Das Büro: Direktor Beerta

In seiner Heimat löste der niederländische Autor J. J. Voskuil mit der Beschreibung seines tristen Bürolebens bei den Lesern eine Joanne-K.-Rowling-artige Hysterie aus. Jetzt sind wir dran

von J. J. Voskuil

Johannes Jacobus Voskuil hat seinen Job als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Instituut voor Dialectologie, Volksen Naamkunde in Amsterdam nicht besonders gemocht. Trotzdem ist er dort 30 Jahre hingegangen und hat den Schlagwortkatalog für Namenskunde bearbeitet und sich mit volkskundlichen Phänomenen wie den sogenannten Wichtelmännchen oder der Nachgeburt des Pferdes beschäftigt, die man in einigen niederländischen Provinzen vergrub und in anderen auf einen Baum hängte. Jeden Tag haben ihn die Sinnlosigkeit und Absurdität des Bürolebens zermürbt – ganz zu schweigen von den Streitereien mit seiner Frau Lousje, die ihm ständig vorhielt, er würde das Ideal des einfachen, bescheidenen Lebens durch sein – so ihre Meinung – viel zu hohes Gehalt verraten.

Drei Jahre nach seiner Pensionierung, genauer gesagt am 7. September 1990, begann Voskuil, seine Erlebnisse bzw. Nicht-Erlebnisse der vergangenen drei Jahrzehnte aufzuschreiben. Als er seine Arbeit am 26. September 1995 abschloss, kam er kaum noch heraus aus seinem kleinen Büro, so türmten sich dort die Schreibmaschinenseiten. Der Verleger Wouter van Oorschot holte das Manuskript mit dem Fahrrad ab – an jedem Lenker eine prall gefüllte Tasche und eine auf dem Gepäckträger.

Zwischen 1996 und 2000 erschienen Voskuils Aufzeichnungen verteilt auf sieben Bände mit insgesamt etwa 5.200 Seiten unter dem Titel „Het Bureau“ (dt. „Das Büro“) und lösten in den Niederlanden eine regelrechte Manie aus. Ein ganzes Land nahm Anteil am Schicksal von Voskuils Alter Ego Maarten Koning und all den anderen seltsamen und zugleich aus dem eigenen Leben wohlbekannten Figuren, die mal mehr, mal weniger gut mit dem Büroleben zurechtkamen. Fast eine halbe Million Exemplare von „Het Bureau“ wurden verkauft, die nicht immer schmeichelhaft porträtierten realen Vorbilder der Voskuil’schen Posse traten – manchmal gemeinsam mit dem Autor – leicht angesäuert im niederländischen Fernsehen auf (hierzulande würde man sich höchstens vor Gericht sehen), in Amsterdam wurden „Het Bureau“-Führungen veranstaltet und eine moribunde Dame, die glaubte, die Veröffentlichung des letzten Bandes nicht mehr miterleben zu können, bat (vergeblich) um Manuskripteinsicht.

Nun ist der erste Teil des Romanzyklus unter dem Titel „Das Büro: Direktor Beerta“ endlich auch bei uns erschienen. Gerd Busse, der sich jahrelang für dieses Projekt einsetzte, hat Voskuils dem Thema angemessen unaufgeregte Sprache ins Deutsche übertragen. Über 800 Seiten kann man als Leser nun zwischen Regalen und Schreibtischen, Karteikästen und Lexika verbringen. Ein Traum und ohne Zweifel der beglückendste Text, den man in diesem Jahr aufgehoben zwischen zwei Buchdeckeln finden konnte.

Hauptaufgabe des Büros ist in den im ersten Band beschriebenen Jahren 1957 bis 1965 die Erstellung des „Atlas der Volkskunde“, doch die durch Fragebogen erhobenen Daten reichen bei Weitem nicht, um etwas Aussagekräftiges über Land und Bräuche in den zwölf niederländischen Provinzen zu ermitteln. Alle bereits gezeichneten Karten sind eigentlich nutzlos – und jeder, allen voran der gewiefte und ein bisschen eitle Direktor Anton Beerta, wissen es. Der erträgt all das mit Pragmatismus und einer ihm eigenen Ironie. Er lässt sich immer wieder neue aussichtslose Projekte aufhalsen, um den Verbleib des Instituts zu rechtfertigen, hält das Geld beisammen und lässt sich ungeschulte und vollkommen unqualifizierte Mitarbeiter für wenig Geld vom Sozialamt vermitteln. Hinter den psychischen Problemen seiner weniger robusten Untergebenen vermutet er nicht selten etwas Sexuelles. Ein anständiges Mädchen, so seine Meinung, müsste die Sache richten – selbst lebt der bürokratische Bohemien mit einem Kriminologieprofessor zusammen.

Der sensible Berufsanfänger Maarten Koning, ein underachiever, der sich weigert, dem Wunsch seines Vaters nachzukommen und seine Doktorarbeit zu schreiben, betrachtet das Büroleben mit distanziertem Staunen und merkt zunächst nicht, wie sehr ihn all das angreift. Abends sitzt er mit seiner Angetrauten Nicolien beim Genever und hält sich die Sorgen auf Distanz. Als ihn jedoch eines Tages der depressive Kollege Frans Veen unangekündigt besucht und er sein privates Refugium verletzt sieht, reagiert Maarten regelrecht hysterisch, als hätte ein ungebetenes Ungeziefer sich breitgemacht. In Momenten wie diesen kippt der hypnotische Trott der Erzählung ganz plötzlich ins Surreale, Kafkaeske.

Zu Beginn ist Koning ein Moralist, der die Ungerechtigkeiten und Sinnlosigkeiten des Alltags nicht anstandslos hinnehmen will. Da gleicht er den Protagonisten deutscher Angestelltenromane aus den 30er-Jahren wie Martin Kessels „Herrn Brechers Fiasko“ oder Erich Kästners „Fabian“. Doch mit der Zeit wird er vom Handelnden zum Beobachter, vom Angestellten zum Ethnologen, vom Pragmatiker zum Melancholiker.

Der Autor W. G. Sebald hat mal über die Melancholie als einer Form des Widerstands geschrieben: „Wenn sie, starren Blicks, noch einmal nachrechnet, wie es nur so hat kommen können, dann zeigt es sich, dass die Motorik der Trostlosigkeit und diejenige der Erkenntnis identische Executiven sind. Die Beschreibung des Unglücks schließt in sich die Möglichkeit zu seiner Überwindung ein.“ Das war auch die Haltung von J. J. Voskuil, der uns mit „Das Büro“ einen großen, komischen, bescheidenen, ausufernden, tieftraurigen und hochphilosophischen Roman geschenkt hat. Der Autor, der schwer krebskrank war, entschied sich 2008 für die Sterbehilfe. Als Todesdatum wählte er den Tag der Arbeit. (Beck, 25 Euro)

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