Radiohead, Berlin 3: Yes, Surprises

Radiohead zeigen am dritten Berlin-Tag ihre Stärken: „Jigsaw Falling Into Place“ begeistert, „No Surprises“ als seltenes Finale überrascht.

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Ich habe ein wenig gebraucht, um zu verstehen, also zumindest die ersten beiden Radiohead-Konzerte am Montag und Dienstag, weshalb Radiohead das Mainset ihrer Tournee stets mit „Bodysnatchers“ beschließen. Thom Yorkes Tanzbewegungen ähneln der Stressreaktion eines Menschen beim Flucht- und Kampfverhalten, das muss es sein. „I’ve seen it coming“, ruft er mantra-artig, dann ist das Stück zu Ende, und er verlässt die Rundbühne eine Treppe herab. „Bodysnatchers“ handelt von den Ängsten, die man heutzutage „Impostor-Syndrom“ nennt: Ich bin nicht der, für den ihr mich haltet. Ich bin nicht gut. Ich bin eine einzige Lüge. Yorke hält nach dem Verklingen der letzten Akkorde noch seine E-Gitarre in die Luft, ein „schaut, hier, ich, mein Arbeitsgerät“-Move wie von Bruce Springsteen, nur mit dem lustigen Unterschied, dass der Boss seine Gitarre stets so hochreckt, dass der Hals eben nicht nach unten ragt.

Am dritten Abend ihres Berlin-Gastspiels offenbaren sich gewisse Radiohead-Routinen, vertiefen sich bestimmte Erkenntnisse. (Lesen Sie den Konzertbericht zu „Berlin 1“ hier, zu „Berlin 2“ hier.) Herrlich ist das Konzert trotzdem. Es sind Kleinigkeiten, die nicht hundertprozentig funktionieren. Der zappelig-elektronische „The Raindrops, The Raindrops“-Part von „Sit Down, Stand Up“ kann das mantra-artig wiederholte Zitatversprechen des Lieds im ersten, sich dramatisch auftürmenden „We Can Wipe You Out Anytime“-Part nicht einlösen.

„The National Anthem“ fehlt ohne die Studiobläser das Momentum. Jonny Greenwood zückt bei „The National Anthem“ traditionell ein Antennenradio, das möglicherweise Wellen empfängt, deren Klang und Stimmen er in das Lied integriert. Aber so klar ist das nicht, und zu hören auch nicht – sicher, dass das keine Spielauto-Fernsteuerung in seinen Händen ist? Der Mahlstrom an Harmonien ohne Hooks ist in „Ful Stop“ derart intensiv und sich selbst verstärkend, dass es nicht auffällt, wenn Jonny Greenwoods Gitarre Probleme macht und ein Techniker eine kleine Ewigkeit an seinem Soundboard hantieren muss, damit er wieder einsteigen kann.

Die Band im Detail

Schlagzeuger Phil Selway verlässt seinen Platz und spielt bei „Daydreaming“ hinter gleich zwei verschiedenen, gegenüberliegenden Keyboards. Das eine wurde offenkundig nur für ihn errichtet, niemand anders stellt sich während eines der 25 Songs dort an. Gitarrist Ed O’Brien, den manche  ungerechtfertigterweise für den Andy Fletcher von Radiohead halten, spielt seine schönen Soli auf „Nude“ und „Weird Fishes / Arpeggi“, das neben ihm auch Bassist Colin Greenwood mitsingt, nur macht das dieser schüchtern wirkende Mann ohne Mikrofon. Dafür animiert Greenwood das Publikum häufig zum Mitklatschen – das fällt wirklich auf, Radiohead sind eine Arenaband, deren Anhänger selten wie Rock-Fans das Überkopfklatschen praktizieren. Greenwood möchte das ändern.

Und es gelingt Greenwood auch bei „Jigsaw Falling Into Place“, das beim dritten Konzert in Folge den größten Applaus erhält und die Leute zum ekstatischsten Tanzen anhält. Die Evolution dieses Lieds zum Publikumshit ist absolut atemberaubend. Im Jahr 2007 nur als „gute Vorab-Single“ von „In Rainbows“ abgenickt, bewegt es die Menschen mittlerweile mehr als „Everything in Its Right Place“ und „Paranoid Android“.

Humor und Überraschungen

„Good Evening, we’re a band called Radiohead“, sagt Thom Yorke übrigens zu Beginn von „Paranoid Android“ – dem wohlgemerkt 22. von 25 Songs. Er dreht sich nach diesen Worten zu den anderen um, will sich grinsend Lob abholen für den Witz. Die anderen nicken. They must be fun at Parties, denkt man dann.

Humor hat die Band schon seit vielen Jahren. „Fake Plastic Trees“ etwa. Was sind denn dann „Real Plastic Trees“?Die beflissenen Protokollanten auf setlist.fm, die wahrscheinlich alle so aussehen wie Frank Grimes, waren mit der folgenden Anmerkung etwas schneller, aber mit „No Surprises“ ein Konzert zu beschließen, ist nicht nur ein grandioses, sondern auch seltenes Ereignis – laut setlist.fm zum ersten Mal seit 2006. Eine echte Überraschung also, ausgedrückt ausgerechnet im Wunsch, bitte keine Überraschungen mehr zu erleben.

Aber „Berlin 4“ beschließen Radiohead dafür bitte wieder mit „There There“.