Reportage: Geschreddert und verhökert – das ist aus der Mauer geworden

Vor 25 Jahren fiel die Berliner Mauer. Aber was ist eigentlich aus ihr geworden? Millionen Souvenirsteinchen wurden verhökert und Hunderte Segmente in Botschaftsgärten aufgestellt. Doch der größte Teil landete geschreddert auf den Straßen der deutschen Hauptstadt.

In der Oderstraße in Teltow, südlich von Berlin, hält der Bus X1 an der Haltestelle Jahnsportplatz. Ein Bauzaun verläuft entlang der Straße, sichert notdürftig den Eingang zu einer Brache. „Achtung! Kampfmittelbelastetes Gebiet“ steht alle paar Meter auf kleinen Schildern. Ein Drahtgitterelement des Zauns wurde umgeworfen. Man kann rein. Hier steht sie also, die Berliner Mauer, das Monstrum, das so viel Leid verursacht hat, in ihren Einzelteilen.

Es ist ein unwirkliches Gelände. Menschenleer. In Teilen von Unkraut überwachsen, stehen die Mauersegmente hier verstreut, da zu Gruppen zusammengestellt. Es dürfte eine der größten Ansammlungen von Mauerstücken sein. Manche der Teile, besonders jene, die kunstvoll bemalt wurden, stehen in Richtung Oderstraße aufgereiht wie eine unfertige Version der bekannten Berliner East Side Gallery. Bilder von Friedens- und Freiheitskämpfern wie Nelson Mandela und Willy Brandt. Weiter hinten Diktatoren und Bösewichte: Gaddafi, Kim Jong-il, Mugabe.

Berlin hat lange gebraucht, um einen Umgang mit der Mauer zu finden

3,60 m hoch, 1,20 m breit, 2.600 Kilo schwer sind die Segmente des Typs UL 12.41, die ab 1975 als „vierte Generation“ des „antifaschistischen Schutzwalls“ eingebaut wurden. Das ist die Mauer, die man aus dem Fernsehen kennt. Die Vorderlandmauer, die man vom Westen aus sah. Winkelelemente, die nebeneinandergestellt wurden. Ursprünglich für Futtersilos hergestellt, wurden sie zur Trennlinie zwischen Ost und West, rissen eine Stadt in zwei Hälften.

Deutschland, insbesondere aber Berlin habe lange gebraucht, um einen Umgang mit der Mauer zu finden, sagt Anna Kaminsky. Sie leitet die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. 2009, zum letzten großen Mauerjubiläum, gab sie das Buch „Die Berliner Mauer in der Welt“ heraus. „Als wir mit dem Buch angefangen haben, war ich überrascht, dass die verbliebenen Mauerreste in anderen Teilen der Welt viel mehr Wertschätzung erfahren als hier in Deutschland.“

Schon wenige Tage nach dem Mauerfall treffen Anfragen bei Auslandsvertretungen der DDR, aber auch bei den Grenztruppen in Berlin ein, ob man Teile der Mauer kaufen könne. Bis dahin hatten sich nur die sogenannten Mauerspechte über das Monstrum hergemacht und mühsam Stücke aus dem Beton geschlagen. Schnell erkennt die DDR-Führung, dass der Verkauf der Mauer dringend benötigte Devisen bringen könnte. Bereits am 7. Dezember wird die Entscheidung, die Mauer zu verkaufen, offiziell verkündet. Der berüchtigte Schießbefehl hingegen wird erst am 21. Dezember aufgehoben.

