Big Bill Broonzy – Amsterdam Concerts 1953
Er sei ein toller Kerl gewesen, dieser Leroy Carr, der Autor von „Where The Sun Goes Down“. Noch ein junger Mann, als er das schrieb, gerade mal Anfang 30. Zwei Monate später war er dann tot. Übel! meint Big Bill, vergisst allerdings zu erwähnen, was bei seiner Interpretation kaum wer überhören kann: dass das wohl die Blaupause für „Love In Vain“ gewesen sein muss, jedenfalls so notengetreu, wie er das vorträgt. Carr war sieben Jahre jünger als er. Aber zunächst musizierte Big Bill Broonzy, der ihn beerben sollte, auf seiner aus einer Zigarrenkiste gebastelten Fiedel und Banjo überhaupt keinen Blues, sondern Songs, die er von seiner Mutter (die ihn am Ufer des Mississippi geboren hatte!) und örtlichen Musikern im ländlichen Arkansas, der nächsten Heimat, kennen gelernt hatte, bevor er schließlich 1920 nach Chicago zog. Erst da lernte er, längst auf die 30 zugehend, Gitarre zu spielen, brachte es aber auch auf der bald zu vielbewunderter, von Kollegen neidlos anerkannter Meisterschaft. Selbst auf dem Höhepunkt der Großen Depression, circa 1934/35, hatte er – im Gegensatz zu Millionen arbeitslos gewordener Menschen derselben Hautfarbe – immer ein halbwegs anständiges Auskommen.
Was wohl auch erklärt, warum er hier zwischen einigen der ersten Song auf CD 1 ausführlich erklärt, dass ihm diese ganzen Diskussionen über Segregation und Rassendiskriminierung und diese mit Flaggen am Zug vorbeikommenden Präsidenten, von denen er einen persönlich erlebt habe, immer völlig wurscht gewesen seien. Mittlerweile 60, als diese Aufnahmen in Amsterdam mitgeschnitten wurden, war Big Bill Broonzy alles andere als ein bürgerrechtbewegter Eiferer. In der Gesellschaft von Benny Goodman oder Louis Armstrong war er jederzeit eine genauso beachtete Autorität wie in der Zusammenarbeit mit Sonny Boy Williamson als eine der einflussreichsten Gründerfiguren des Chicago Blues.
Die vielen Geschichten, die er bei den beiden hier dokumentierten Auftritten erzählt, vermitteln einen höchst anschaulichen Eindruck von seiner ziemlich bewegten Karriere als Musikant und Bandleader. BBB musste, anders als Muddy Waters, nie von irgendwem auf irgendeiner Südstaaten-Plantage oder in einer abgerissenen Hütte (wieder)entdeckt und aufgenommen werden. Was auch sein enorm ausgeprägtes Selbstbewusstsein erklärt, mit dem er sich präsentiert.
Er profitierte auch von keinem Folk- oder Blues-Revival. Wie hier dokumentiert, hatte er auch in Übersee ein loyales Publikum für sich gewinnen können, bevor irgendwer Package-Tourneen mit als Legenden verkauften Blues-Größen zu veranstalten begann. Als Alan Lomax 1946 drei solcher Größen – neben BBB auch Memphis Slim und Sonny Boy Williamson – zu einem Treffen animieren konnte, bei dem die einfach so wie beiläufig schockierende Anekdoten aus dem ganz normalen schwarzen Leben im Süden erzählten, war das ein unerhörtes Tondokument. Viel bedeutender findet der Sänger, der hier nach „John Henry“ über die verheerende Flut des Mississippi im Jahr 1927 berichtet, die ganz privaten Erinnerungen an die Naturkatastrophen und die dabei gestorbenen, ihm oft nahe stehenden Menschen, die er sah und erlebte und derentwegen er Lieder wie Bessie Smiths „Back-Water Blues“ immer noch sang.
Für 1953 sind diese auf einer AEG-Tonbandmaschine aufgenommenen Mitschnitte von spektakulärer Klangqualität. Die Liner Notes erinnern noch einmal daran, dass und warum William Lee Conley Broonzy den Begriff Folksong immer für dämlich hielt. „To me all songs in the world is folk songs“, sagte er mal, „because horses don’t sing songs.“ Da hatte er Recht.