Reading Festival

Für Leute, die aus Prinzip nur in Clubs gehen, weil sie Menschenansammlungen ab hundert Teilnehmern schon faschismusverdächtig finden, ist das natürlich nichts. Wer allerdings Festivals mag, sich aber nicht unbedingt in Glastonbury oder gar bei Rock am Ring schwere Quetschungen

zuziehen will, ist gut beraten, den Sommerurlaub nach Reading zu verlegen. 60 000 Camping-Freunde waren dieses Jahr da, oberstes Kapazitätslimit: Noch weiter expandieren kann das Festival nicht, weil es mit dem nahe gelegenen Themse-Ufer an eine natürliche Grenze stößt.

Im Gegensatz zu den Monster-Biwaks auf dem Festland ist es Reading gelungen, über die Jahre eine fast familiäre Atmosphäre zu bewahren. Und Musik ist ja nicht die Hautptsache. Es gibt Küchenzelte mit thailändischen und südenglischen Spezialitäten, und viele Besucher telefonieren offenbar der Reihe nach ail jene Freunde ab, bei denen sie sich schon lang mal wieder melden wollten. Stellenweise sind die Schlangen vor der zentralen AkkuLadestation genauso lang wie die vor dem Damenklo. Gut, wenn man während der langweiligen Stellen eine Beschäftigung hat.

Die langweiligen Stellen sind: Papa Roach, Queens OfThe Stone Age, und – muss man leider sagen – Supergrass und Teenage Fanclub. Über die Auftritte der letzteren beiden lässt sich eigentlich nur sagen, dass da einwandfrei Gitarre gespielt wurde. Aber ähnelt die Gitarrenkunst nicht längst einem soliden Grundwortschatz in Altgriechisch: humanistisch, ehrbar, witzlos? Natürlich nicht. Die Strokes aus New York spielen auch bloß Gitarre und brauchen nur 40 Minuten, um einem den Glauben an die Rockmusik, den Zynismus, die Liebe, schöne Drogen, ja: an die Welt im Ganzen und das Leben im Besonderen zurückzugeben. Katerstimmung, Brummschädel, kaum Schlaf Die Nacht in der Factory war wieder sehr lang. Andy Warhol hat nur Mist erzählt Und eine der letzten Speed-Pillen muss wohl schlecht gewesen sein.

Es gibt kaum andere Bands in Reading, schon gar keine englischen, die an die Energie der Strokes heranreichen, an diesen euphorischen New brk-Depressions-Sound. Überhaupt hängt Britpop momentan durch oder ruht sich aus, und wie immer, wenn die Briten Schwäche zeigen, öffnen sich Rüpel-Rockern aus Amerika die Türen. Als deren Rädelsführer tritt dann der unendlich langweilige und offenbar auch von sich selbst gelangweilte Marilyn Manson auf. Der Glamour-Satanist fährt vor einer befleckten US-Flagge ein paar Provokations-Posen auf, dann ist es aber auch wieder gut.

Dem amerikanischen Leibhaftigen setzen die Manie Street Preachers europäische Philosophie entgegen und rollen erst mal ein Plakat mit dem Konterfei von Karl Marx aus. Was folgt, ist Agit-Stadionrock, aber elegant, Schweinerock in gut. Die tollen Mitgröl-Parolen wirken, als würden sie mitten auf dem Schlachtfeld ins Funkgerät gebrüllt. „Know bur Enemy“, „Louder Than War“ – die martialische Metaphorik in den Slogans der Manie Street Preachers macht deutlich, dass Rock auch Kampf ist. Es geht darum, auf der richtigen Seite zu stehen.

Aufweicher Seite steht eigentlich Ex-Lemonhead Evan Dando? Er weiß das wohl selbst nicht. Jedenfalls krebst er zurzeit allein, ohne Plattendeal vor sich hin. Mit einer abgewetzten Cordhose und behängt mit einer Wandergitarre schlurft er auf die Bühne, ganz süßer Punk und zärtlicher Chaot. Die Fans kennen immer noch jede Textzeile auswendig und singen seltsamerweise auch bei den neuen, völlig unbekannten Stücken mit. Dandos Auftritt ist merkwürdig und rührend, auch weil er selber am meisten darüber erstaunt scheint, dass es ihn wieder gibt Sollte das ein Comeback sein? Unbedingt.

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