Mauerteile waren ein gut verkäufliches Souvenir

Die bekanntesten Teile stehen im Zentrum Berlins. Künstler wie Thierry Noir, der sie mit dicklippigen Figuren bemalte, wurden durch Mauerkunst weltbekannt. „Für die meisten Menschen, die sich die Mauer nach 1989 angeschaut haben, war es die bunt bemalte Mauer aus der Mitte Berlins“, sagt Anna Kaminsky. „Dieses Mauerbild ist aber nicht das, was die Mehrzahl der Menschen gesehen hat – vor allem jene in Ostberlin. Dass die Mauer dort grau oder weiß war, damit man die Schatten der flüchtenden Menschen besser sehen konnte, kam in den Medien kaum vor.“

Das Grauen an der Mauer soll über die lukrativen Verdienstmöglichkeiten nicht vergessen werden. Mindestens 138 Menschen kamen hier zu Tode. Nach besorgten Anfragen aus der Bevölkerung einigt man sich darauf, die Erlöse dem Gesundheitssystem und der Infrastruktur der untergehenden DDR zuzuführen. Mit dem Verkauf der Mauersegmente wird der Außenhandelsbetrieb LIMEX beauftragt. In Westberlin gründet sich die LeLé Berlin Wall Verkaufs- und Wirtschaftswerbungs GmbH, deren Eigentümer, Judith LaCroix und Christian Herms, im innerdeutschen Bierexport tätig waren und so Kontakte in die DDR hatten. Während LIMEX Museen und offizielle Stellen beliefert, wird LeLé Berlin das weitaus lukrativere Geschäft mit Privatkunden, Unternehmen und Galeristen zugesprochen.

Als Werbemaßnahme werden zwei Auktionen organisiert. Bei der ersten, Ende April in Berlin, wird jedoch nur ein einziges Mauerstück verkauft. Danach rüstet LeLé Berlin auf. Am 23. Juni 1990 kommt es zu einer legendären Versteigerung in Monaco. 70 teils original, teils im Auftrag der Firma bemalte Mauersegmente werden aufgerufen. Mauerstücke, an denen mutmaßlich Menschen gestorben sind, werden vom Verkauf ausgenommen, um das Gewissen der Käufer zu beruhigen. Einzelne Stücke gehen für 170.000 DM weg, unter anderem eins mit Herzmotiv an Cognac-Erbin Ljiljana Hennessy. Jedoch hat die Auktion in Monaco ein juristisches Nachspiel. Die Mauermaler Thierry Noir und Kiddy Citny klagen im Herbst 1990 dagegen, dass ihre Kunstwerke ohne ihre Zustimmung verkauft werden. Der Fall geht bis zum Bundesgerichtshof. Dieser spricht ihnen 1995 500.000 DM Beteiligung am Erlös zu.

Der Abriss der Mauer entwickelte sich zu einem finanziellen Desaster

Für die DDR gerät der Verkauf der Mauer zum Desaster. Die Abrisskosten überschreiten die Erlöse bei Weitem. Als das eingesetzte Kuratorium Ende der 90er-Jahre über das restliche Geld verfügen darf, werden gerade mal 750.000 DM an Krankenhäuser, Kirchen und Vereine überwiesen. Die Gewinnerwartungen seien viel zu hoch gewesen, glaubt Anna Kaminsky. Der Mauer-Deal sei auch im Ausland für private Verkäufer zum Minusgeschäft geworden. Sie schätzt, dass weltweit nur etwa 2.000 ganze Mauersegmente verkauft wurden – nicht alle davon auf offiziellem Wege. In der Zeit des Abrisses verschwanden Mauerteile aus den Lagerstätten. Auch Soldaten der Grenztruppen dürften hier und da die Nachfrage von Privatleuten und Unternehmen befriedigt haben. Es seien geschichtsträchtige Erinnerungsstücke, Sieges-trophäen, Freiheitssymbole und Kunstobjekte, sagt Anna Kaminsky. Doch die Mauerteile finden unterschiedlichste Verwendung. Der Vatikan besitzt ein Segment, die Vereinten Nationen in New York auch. Im portugiesischen Wallfahrtsort Fátima wurde 1991 ein Mauerstück von Papst Johannes Paul II. gesegnet. In Las Vegas hängt in einem Casino ein Stück in der Herrentoilette und dient als Halterung für die Pissoirs.

Die Mauer-Firma LIMEX wird mit dem Ende der DDR in eine GmbH umgewandelt, LeLé Berlin löst sich 1992/93 auf. Was aus dem Geld aus den übrigen Verkäufen wurde, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Vieles spricht dafür, dass die Besitzer damit durchgebrannt sind. Der Historiker Ronny Heidenreich, der über den Verkauf der Mauer geforscht hat, konnte sie nicht ausfindig machen. Der Mauerverkauf gerät zum Kriminalfall.

