ROLLING-STONE-Guide: Alle Alben von Radiohead im Check

Radiohead pausieren derzeit, auch wenn es zumindest die zaghafte Aussicht auf neue Musik gibt. Zeit, ihre Diskografie näher zu beleuchten.

ROLLING STONE Badge
Empfehlungen der Redaktion

Essenziell

OK Computer (1997)

Youtube Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Vielfach als bestes Album der Neunziger geehrt. Die Einschätzung muss man nicht teilen, dennoch gilt: Wer 1997 schon begeistert war, hat die Begeisterung auch 23 Jahre später nicht abgelegt. Dabei las sich der Plattentitel wie eine Kapitulationserklärung. Pessimistisch dichtete Thom Yorke über Fleisch, das schwächer ist als Technik („Fitter Happier“). Gitarrist Jonny Greenwood nutzte bei „Climbing Up The Walls“ auf der Bühne einen Radioverstärker, der Störgeräusche empfing, nahm die Internet- und Vernetzungsskepsis von „Kid A“ vorweg. „No surprises, please“, bettelte Yorke. Und mit „Paranoid Android“ schuf er zeitgenössischen Prog-Rock. Songlänge (6:27), Gitarrensoli und Versatzstück-Aufbau erinnerten an Queen, und das Album orientierte sich in seiner selbstsicheren mittleren Geschwindigkeit an Pink Floyd mit „Electioneering“ gibt es unter den zwölf Stücken nur einen einzigen Uptempo-Song.

Kid A (2000)

Youtube Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

„There are two colours in my head“, singt Yorke in „Everything In Its Right Place“, gejagt von Synthies. Der Titelsong wiederum setzt einer Krautrockmelodie auf Glockenspiel und Vibrafon unverständliches Genuschel entgegen. „The National Anthem“, die „Nationalhymne“, bietet ein Crescendo aus Bläsern, in dem scheinbar chaotisch Millionen Liter Luft durch Trompete, Saxofon und Posaune gepustet werden. Erst nach diesen drei Songs, nach 15 Minuten, wird einem bewusst, dass bis dahin keine einzige Gitarre zu hören war. Und das nach „OK Computer“! Seit „Kid A“, das es in den USA auf die Eins schaffte, gelten Radiohead als „intelligenteste Stadionband“.

In Rainbows (2007)

Youtube Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Nie klangen Rock und Elektronik bei ihnen harmonischer. Nigel Godrich hat eine unerreichte Produktion kreiert, voller Echos, tieffrequenter Schallwellen, abrupter Höhenmodulationen, Yorke singt: „15 steps, then a sheer drop“, rätselhafte Tonspuren. Allein zu „Videotape“ gibt es einige YouTube-Tutorials über den „geheimen Drumrhythmus“. Yorkes unerkannte Meisterstücke sind „Reckoner“ und „House Of Cards“, Ersteres ein ätherischer, pastoral-perkussiver Spielmannszug aus Gottessicht, „dedicated to all human beings“, das andere sein erster Soul-Song.

A Moon Shaped Pool (2016)

Youtube Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Eine Mischung aus Yorke-Solostücken und live erprobten, unveröffentlichten Nullerjahre-Radiohead. Anders kommen sie wohl nicht mehr zusammen. Und dennoch. Allein die Zeile „This dance is like a weapon of self-defence“ aus dem dunklen Bossa nova „Present Tense“ dokumentiert ihr Hin-undhergerissensein zwischen Scheu und Ekstase. Die Tracklist ordneten sie, vielleicht aus Bequemlichkeit, alphabetisch, also ohne geplante Dramaturgie – und das Glück war auf ihrer Seite: Ausdruck purer RadioheadMagie, klar. Die Platte endet dadurch mit einem perfekten „T“-Titel, „True Love Waits“. „Just don’t leave/ Don’t leave“, singt Yorke und scheint dabei nah wie selten. Großartiger Abschluss.

Lohnend

The Bends (1995)

Youtube Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Es gehört zu den sportlichsten Herausforderungen für Radiohead-Experten, der Band hier schon jene Bedeutung zu attestieren, die erst der Nachfolger, „OK Computer“, evident machte. Zumindest David Gilmour bevorzugt diese Platte, liebt Epen wie „Planet Telex“ und den morbiden Walzer „(Nice Dream)“. Die Band hatte sich den Hardrock noch nicht völlig ausgetrieben, wie im Titelsong und in „ Bones“. Aber „The Bends“ wirkt klüger als das meiste aus dem BritpopJahr 1995, und mit „High And Dry“ – das Yorke heute leider nicht mehr spielt – ließen Radiohead auch den Grunge von „Creep“ hinter sich. Sie hatten, Entschuldigung für das Wortspiel, die richtige „Biegung“ genommen.

