Cortney Tidwell

„Boys“

Die britische Presse druckte mit den üblichen Reflexen mal wieder die tollsten Etiketten für die Spätstarterin aus Nashville. „Post-Rock Alison Krauss“ war schon schön, „Country Björk“ durfte auch nicht fehlen. Käme Cortney Tidwell aus Portland oder Liverpool, niemand würde das Genre bemühen, nicht mal mit Fragezeichen oder „Alt“-Alibi. Zugleich scheint die Musik der Mittdreißigerin undenkbar ohne die traurige (Nicht-)Basis einer manisch-depressiven Mutter, die auch als Country-Sängerin scheiterte, hinein in einen frühen Tod mit 49, der 2006 zwischen den Zeilen überall zu spüren war auf“Don’t Let Stars Keep Us Tangled Up“,“dem Albumdebüt der Tochter.

Die hat längst selbst zwei Söhne und spannt ihren Bogen mit „Boys“ nun noch ein ganzes Stück weiter. Was zuweilen ganz schön schwindlig macht. Dabei wähnt man sich anfangs mit „Solid State“ noch auf ebensolchem Terrain und lässt sich gern fallen in diese schwebend-hingetupfte Streicher-Epiphanie. Zumal sie Tidwells Zartbitter-Stimme mal schön unverstellt einfach in den Raum stellt, der ihr gebührt, statt sie wie sonst öfter unter und mit sich selbst auf zig Spuren zu verhüllen und auf entrückte Sound-Trips durch die elektronische Giftküche zu schicken. Was in „Son & Moon“, „Oslo“ oder „Palace“ freilich seine Reize hat.

Beat bis zum kleinen Exzess kann Tidwell aber auch. Das mitreißende „So We Sing“ tischt ein fast klassisches Pop-Rezept auf. „Watusii“ erinnert in Melodieführung und Arrangement an Laura Veirs und rief gleich begehrte Remixer auf den Plan. Im Kontrastprogramm klingt „Being Crosby“(!), ein folk-ätherisches Duett mit Jim James (My Morning Jacket), als ob das Paar an einem lauen Abend im Laurel Canyon nach dem Geist von David und Joni fahnden würde.

Auf „Boys“ soll es tatsächlich um kleine und große Jungs gehen. Dass das nur gelegentlich wirklich herauszuhören ist, macht nichts, denn Tidwells Kraft und Zauber liegen nicht in den Worten, sondern gerade in der enigmatischen Entschlossenheit, Musik als Sprache jenseits verbalen Ausdrucks zu zelebrieren. Wie auch im kleinen Stakkato-Monster „17 Horses“, das sie ihr „toughes“ Stück nennt.

Wirklich tough ist natürlich was anderes. Im finalen „Oh, Suicide“ greift sie ein Thema aus „So We Sing“ noch einmal auf und singt: „All the other boys this side of town listen to the voices underground…“ Dass es die Stimme von Cortney Tidwell doch noch irgendwie nach oben geschafft hat, ist womöglich fast ein Wunder. (City Slang)

Jörg Feyer