzigen Song, den sie während der Tournee noch nirgendwo anders darboten, kommt „Hunting Bears“ zum Einsatz. Das Lied wird auf setlist.fm fälschlicherweise als „Intro“ für „Bodysnatchers“ gelistet; aber es dauert eben auch nur etwas mehr als zwei Minuten. Die Band spielte „Hunting Bears“ schon einmal in Berlin – am 11. September 2001. Bei „Berlin 4“ war das sicher keine bewusste Hommage an den schrecklichen Tag mit dem bewegenden Regenkonzert.

Berlin ist damit on top

Mit „Hunting Bears“ verzeichnet „Berlin 4“ also nicht 25, sondern 26 Songs. Die meisten auf der gesamten Konzertreise.

Und noch ein Song mehr

Thom Yorkes Hals hat durchgehalten. Aber bei „No Surprises“ blieb ihm kurzzeitig die Stimme weg, da half es auch nicht, wie der letzte Dalton-Bruder einen Klumpen Rachenrotz auszuspucken. Er setzte neu an, allerdings von vorn, wiederholte also die erste Minute, was uns „No Surprises“ also nicht einmal, sondern 1,2-mal schenkte.

Die Studio-Zukunft von Radiohead

Von ihren letzten beiden Alben, „The King of Limbs“ und „A Moon Shaped Pool“, spielten Radiohead während der Tournee gerade mal fünf verschiedene Songs. Das heißt, dass sie mit diesen zwei Platten, gerade mit (hier fehlenden) Leadsingles wie „Lotus Flower“ oder „Burn the Witch“, nichts mehr anfangen können. Fünf Songs von allen seit 2011 veröffentlichten Songs, das ist so gut wie nichts. Vielleicht glauben sie, dass ihr einstiger Standard aus der Ära bis einschließlich „In Rainbows“ 2007 generell nicht mehr zu halten war oder zu halten ist.

Die Live-Zukunft von Radiohead

Die großartige Rundbühne bietet keine Gimmick-Bauten – die Instrumente und ihre Anordnung sind der Gimmick. Ein Proberaum-Anblick wie ihre herrlichen „From the Basement“-Sessions. Auch wegen dieser Bühne ist „Radiohead 2025“ ihre bisher beste Tournee.

Um sich nicht zu wiederholen, werden Radiohead aber wohl keine Rundbühne mehr nutzen. Sie ließe sich auch nicht bei Coachella und Co aufbauen. Festivalauftritte für 2026 liegen nahe.

Nicht replizierbare Geniestreiche können große Auswirkungen haben. Daft Punk haben auch deshalb ihre Live-Karriere beendet, weil sie ihre Pyramide durch kein anderes Design toppen konnten. Um ihre Zukunft werden Radiohead sich im neuen Jahr Gedanken machen.