Blumenberg :: von Roberto Bolaño
Das Dritte Reich ****¿
Er war nicht bloß „Poet und Vagabund“, wie ihn die Berufsbezeichnung auf seiner Visitenkarte aus dem Jahr 1998 ausweist. Der chilenische Großdichter Roberto Bolaño war auch ein besessener Zocker, ein fanatischer Sammler von Kriegsspielen. Genau wie sein Romanheld Udo, deutscher Meister beim War-Game „Aufstieg und Fall des Dritten Reiches“.
Man kann in diesem Spiel den Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Achsenmächte oder der Alliierten nachspielen, die Geschichte umschreiben, unbehelligt Tabus brechen. Dieser zynische Zeitvertreib ist der zentrale Übungsplatz im postum erschienenen Roman „Das Dritte Reich“, der bereits 1989 entstand. Kriegsschauplatz ist die Costa Brava, letzter Wohnort Bolaños. Udo ist mit der Freundin dort, indes lieber im abgedunkeltem Zimmer über seinem Spiel hockend als mit ihr am Strand. Als Sparring-Partner hat er den unheimlichen „Verbrannten“, einen Tretbootvermieter, auserkoren. Dieser entpuppt sich als wahrer Meister, wird er gar von einer dunklen Macht gesteuert?
Der Roman ist ein anarchisches, moribundes Buch über die Ungnade der späten Geburt. Er verhandelt hier bereits mit eisiger Sprache das Böse – wie später das Meisterwerk „2666“ – in all seinen Ausformungen, vermischt es mit Parodie, Erotik und magischem Realismus. Bolaños wahre Visitenkarte. (Hanser, 21,90 Euro) Philipp Haibach
von Sibylle Lewitscharoff
Sibylle Lewitscharoff kann man mit einigem Recht als Expertin auf dem Gebiet der komischen Käuze bezeichnen. Mit einem aus Sprachwitz und feiner Ironie gewobenen Netz fing sie den verrückten Pong, den großen Schweiger Apostoloff und den exzentrischen Filmregisseur Montgomery Cassini-Stahl ein wie prachtvolle exotische Schmetterlinge. Nun hat sie einen Text um den eigenwilligen Münsteraner Philosophen Hans Blumenberg gebaut.
Eines Nachts liegt ein Löwe auf dem Teppich seines Studierzimmers, wenig später erscheint dieser auch in seinen Vorlesungen und verbindet auf fatale und ein bisschen sehr konstruierte Weise das Denkgebäude des Münsteraner Gelehrten mit den Schicksalen seiner eifrigsten Studenten. Ausgehend von Blumenbergs Reflexionen über Antonello de Messinas „Der heilige Hieronymus im Gehäuse“ erzählt Lewitscharoff vom großen „Weltbenenner“, der plötzlich das Unbenennbare vor sich sieht. „Blumenberg“ ist ein Roman, der die großen Themen Erkenntnis, Liebe, Wahrheit allerdings nur am Rande streift. Am Ende steht der letzte Philosoph, der versuchte, die Welt zusammenzudenken, doch vor allem da wie ein ziemlich komischer Kauz. (Suhrkamp, 21,90 Euro) Maik Brüggemeyer
von Wells Tower
Wer als Debütant nicht den langen Atem hat, einen Roman fertig zu bekommen, der veröffentlicht einen Kurzgeschichtenband. So giftet man zumindest bisweilen in der deutschen Literaturwelt – oder zumindest in Richtung studierter Jungautoren.
Der in Kanada geborene Mittdreißiger Wells Tower zeigt nun, wie man es richtig macht mit so einem Kurzgeschichtendebüt. Und das, obwohl alle Kritikpunkte erfüllt werden: Der bereits 2009 im Original erschienene Band enthält Zweitverwertungen, dokumentiert bisweilen noch das Suchen nach dem einen, dem eigenen Ton, hat weder einen roten Faden, noch hält er sich in einer konkreten Zeit auf – er beginnt in der amerikanischen Jetztzeit und endet im Reich der Wikinger.
Warum es bei ihm funktioniert? Weil die Storys zuvor in Qualitätsmedien wie dem „New Yorker“ erschienen. Weil diese Geschichte nichts Juvenil-Halbgares sind, sondern Rückgrat haben, schlüssige, in kurzen Sätzen festgenagelte Charaktere und kleine Schicksale mit großer Strahlkraft. Weil sein Ton mal Carver, mal Bukowski, mal Hemingway und mal die journalistischen Arbeiten Orwells anklingen lässt – ohne dabei jemals ein Plagiat zu sein.
Tower schreibt übrigens gerade an seinem Romandebüt und lehrt für ein Semester „Kreatives Schreiben“ in Iowa. Man wünscht sich, dass sich seine Schüler nach dem Kurs ein Beispiel an ihm nehmen und vielleicht sogar Dialoge entwerfen können wie diesen aus der Titelstory von „Alles zerstört, alles verbrannt“: „,Habt ihr ordentlich gemetzelt?‘, Nein‘, sagte ich., Haakon hat den kleinen Penner umgebracht, der dort drüben liegt, aber sonst haben wir es ruhig angehen lassen.'“ (Fischer, 18,95 Euro) Daniel Koch
von Irvine Welsh
Ray Lennox ist ein kaputter schottischer Bulle, zerfressen von Koks und Selbsthass, weil er ein entführtes Mädchen nicht retten konnte, das in Edinburgh vergewaltigt und ermordet wurde. Ein Zwangsurlaub mit seiner heiratswütigen Verlobten Trudi in Florida soll ihn wieder aufrichten. Aber Trudi, die Sonne, der Urlaub, die Heirat, das hat für ihn eigentlich alles keinen Sinn.
Lennox sucht Erlösung von seinen ätzenden Erinnerungen und findet doch nur mehr Ekel vor sich selbst in jedem wachen Moment. Ein paar Drinks und Lines zu viel, allein in einer Bar, lassen ihn in einen neuen Abgrund stürzen. Als er aufwacht, muss er plötzlich eine Zehnjährige vor einem raffinierten pädophilen Netzwerk schützen, er, der doch erst kürzlich bei dem anderen Mädchen versagt hatte.
Das ist der Beginn einer Hetzjagd durch Florida und eine verkommene Welt, die mehr und mehr der Kloake zu ähneln scheint, die unentwegt in Lennox‘ Kopf schwappt; eine Welt, in der selbst Polizisten nicht zu trauen ist und in der manchmal kleine Mädchen viel zu sexy wirken, und in der nur sehr langsam klar wird, warum der schottische Inspektor so besessen ist von dem Fall, der ihn doch eigentlich nichts angeht – und was ihm selbst vor langer Zeit in einem stillgelegten Tunnel widerfuhr.
Antiheld oder Held, Aufklärer oder Verdränger, die Grenzen der Realität werden durch die Lennox’sche Gedankenmaschine so zermürbt wie der Rastlose selbst.
Getrieben durch eine schnörkellose, schroffe Sprache, ist Irvine Welshs neues Werk eine brutale Schussfahrt durch ein Labyrinth aus menschlichen Abgründen, es ist aber auch ein süchtig machendes Buch über die kalten Dämonen der Erinnerung – und die Erhabenheit des Vergessenkönnens. (Kiepenheuer & Witsch, 19,99 Euro) rainer schmidt