Jean-Luc Godard :: Außer Atem

Es ist die Stunde Null des modernen Autorenkinos. Als Jean-Luc Godards „Außer Atem“ im März 1960 in die Kinos kam, war dies zugleich Befreiungsschlag, Auftakt für die französische Nouvelle Vague und Grundstein für die Karriere eines der einflussreichsten Filmemacher aller Zeiten.

Weg mit professionellen Schauspielern. Weg mit geschmeidigen Kamerafahrten. Weg mit kostspieligen Studiobauten. Weg mit großen Budgets. Weg mit Regeln. Weg mit Filmen, die lebensfremde Verkaufsprodukte sein sollen. Weg mit Film als oberflächlicher Unterhaltung. Stattdessen: her mit Spontanität. Improvisation. Ideen. Filmen, die mitten im Leben stehen. Filmen, die jeder machen kann und die doch Kunst sind.

All das, und so vieles mehr hat Jean-Luc Godard nahegelegt, als 1960 sein Debüt „Außer Atem“ in die Kinos kam. Und diesen Ort dabei zurückeroberte von den pompösen, künstlich wirkenden Hollywoodproduktionen, die damals in Frankreich und anderswo die Kinosäle bevölkerten. Der damals 30-Jährige Godard hatte in den 1950ern bereits flammende Filmkritiken für die bis heute geschätzte Zeitschrift Cahiers du Cinéma geschrieben und dort mit seinen Kollegen und späteren Weggefährten Francois Truffaut, Jaques Rivette und Claude Chabrol unter der Schirmherrschaft des Filmtheoretikers André Bazin die Ideen für das umrissen, was später das Kino der Nouvelle Vague werden sollte.

Da die jungen Kritiker mit dem Status Quo der aktuellen Filmproduktion in Frankreich, dem „Kino der Qualität“, wie sie es nannten, frustriert waren, begannen sie kurzerhand selbst, solche Filme zu machen, von denen sie immerzu diskutierten: Werke, die keine finanzielle Großproduktion mit Arbeitsteilung waren, sondern die individuelle Handschrift des Regisseurs tragen. Wie bei einem Maler oder Schriftsteller. So wie sie es bei ihren Vorbildern, den Hollywood-Veteranen Nicholas Ray, Howard Hawks und Alfred Hitchcock, aber auch Fritz Lang, Max Ophüls oder Roberto Rossellini bewunderten. Regisseure, die damals als unauffällige Studiohandwerker galten, in den furiosen Texten der jungen Franzosen aber zu großen Künstlern mit einer individuellen Vision umgedeutet wurden.

„Außer Atem“ ist daher nicht einfach ein Film, sondern auch eine Idee davon, was Kino sein sollte und sein kann. Die Story ist dabei eine denkbar einfache, jeglicher Ballast war dem jungen Bildstürmer Godard sowieso zuwider. Ein nonchalanter junger Mann (Jean-Paul Belmondo) erschießt im Affekt einen Polizisten und befindet sich von dort an auf der Flucht. Ziellos durch Paris streunend trifft er auf die junge Amerikanerin Patricia (Jean Seberg), lässt sich mit ihr durch das pulsierende Leben in der französischen Metropole treiben, und fällt am Ende, nachdem er erkannt wurde, selbst dem Schuss eines Polizisten zum Opfer.

Zur Umsetzung dieser Fragmente einer Story prägte Godard eine revolutionäre Bildsprache, die radikal mit den Hollywood-Vorstellungen von Realismus brach. Mit Laienschauspielern und Handkamera drehte er ohne Genehmigung und nennenswerte Crew auf den Straßen von Paris, Passanten, die im Vorbegehen in die Kamera schauen, störten dabei im fertigen Film nicht weiter, man wollte den eigenen Kunstcharakter bewusst ausstellen. Die Odyssee der beiden Protagonisten inszeniert Godard mit hektischen Schnitten, abrupten Brüchen und flüchtigen Dialogen; und konnte somit das energische Großstadtleben in einer Weise einfangen, wie es die großen Literaten der Moderne wie etwa James Joyce zuvor getan haben.

Die Flüchtigkeit, Aufregung, aber auch Ziellosigkeit des modernen Lebens wurde im Kino nie zuvor in einer solchen Weise erfahrbar gemacht. „Außer Atem“ war eine Feier des Neuen über das Alte – wobei das Alte natürlich nicht abgeschafft, sondern in Form ironischer Verweise in den Film mit eingebaut wurde, etwa in den an Humphrey Bogart angelehnten Gesten Belmondos.

Godards Film war dabei kein Einzelphänomen, sondern Teil einer großen Welle von Filmen, die von Cineasten und Kritikern unter dem Begriff Nouvelle Vague zusammengefasst wurden. Parallel zu „Außer Atem“ erscheinen 1958 Claude Chabrols Debüt „Die Enttäuschten“, 1959 Francois Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“ und Alain Renais „Hiroshima, Mon Amour“, sowie 1961 der kühn betitelte „Paris gehört uns“ von Jacques Rivette. Innerhalb weniger Jahre gab diese Gruppe französischer Filmemacher die entscheidenden Impulse für das, was heute modernes Autorenkino ist.

Bei alldem war „Außer Atem“ natürlich auch der Anfang einer bis heute andauernden Karriere, in der die Grenzen und Möglichkeiten des Kinos neu vermessen wurden. Jean-Luc Godard hat, je nach Zählung, insgesamt 42 Filme gemacht, die sich zu einem der aufregendsten Werkschatz der Kinogeschichte summieren. Von seiner klassischen Phase der 60er, über die Kino-Verweigerung in den 70ern, die experimentellen Filme der 80er und das danach einsetzende, essayistische Spätwerk, ist das Kino in all seinen Facetten darin vertreten.

Godards wichtigster Film aber bleibt „Außer Atem“. Regelmäßig wird dieser zu den besten und wichtigsten aller Zeiten gewählt, und obwohl man natürlich mit keinem Wort widersprechen möchte: „Außer Atem“ ist eigentlich kein Werk fürs zementierte Pantheon, sondern eines, das immer zur nächsten Innovation inspirieren will – auch heute noch.

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