Blutsbrüder :: von Ernst Haffner

„Ein Berliner Cliquenroman “ ist der Untertitel dieses lang vergessenen Textes, der 1932 unter dem Titel „Jugend auf der Landstraße Berlin“ erschien. Unter den Nazis wurde er verboten, vom Autor fehlt jede Spur. Haffner, von dem man nur weiß, dass er in Berlin als Sozialarbeiter tätig war, erzählt von, nein, besser: begleitet eine Gruppe obdachloser Jugendlicher, die -aus Verwahrungsanstalten geflohen – sich mit Kleinkriminalität und Prostitution über Wasser halten. Es ist ein harter Überlebenskampf – gegen den Winter, gegen den Hunger, gegen die Polizei -, den man alleine nicht gewinnen kann. Die Clique, die sich „Blutsbrüder“ nennt, wird zum Familienersatz. Zwei der Jungs versuchen, die Halbwelt zu verlassen und ein ehrliches Leben zu führen. Doch auch sie müssen ständig auf der Hut sein.

Haffner schildert dieses Milieu eindrücklich, mit leichtem, niemals aufdringlichem Pathos und einer allem zugrunde liegenden tiefen Traurigkeit. Der Text wird nicht von einer Handlung getrieben, sondern von Charakteren, Begegnungen, Episoden. Man leidet, fiebert und freut sich mit und erwischt sich dabei, wie man selbst Buch führt über die Einkünfte und Ausgaben der Jungs. Wird es reichen für den nächsten Tag? „Blutsbrüder“ ist so aufwühlend und lebensnah wie ein großer neorealistischer Film. (Walde +Graf bei Metrolit, 19,99 Euro) MAIK BRÜGGEMEYER

von T.C. Boyle

Boyles neuer Roman liest sich wie eine Mischung aus den letzten beiden. Er erzählt seriell die mehr oder weniger ineinander verwobenen Lebensgeschichten dreier Frauen (vgl. „Die Frauen“). Und die Handlung spielt auf einer kleinen unwirtlichen Insel vor Santa Barbara, die selbst zum eigentlichen Akteur avanciert (vgl. „Wenn das Schlachten vorbei ist“). Und das in den letzten neun bis dreizehn Romanen immer wieder durchgearbeitete Thema, der Antagonismus zwischen Natur und menschlicher Kultur, liefert auch hier einmal mehr die Kontroversen, die das Erzählen am Laufen halten. Boyles Narrationsmaschine schnurrt denn auch einmal mehr reibungslos davon. Seine Naturbeschreibungen sind saft-und kraftvoll. Bis in die Nebenfiguren ist die Geschichte mit richtigen dreidimensionalen Menschen besetzt. Geschickt verklammert er die Biografien der drei Frauen aus drei Generationen, die sich auf San Miguel mit unterschiedlichem Erfolg gegen Wind und Wetter und die Zeitläufte behaupten, bis sie alle irgendwann doch wieder die Flucht ergreifen, über Reprisen und Leitmotive (der Flugsand, die Mäuse, der Jähzorn der Kriegsveteranen, die Japaner). Und für die bildungsbürgerliche Leserschaft gibt es auch noch ein paar Anspielungen auf Shakespeare, Emily Brontë, Theodore Dreiser dazu. Alles wie immer also. Aber mittlerweile kennt man das eben allzu gut. Man durchschaut das Erzählschema sofort, dechiffriert jede Vorausdeutung fast schneller, als er sie setzen kann. Boyle kann nicht mehr überraschen. Und so fallen auch die handwerklichen Schwächen stärker auf. Etwa die überdeutlich wertenden Charakterisierungen seines Erzählers. Der selbstherrliche Inselkönig flucht hier wie ein Kesselflicker und stinkt aus dem Mund. Das ist auf dem Niveau eines Hollywood-Blockbusters. HBO-Serien lösen das längst komplexer. (Hanser 22,90 Euro)

von Alan Moore & Malcom McLaren

Die Zukunft, wie man sie sich vor 30 Jahren vorstellte. Eine atomare Apokalypse droht, die Gesellschaft steht kurz vor dem Zusammenbruch, aber der genialisch-monströse Designer Celestine macht weiterhin unbeirrt dekadente Mode für eine Hautevolee, die es bald gar nicht mehr gibt. Das den Umständen zum Trotz durchaus karrieregeile Garderoben-Mädchen Doll, das sich als Transvestit ausgibt, wird schließlich zu seiner bevorzugten Anziehpuppe. Der Stoff verrät ihre Schöpfer, den Punk-Impresario McLaren und den Comic-Eklektiker Moore, und ein bisschen auch die Jahre, die er auf dem Buckel hat. Die Endzeitstimmung, der Kurzschluss von Mode und Gesellschaftskritik und nicht zuletzt das Travestie-Thema, es riecht nach Achtziger-Mottenkiste. Ein nie realisiertes Drehbuch aus der Zeit ist denn auch die Grundlage dieser Comic-Adaption, und man kann sich nach Lektüre dieses ersten Teils schon vorstellen, wie grandios der Film gefloppt wäre. Die Story kommt einfach nicht aus dem Knick, die Hälfte ist rum, und immer noch wähnt man sich in der Exposition. Aber was soll man auch erzählen? Schon Robert Altman hat mit seiner Modesatire „Prêt-à-Porter“ ordentlich gelangweilt. Vielleicht lohnt sich hier der Blick hinter die Kulissen auch deshalb nicht, weil es da nichts mehr gibt. Moore, der mit der Fusion diverser Pop-Mythen sonst hübsche Effekte erzielt hat, muss hier vielleicht auch deshalb scheitern, weil Mode eben kein vieldimensionaler, unausdeutbarer Mythos ist, in dem sich Grundmuster des Menschseins manifestieren, sondern alles in allem eben doch bloß -Mode.

