Another Year :: Jim Broadbent, Ruth Sheen

Regie: Mike Leigh

Was ihr Leben denn glücklicher machen könnte, fragt die Psychiaterin Gerri (Ruth Sheen) eine alternde, sauertöpfisch dreinblickende Patientin (Imelda Stanton). „Ein anderes Leben“, knurrt die. Sie wisse aber gar nicht, warum sie in die Therapiestunde geschickt worden sei und Fragen zu ihrer Familie beantworten solle. Lieber wären ihr Tabletten gegen ihre Schlaflosigkeit.

Eine bittere Pointe setzt der britische Regisseur Mike Leigh („Nackt“, „Happy-Go-Lucky“) zum Auftakt, der zugleich als Prolog das Thema des Films umreißt: Wie erlangt man Zufriedenheit, ohne dabei selbstzufrieden zu werden? Eine Frage, die sich nur Gerri und Tom (Jim Broadbent) nicht stellen. Die Eheleute sind beide um die 60 und leben in purer Harmonie. Sie lieben ihre Arbeit und verbringen ihre Freizeit gemeinsam im Schrebergarten, einer Art Garten Eden – aber natürlich, wie bei Leigh nicht anders denkbar, mit sozialistischem Anstrich.

Im kuscheligen Eigenheim des alten Ehepaars fällt nie ein böses Wort, auch mit ihrem erwachsenen Sohn Joe (Oliver Maltman) verstehen sie sich prächtig. Das ist fast schon unverschämt perfekt, aber nicht mal gelogen. Gerri und Tom sind so natürlich und entspannt, humorvoll und warmherzig, dass jeder Zynismus darüber unangebracht ist.

Was das Geheimnis ihres Glücks ist, bleibt allerdings offen. So authentisch sie auch scheinen mögen, sind sie letztendlich doch nur ein schwer erreichbares Ideal, das Sehnsuchtsabbild für die Gescheiterten und Verzweifelten. Die rückt Leigh nach wenigen Szenen verstärkt in den Vordergrund. Gerris etwas neurotische Kollegin Mary (Lesley Manville), eine geschiedene Sekretärin Anfang 50, versucht mit überdrehter gute Laune ihre Einsamkeit zu verbergen. Und Toms Jugendfreund Ken (Peter Wight) ist ein übergewichtiger, depressiver Alkoholiker und Kettenraucher. Sie suchen bei Gerri und Tom ein offenes Ohr, Zuspruch, vielleicht gar einen Ausweg aus ihrer trostlosen Existenz. Das Ehepaar hört zu, reagiert manchmal aber auch mit wortlosem Unverständnis, sogar ein bisschen überheblich auf die Probleme der Freunde.

Er könnte gut aussehen, wenn er wollte, sagt ausgerechnet Mary einmal, als sie Ken mitleidig betrachtet. Selbsterkenntnis, Realitätssinn und Willenskraft sind nicht jedem gegeben. Oder wie Gerri es formuliert: „Er hat ein gutes Herz. Aber das Leben ist nicht zu jedem nett.“ Eine andere Antwort gibt es nicht.

So vergeht ein Jahr wie jedes andere – Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Es scheint, als ändere sich eigentlich nichts, und doch passiert viel in diesem Film, denn Leigh zeigt sich wieder als genauer Beobachter des Zwischenmenschlichen. Mit einem famosen Ensemble und feinem Alltagshumor zeigt er das ganz normale Leben, in dem Tragik und Glück unabänderlich nebeneinander existieren.

Auf ein Happy End, da ist der Regisseur wie immer unerbittlich oder auch einfach realistisch, wartet man daher vergebens. Joe findet zwar eine Freundin. Die perfekte Schwiegertochter steigert aber nur die Freude von Gerri und Tom. Mary dagegen, die mit dem erheblich jüngeren Joe verzweifelt geflirtet hat, flüchtet sich in hysterische Gehässigkeiten – und die Freundschaft mit der glücklichen Familie bricht auseinander. (PROKINO)

Länge: 44 Minuten. Kinotrailer, B-Roll, Interviews mit den Hauptdarstellern Jim Broadbent und Ruth Sheen sowie Regisseur Mike Leigh, der über die Liebe zu Gärten, die starken Frauenfiguren in seinen Werken, Charakterschauspieler, das Alter und das unvermeidliche Ende spricht.

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