Dass der Kuchen aber auch heute noch nicht komplett verteilt ist, beweist Anfang September Wieland Giebel. Der Gründer des Berlin Story Verlags und Inhaber von äußerst prominent situierten Bücher- und Souvenir-Shops entdeckte kürzlich einen Hinterhof mit 20 gut erhaltenen Mauerteilen. Ein amerikanisches Museum hatte über das AlliiertenMuseum bei ihm angefragt, ob er Segmente zum Verkauf habe. Da habe er sich an den Hinterhof erinnert, über den er nicht mehr verraten will, als dass er sich in der Nähe des Originalstandorts der ehemaligen Grenzanlagen zwischen Kreuzberg und Mitte befinde. Anfang September bietet er sie unter anderem auf eBay an – für 7.000 Euro das Stück. „Das ist der normale Marktpreis“, sagt Giebel. Sofort hagelt es Proteste. Die Mauer sei ein Denkmal und dürfe nicht verkauft werden. Der Bezirk wiegelt ab. Nur Mauerteile, die sich am Originalstandort befinden, stünden unter Denkmalschutz.

Der Verkauf von Segmenten soll für Giebel eine Ausnahme bleiben. Kleine Bröckchen gehen schließlich auch gut. Zwischen 50 und 100 in Acrylbögen platzierte Stückchen verkauft er pro Tag in seinen Souvenir-Shops. Die kleinsten für 5,90 Euro. Die Echtheit der Stücke lässt er sich von Wissenschaftlern der Freien Universität Berlin bezeugen.

Nur wenige Deutsche wissen über die historischen Hintergründe des Mauerfalls Bescheid

Dass das Interesse an der Teilung der Stadt noch immer groß ist, sieht Giebel an den Verkaufszahlen in seinem Buchladen. „Spätestens seit dem letzten Mauerjubiläum vor fünf Jahren verkaufen wir hauptsächlich Bücher über die Mauer.“ Es scheint jedoch ein recht oberflächliches Interesse zu sein. Obwohl erst ein Vierteljahrhundert seit der Wiedervereinigung der Stadt vergangen ist, wissen wenige Deutsche darüber Bescheid. So ergab eine Studie von infratest dimap im August, dass nur die Hälfte der Deutschen weiß, an welchem Tag die Mauer errichtet wurde. Bei den Unter-30-Jährigen kann nur ein knappes Drittel mit dem Datum 13. August 1961 etwas anfangen.

Aber was wurde wirklich aus der Mauer? Obwohl ganze Segmente und kleine Brocken sich auch 25 Jahre nach dem Mauerfall immer noch hervorragend vermarkten lassen, stellen sie ja nur einen Bruchteil der Gesamtmasse dar. Die Wahrheit ist: Etwa 90 bis 95 Prozent des Horror-Bauwerks sollen nach seinem Abriss zerschreddert und im Straßenbau verarbeitet worden sein. In welchen Straßen genau die Mauer beerdigt liegt, lässt sich heute nur schwer herausfinden. „Niemand hat sich die Mühe gemacht, die Mauer gesondert zu lagern und zu schreddern und auch noch aufzulisten, wofür genau der Schotter verwendet wurde“, sagt Ronny Heidenreich.

Doch ein paar Orte sind dokumentiert: Reste der Mauer stecken heute in einem Teilstück der Wilhelmstraße in Berlin-Mitte, wo sie einst auch stand, und in einem Waldweg in Groß Glienicke, am Westrand der Stadt. Bekannt ist auch, dass 2.000 Tonnen Mauerschutt unter den Hügeln des Golfclubs Seeburg bei Potsdam liegen, und auch beim Ausbau des Berliner Autobahnrings wurden Reste der Mauer verarbeitet. Dafür war 1990 Winfried Prem aus Muglhof bei Weiden in der Oberpfalz verantwortlich. Der 65-Jährige ist einer der Unternehmer, die den Auftrag hatten, die Mauer in Bauschutt zu verwandeln. „In die neuen Straßenverbindungen von Ost nach West ist viel eingebaut worden. Auch Parkplätze für Einkaufsmärkte haben wir beliefert. Es war die Zeit des Baubooms“, erzählt er mit weichem Oberpfälzer Dialekt. „Es ist alles im Raum Berlin eingebaut worden.“