(Panini, 16,95 Euro) FRANK SCHÄFER

von Carsten Stroud

Seit einem spektakulären Bankraub ist in Niceville die Hölle los. Die Kleinstadt im Süden der USA wird nicht nur von korrupten Cops, dubiosen chinesischen Unternehmern und einem Auftragskiller der Mafia heimgesucht, das Böse selbst treibt hier sein Unwesen. Es scheint Besitz zu ergreifen von Rainey Teague, jenem Jungen, den der Ermittler Nick Kavanaugh und seine Frau Kate bei sich aufgenommen haben. Als wäre das des Schlechten nicht genug, wird auch noch Nicks verhasster Schwager Byron Deitz des Bankraubs verdächtigt. Auf der Flucht verschanzt er sich in einem Geschäft für Survivalausrüstung, was seine Überlebenschancen aber nicht unbedingt erhöht.

Wie bereits im Vorgängerroman verwischt Carsten Stroud in „Die Rückkehr“ die Grenzen zwischen Thriller und Mystery. Doch was in „Niceville“ noch hervorragend funktionierte, wirkt in der Fortsetzung überladen und gespreizt. Die Ausdifferenzierung der Hauptfiguren – größtenteils eine Ansammlung knallharter bis schießwütiger Typen mit äußerst kurzem Geduldsfaden – bleibt aufgrund des actiongeladenen Plots weitgehend auf der Strecke. Wer bei all den wüsten Schießereien, Autounfällen, Flugzeugabstürzen und Verfolgungsjagden draufgeht, ist dem Leser deshalb rasch einerlei. Wie der amerikanische Autor das im Abschluss der Trilogie wieder hinbiegen will, bleibt das größte Rätsel dieses Romans. (Dumont, 19,99 Euro)

von Helene Hegemann

Man kann natürlich die Stellen suchen und wird sie finden: „Er fickt genauso, wie man sich das vorstellte, es war irgendwie reibungslos, und wenn währenddessen der Lattenrost durchbrach, fing er an zu lachen, ging in den Keller, um eine Bohrmaschine zu holen, und stabilisierte es in Windeseile so fachmännisch, dass man ein Auto darauf hätte abstellen können.“ Helene Hegemann formuliert auch in dem Roman nach „Axolotl Roadkill“ nicht wie Botho Strauß, und wenn man es böse meint, dann kann man ausführen, dass „Jage zwei Tiger“ ein schnodderiger, nihilistischer Jugend-aufder-Flucht-Roman ist, Unter-Null-Faserland-About-A-Boy-Soloalbum-mäßig, mit aktuellen Jargons und Floskeln aufgeladen. Selbstverstümmelung, Posen, Moden, Bulimie, beiläufiger Sex, McDonald’s, Partygeschwätz, Suizid-und Mordfantasien, Drogen, Verwahrlosung und Levitation.

Man kann aber auch behaupten, dass „Jage zwei Tiger“ ein zutiefst trauriger Roman ist, in dem als analoge Relikte ein Zirkus, ein Randy-Newman-Zitat und Schopenhauer vorkommen. Kai und Julia und Cecile sind Angehörige einer kaputten Generation, von den Patchwork-Eltern verlassen, in Internate abgeschoben, in Wohngemeinschaften gestrandet, schon mit 17 von Müdigkeit und Überdruss ausgelaugt: Hanni und Nanni in einer Welt von Zombies, Soziopathen und Egoisten. Es gibt keine Erwachsenen mehr – bloß noch Narzissten, die darum ringen, für immer jung zu bleiben, während die Jungen vor der Zeit vergreisen und sich mit Internet, Süchten, obskuren Bands, Tätowierungen und sozialen Auffälligkeiten langweilen. Sie rebellieren, wie jede Jugend vor ihnen, gegen das Bestehende. Aber, und das ist das Bestürzende an Helene Hegemanns Roman: Es ist keine Autorität mehr da, die das Bestehende verteidigt.

(Hander, 18,90 Euro) ARNE WILLANDER

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