Amnesiac (2001)

Youtube Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Erschien sechs Monate nach „Kid A“, entsprang denselben Sessions – und scheint doch aus einer anderen Ära zu stammen. 9/11 verschob die Wahrnehmung, kappte Verbindungen zwischen den Zwillingsalben. Während „Kid A“ das Ich in der technisierten Welt beschrieb, bleibt das nicht gelungenere, aber mutigere „Amnesiac“, das sich wie eine Singles-Sammlung experimenteller B-Seiten anhört, mit den Terroranschlägen verbunden. Jeder, der dabei war, erinnert sich an das Berliner Regenkonzert vom 11. September 2001, an die Ungewissheit, ob bald die Welt brennen würde. „You And Whose Army? “ ging gegen Bush und Blair, „Dollars And Cents“ skizziert den vom Streit um Öl getriebenen Präventionskrieg. Die verzerrte Gitarre in „Hunting Bears“ war geradezu unerträglich hypnotisch. „Pyramid Song“ etablierte Yorke als sich windenden Klavierspieler, seine überzeugendste Bühnendarstellung.

The King of Limbs (2011)

Youtube Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Meistunterschätzt und doch thematisch am konsistentesten. Acht Songs über den letzten Gang eines Spaziergängers in die Natur. „And while the ocean blooms/ It’s what keeps me alive/ So why does it still hurt? “, fragt Yorke in „ Bloom“ zwischen Resignation und Wut, geht im nächsten Song sogleich eine Elster an: „You got some nerve coming here/ You stole it all/ Give it back.“ Manche deuteten in „Codex“ den Sprung ins Seewasser als Suizidwunsch „fantasize, no one gets hurt“. Die Platte enthält auch, etwas platt, Vogelgezwitscher.

Ergänzend

Hail To The Thief (2003)

Youtube Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Zehn der vierzehn Songs hätten gereicht, aber Yorkes Kommentar zur Lüge des Irakkriegs („2 + 2 = 5“) und dem schon im Albumtitel angeklagten „Lügner“ George W. Bush ist so eindrucksvoll, wie seine Vorstellungen über die Flucht in einen Bunker („I Will“) bedrückend sind.

Schwächer

Pablo Honey (1993)

Youtube Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Gab es je eine Band, die immer größer wurde, obwohl sie sich zunehmend von ihrem größten Hit entfernte? Mit dem grungy „Creep“-Sound dieses Debütalbums hätten sie locker Karriere machen können. Nur eben nicht als die Art von Rockband, die dann die Welt erobert hat, die einzigartig ist. So aufgesetzt tief-männlich wie hier würde Yorke auch nie mehr singen. Er musste seine Stimme erst finden.

Film

Meeting People Is Easy (1998)

Ein Dokumentarfilm über die schlauchende Promotour nach „OK Computer“. Von der Band als „Radiohead Big Brother“ gebrandmarkt, weil das (von ihnen doch selbst engagierte) Filmteam sie nie in Ruhe ließ. Uneitle Darstellungen von gescheiterten Studioaufnahmen inklusive.

Preziosen

Raritäten und Obskuritäten

„Man Of War“

Von den Bond-Produzenten 2015 als Titelsong abgelehnt. Begründung: Wurde bereits 1997 eingespielt, nicht erst exklusiv für 007.

„Spectre“

Exklusiv für 007 eingespielter Song, 2015 ebenfalls von den Bond-Produzenten abgelehnt. Die entschieden sich stattdessen für Sam Smiths „Writing’s On The Wall“. Ja: Die Bond-Leute bewiesen Humor.

„Ill Wind“

„A Moon Shaped Pool“-Outtake. Mutet mit pechschwarzem Bossa-Flair wie ein böser Bruder von Henry Mancinis „Slow Hot Wind“ (aka „Lujon“) an.

„Spooks“

Surf-artiges Radiohead-Instrumental, von Gitarrist Jonny Greenwood für den Soundtrack von P. T. Andersons „Inherent Vice“ aufbereitet.

„Go Slowly“

Höhepunkt der „In Rainbows“Special-Edition. Greenwood spielt eine zeitlupenartige „There There“-Variation.

„Like Spinning Plates“

Auf der Live-Version des Minialbums „I Might Be Wrong“ singt Yorke naturgemäß und zum Glück nicht rückwärts wie auf dem herausfordernden „Amnesiac“-Original.

„House Of Woodcock“

Traumhafte Klassik-Komposition Greenwoods, in der man sich einrichten möchte. Aus dem Soundtrack von P. T. Andersons „Phantom Thread“.

„Treefingers (Extended)“

Gerade mal 1:03 Minuten mehr Ambient als in der BrianEno-Hommage auf „Kid A“. Warum haben sie es nicht gleich so auf dem Album veröffentlicht?

„Meeting In The Aisle“

Der ungelenke 1997er- HouseBeat markiert einen seltenen misslungenen Versuch, zeitgeistig zu klingen.

„Harry Patch (In Memory Of)“

Im Alter von 111 Jahren starb 2009 der letzte britische Veteran des Ersten Weltkriegs. Erstmals betitelten Radiohead einen Song nach einer echten Person.

Colin Greenwood exklusiv: Was haben Radiohead zuletzt gemacht?

Radiohead haben seit Jahren einen Spion in ihren Reihen. Wie sein ausgezeichnetes neues Buch „How to Disappear: A Portrait of Radiohead“ verrät, macht Bassist Colin Greenwood seit Anfang der 2000er Jahre Schnappschüsse von seinen Bandkollegen. Im Studio, in den Umkleideräumen und sogar irgendwie auf der Bühne mitten in ihren Konzerten.

