Billie Holiday :: The Complete Commodore And Decca Masters

Hier bleiben keine Wünsche der Bewunderer mehr offen.

Über „Lipstick On Your Collar“ klagte Connie Francis im gleichnamigen Song nicht als erste. Zu demselben Thema hatte Billie Holiday viele Jahre zuvor das ungleich poetischere Lied „Don’t Explain“ geschrieben, angeblich noch an dem Morgen, nachdem ihr Ehemann Jimmy Monroe mit Lippenstift auf seinem Hemdkragen nach Hause gekommen war und als Erklärung eine Lüge nach der anderen zu erfinden begann. Was sie schlimmer fand als sein offenkundiges kleines Abenteuer kurz zuvor. „Hush now, don’t explain, you’re my joy and pain…“‚ singt sie, „skip that lipstick, don’t explain“, und es wurde einer der hinreißendsten Standards in ihrem Repertoire. „I could have told you right from the Start/ No man’s a man enough to break my heart“, singt sie in einem ihrer anderen Evergreens („Baby, I Don’t Cry Over You“). Aber in „Don’t Explain“ ist sie die bedingungslos Liebende, dem Mann so verfallen, dass sie ihm („You know that I love you and what lovin‘ does/ Nothing rates above you when I’m so completely yours“) sogar seine Seitensprünge verzeiht.

In solchen Dingen kannte sie sich aus, und über die – Einsamkeit, gebrochene Herzen, Untreue, Hass und amour fou – konnte sie so herzzerreißende Lieder singen wie wenige ihrer Zunft. Es sollte sich als großer Fehler erweisen, dass Columbia ihren Vertrag auslaufen ließ, weil man zum einen ihre Star-Qualitäten nicht erkannte und darum andererseits erst recht nicht willens war, diesen neuen Song „Strange Fruit“ mit ihr aufzunehmen. Mit dem hatte sie das Publikum im Cafe Society, einem Nachtclub in Greenwich Village, bei ihren Auftritten mehr noch als mit manch anderen begeistert.

Der für sie zuständige A&R-Chef John Hammond empfand das Lied mit seiner unverblümt antirassistischen Metaphorik angeblich nicht als politically incorrect, aber als zu krass in der Bildersprache, als dass seiner Meinung nach so etwas ein Hit werden könnte. Aber so wie er Jahrzehnte später Aretha Franklin deren Karriere-Start bei Atlantic nicht im Wege stehen mochte, erlaubte er ihrem Manager Joe Glaser und Decca-Produzent Milt Gabler, vier Songs für dessen kleines, feines Commodore-Label einzuspielen. Es war der Beginn einer langen Freundschaft.

Die Songs der ersten Session – „Fine And Mellow“, „Yesterdays“, „Strange Fruit“ und „I Gotta Right To Sing The Blues“ – sollten umgehend den Turbo-Schub für ihre Karriere zünden. Aber es war nicht die kontroverse und heftig diskutierte A-Seite „Strange Fruit“, sondern der bluesige Ohrwurm „Fine And Mellow“ auf der B-Seite, in dem Programmierer von Jukeboxen landesweit umgehend das entschieden größere Hit- Potenzial sahen. Wobei der Song das übliche männliche Blues-Lamento auf den Kopf stellte mit den Versen „My man he don’t love me, treats me awful mean/ He’s the lowest man that I’ve ever seen.“ Für die Verhältnisse von 1939 war die A-Seite „Strange Fruit“ so starker Tobak, dass viele Rundfunksender ablehnten, die Platte zu spielen.

Kurios erscheint immer noch, dass und warum Billie Holiday parallel zu ihrem Columbia-Vertrag – der erst 1943 endete – einige ihrer grandiosesten Aufnahmen für Commodore machen konnte und Songs wie „I Cover The Waterfront“, „I ‚ll Be Seeing You“, „He’s Funny That Way“ und „Lover Come Back To Me“ dort aufnahm. Damit war endgültig Schluss nach dem Wechsel zu Decca. Die These, dass sie während der Decca-Ära bis 1950 ihre grandiosesten Aufnahmen überhaupt machte, vertreten nicht wenige ihrer Bewunderer mit sehr guten Argumenten, allen voran den auf diesem feinen 3-CD-Set versammelten Aufnahmen.

Hier findet man nicht eines der vielen Alternativ- oder Outtakes, die längst auch auf zahllosen Kompilationen zirkulieren, sondern ausschließlich von den Originalen transferiert die final masters der berühmten Aufnahmen jener Jahre komplett, neuerlich remastered. Dabei auch die Allzeitklassiker wie „My Man“, „Solitude“, „Guilty“ und „God Bless The Child“ – jetzt klanglich etwas anders entzerrt als beim „Complete Original American Decca Recordings“-Set von 1991 – Die mindestens so wunderbaren Alternativ-Versionen von „Guilty“ und zumal „Don’t Explain“ dort möchte man als Fan aber wohl auch kaum missen.

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