In der Hauptstadt ist die Mauer noch immer sehr präsent

Dass Prem überhaupt den Auftrag bekam, war Glück – und hat mit seiner Chuzpe zu tun. In der Oberpfalz hatte er Ende der Achtziger ein Eisenbahn-Ausbesserungswerk abgerissen und dafür eine moderne Brechmaschine gekauft. Auf der Suche nach Folgeaufträgen bewarb er sich um den Abriss des Kriegsverbrechergefängnisses in Spandau. Er bekam den Auftrag nicht, verkündete aber dem Westberliner Beamten: „Ihr werdet meine Maschinen noch brauchen.“ Dieser antwortete: „Dit gloob ick nich.“ Bei seinen Fahrten auf der Transitstrecke entdeckte Prem eines Tages einen Wall aus zerkleinertem Beton, mit dem die Straße ausgebessert wurde. Er spach beim damaligen DDR-Verkehrsminister, Heinrich Scholz, vor und bot seine Dienste an. „Das beste Futter für meine Maschinen wäre natürlich die Mauer!“ Darauf habe Scholz geantwortet: „Herr Prem, das erleben wir beide nicht mehr.“ Ein paar Monate später aber erhielt er den Anruf: „Herr Prem, wann könnten Sie denn mit Ihrer Maschine hier sein?“

Zwei Drittel der Mauer will Prem geschreddert haben. Bis Mitte der 90er-Jahre bleibt er in Berlin. Sogar Prinz Charles kommt auf seiner Baustelle vorbei, um die Arbeit des Pfälzer Abbruchunternehmers vor Ort zu begutachten. 21 bis 23 DM gibt es pro Tonne Bauschutt. Für den Käufer sehr günstig – aufgrund der Masse aber auch für den Verkäufer ein Millionengeschäft.

Geschreddert, verkauft, wiederverwertet: Die Mauer will nicht vergehen. Das Gelände mit den bunt bemalten Mauerstücken am Jahnsportplatz in Teltow gehört einer Baustofffirma. Die dort aufgestellten Segmente wurden nach dem Mauerfall für Schüttgutboxen benutzt. Als der Vereinigungs-Bauboom in Berlin zu Ende ging und die Anlagen zurückgebaut wurden, lud man die Mauerteile einfach auf dem Gelände ab. 2012 wurde das Projekt „Mauerteile bemalen“ von Elmar Prost, dem Chef der Baufirma, ins Leben gerufen: Künstler dürfen je ein Segment gestalten. Wird es verkauft, erhält der Künstler zwei Drittel, die Baufirma ein Drittel, mindestens aber 500 Euro. Auf den 76.000 Quadratmetern stehen nun noch knapp über 100 Stück – zu Anfang seien es 164 gewesen, erzählt Prost. Der Rest wurde verkauft: nach Südkorea, in die USA, nach Mexiko. Erst kürzlich sicherte der Botschafter von Singapur sich zwei Teile für die dortige Universität.

In seiner oberpfälzischen Heimat lässt die Mauer Winfried Prem auch heute noch nicht los. Er, der Mauerabreißer, plant seit Längerem ein mobiles Mauer-Museum. Damit will er durch die Schulen tingeln, den „jungen Leuten“ den Grenzwall erklären und erzählen, wie er das Monstrum zerstört hat. Den Großteil zumindest. Denn auch Prem hat ganze Mauersegmente behalten. Natürlich. Und zum 25-jährigen Jubiläum des Mauerfalls hat er natürlich auch eine Idee. Mitte September hat er an Angela Merkel geschrieben. Mit ihrem Einverständnis will er eines der Segmente vor dem Reichstag aufstellen – „das bekommt sie von mir geschenkt.“ Geantwortet hat die Kanzlerin bisher nicht.

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