In der neuen Folge von „Rolling Stone Music Now“ spricht Greenwood – der gerade eine Tournee als Bassist mit Nick Cave and the Bad Seeds beendet hat – über sein Buch, blickt auf die Höhepunkte seiner Jahre in der Band zurück und vieles mehr. Er macht auch deutlich, dass er gerne wieder mit Radiohead auf Tournee gehen würde, die seit 2018 nicht mehr öffentlich aufgetreten sind. Er ist sich aber nicht sicher, ob und wann das passieren wird.

Eine kollektive Entscheidung

Bei Signierstunden fragen junge Fans immer wieder: „Wann spielen wir wieder. Ob wir wieder spielen werden. Was auch immer. Ich denke einfach, dass es ein wirklich guter Grund ist, für Menschen zu spielen, die deine Musik lieben. Es klingt wirklich offensichtlich. Aber Nick Cave spricht viel darüber, seinem Publikum, seinen Fans und Menschen, die das lieben, was man tut, zu dienen.“ Aber wird es passieren?   „Ich meine, es ist eine kollektive Entscheidung. Ich kann nicht für andere Leute sprechen, weil das ihnen gegenüber nicht fair wäre. Also, wir müssen einfach abwarten und sehen.“

Wir sind durch „The Bends“ gegangen. „Kid A“-Sachen

Greenwood bietet den bislang detailliertesten Bericht über das private Wiedersehen von Radiohead Anfang dieses Jahres. „Im Grunde ging es nur darum, mal wieder miteinander zu reden, weil wir das so lange nicht mehr gemacht hatten“, sagt er. „Ich glaube, es lag auch daran, dass Thom und Jonny vielleicht etwas [mit Smile] machen wollten. Es war etwas, das wir alle machen konnten, weil wir alle zu der Zeit da waren. Es war einfach schön, einfach mal wieder durch die Sachen zu gehen. Wir sind durch „The Bends“ gegangen. „Kid A“-Sachen. Wir haben eine Menge durchgespielt. Haben einen Tag lang gespielt, vielleicht zwei. Wir hatten noch zwei weitere Tage gebucht, und dann haben wir beschlossen, es sein zu lassen, nicht weil es schlecht war, sondern weil es so war, na ja, mein Bruder sagte, wir könnten das noch eine Woche oder so machen, und wir könnten auf Tour gehen, wenn wir wollten. Nicht, dass wir das vorhaben. Aber es wäre in Ordnung. Also, ja, also dachten wir, nun, anstatt einfach wieder von vorne anzufangen, dachten wir einfach, nun, das ist gut. Wir wissen, dass wir das können. Das macht Spaß. Wir sind gerne zusammen. Also lasst uns mit einem Hoch hinausgehen.“

Greenwoods Mutter ist wahrscheinlich die schärfste Kritikerin von Radiohead. „Am liebsten nannte sie unsere Musik immer ‚Bompity-Bomp-Musik‘“, sagt er. „Und als wir dann anfingen, mehr elektronische Sachen zu machen, nannte sie das immer ‚Blippity-Blop‘. Das ist eigentlich eine ziemlich genaue Beschreibung des kreativen Bogens von Radiohead. Von Bompity-Bomp bis Blippity-Blop. Aber sie hat die Nuancen und die Verschmelzung von traditioneller Musik mit elektronischen Klängen irgendwie verpasst. Ich frage mich, wie sie das nennen würde, Bompity Blop oder so. Sie hat mich auf ihre eigene Art sehr unterstützt. Sie hat mir das Geld für meine erste Gitarre gegeben. Gott segne sie.“

„Kid A“ statt „OK Computer“

Wenn er gezwungen wäre, würde er „Kid A“ „OK Computer“ vorziehen. „Ich mag Kid A wirklich sehr“, sagt er, „und zu dieser Jahreszeit spricht es mich aus irgendeinem Grund als eine Art Winterplatte an. Vielleicht liegt es am Artwork.“

Er sagt, „Weird Fishes/Arpeggi“ sei genauso spontan entstanden wie „Get Back“ in der Beatles-Dokumentation. „Das kommt irgendwie an einem Morgen rein“, sagt er, „und dann gibt es so etwas wie einen Backbeat und dann ein paar Akkorde, und alles fügt sich auf eine wirklich schöne Art und Weise zusammen.“

Er ist fasziniert von der Vorstellung, dass Bob Dylan ihn kürzlich mit Nick Cave and the Bad Seeds in Paris spielen sah. Zumindest wenn man Dylans Tweet glaubt. „Ja, das ist erstaunlich“, sagt er. „Er hat gesehen, wie ich in einem Song einen Fehler gemacht habe. Das ist alles, woran ich denken kann. Aber ich muss aufhören, darüber nachzudenken, denn es klingt wirklich albern und zwanghaft. Aber ja, denk mal darüber nach. Ist es nicht unglaublich, dass Bob Dylan eine Show war, bei der ich gespielt habe? Vielleicht.“

Weitere Highlights