Bruce Springsteen
„Tracks II: The Lost Albums“ – Fast perfekte Welt
Sony (VÖ: 27.6.)
Unfassbare sieben Alben hat Bruce Springsteen aus seinem Archiv geholt. Es ist eine der spektakulärsten Ausgrabungen der Rock-Geschichte.

Für Kontrollverlust im Umgang mit seinem Archiv war Bruce Springsteen bisher nicht bekannt. Anders als beispielsweise Neil Young haut er nicht einfach alles raus. „Tracks“ und „The Promise“ haben das Mysterium eher genährt als gelüftet, weil sich darauf die allerschönsten Unglaublichkeiten tummeln. Springsteens Bullshit-Detektor schien stets intakt zu sein. Die Nachricht über ein Boxset mit sieben bislang unter Verschluss gehaltenen Platten setzte deshalb nicht nur euphorische Gefühle frei. Man konnte sich auch Sorgen machen: Sind die Pferde von „Western Stars“ mit ihm durchgegangen?
Wird der Mann auf seine alten Tage so sentimental, dass er glaubt, alles von ihm jemals Berührte sei Gold und müsse der Welt zu Gehör gebracht werden? Handelt es sich nicht vor allem um Ausschuss? Bruce sei Dank nicht. Die 83 Stücke dieses prall gefüllten Tornisters mit der Aufschrift „Tracks II“ sind launig, herzzerreißend, überbordend – und versacken nur manchmal in den typischen Springsteen-Manierismen.
Der Meister fühlt sich unverstanden
In einem dieses Boxset anpreisenden Clip erzählt der Songschreiber, dass er in Bezug auf die 90er-Jahre oft von seiner „lost period“ lese. Der Meister fühlt sich unverstanden, habe er doch die meiste Zeit damals im Studio gearbeitet. Nun ist es nicht so, dass man auf das verschollene Meisterwerk nach „Lucky Town“ gewartet hat. Aber „Streets Of Philadelphia“ ist so herrlich wie der Titelsong, der hier gar nicht erklingt. Nichts zu spüren von der rockistischen Muckibude der frühen Neunziger. Das Album reist von der „Tunnel Of Love“-Ebene zu den waldigen Hügeln auf „The Ghost Of Tom Joad“. Unter Springsteens großen Dramen der kleinen Leute schlägt die wohl nachdenklichste Drum Machine der Popgeschichte, tönen Keyboards, die wie Geister durch nächtliche Großstädte schweben.
In einem Begleittext des nicht mit amerikanischen Klischeebildern sparenden Booklets (muss man mit über 70 noch auf der Kühlerhaube eines Cadillacs posieren?) schreibt Erik Flannigan, Springsteens Freiheit, so viel Material wie möglich aufzunehmen, begann mit seiner Entdeckung des Vierspurkassettenrekorders. Die „LA Garage Sessions ’83“ breiten erste Zeugnisse dieses Experimentierfelds aus, verströmen jedoch weniger den trockenen Präriewind der „Nebraska“-Nachzügler auf „Tracks“, sondern verhalten sich wie schüchterne „Born In The U.S.A.“-Geschwister, die sich nicht zwischen Folk, Rockabilly und Synthesizer entscheiden wollen.
Als würde sich ein Siebenjähriger zum Fasching einen Cowboyhut aufsetzen und Gary Cooper spielen
„Faithless“ sollte als Filmmusik zu einem „spirituellen Western“ dienen, der nie gedreht wurde. Und so bildet die Platte das sphärische Gegenstück zu „Devils & Dust“. In der Gospelscheune von „All God’s Children“ röhrt Springsteen seinen besten Tom Waits. Das „Tom Joad“-Nebenprodukt „Somewhere North Of Nashville“ lädt zum Schwofen und Schwelgen ein, steht auf den Schultern Jimmy Webbs, lernt mit einer wundervollen Version von Johnny Rivers’ „Poor Side Of Town“ selber fliegen und landet nicht mal in der Nähe von Nashville. Springsteens Country-Anverwandlungen sind ohnehin ein Missverständnis, ein ziemlich niedliches – als würde sich ein Siebenjähriger zum Fasching einen Cowboyhut aufsetzen und Gary Cooper spielen.
Auf „Inyo“ begleiten wir Springsteen durch Kalifornien, lassen Streicher und Bläser vorbeiziehen und machen einen hübschen Mariachi-Abstecher. Noch anmutiger sind die Pop-Balladen auf „Twilight Hours“. Ausgerechnet das Album mit dem Titel „Perfect World“ enthält die schwächsten, etwas hemdsärmeligen Stücke. Aber das ist Jammern auf allerhöchstem Niveau.
Diese Review erschien zuerst im Rolling Stone Magazin 7/2025.