Die Kindheit Jesu :: J. M. Coetzee

Mag der geheimnisvolle Titel auch auf die Bibel hindeuten, erkennt man in „Die Kindheit Jesu“ ganz sicher keine Heilsversprechen, eher die absurde Ausweglosigkeit, wie man sie von Franz Kafka oder Samuel Beckett kennt. Der südafrikanische Nobelpreisträger J. M. Coetzee erzählt hier in ungewöhnlich schmuckloser Sprache die Geschichte eines Mannes mittleren Alters, dessen Namen wir nicht kennen. Er ist auf dem Weg nach Novilla, einer spanischsprachigen Stadt, in der er ein neues Leben beginnen will. Auf einem Flüchtlingsschiff. Dort liest er einen ebenfalls namenlosen Jungen auf. Der Brief, der Identität und Aufenthaltsort seiner Mutter offenbarte, ging verloren. Überhaupt scheint jegliche Erinnerung an die Vergangenheit getilgt. Die beiden erhalten von der Einwanderungsbehörde neue Namen. Der Mann heißt nun Simón, der Junge wird auf David getauft. Beide haben Probleme, sich in der angepassten, gleichgültigen neuen Welt zurechtzufinden. Simón heuert als Schauermann im Hafen an, schleppt Getreidesäcke und zettelt philosophische Diskussionen über Liebe, Sex, Arbeit und Familie an. Bei der aussichtslosen Suche nach Davids Mutter folgt er schließlich einer inneren Eingebung: Er erkennt die Gesuchte in einer wildfremden Frau, Inès, die mit ihren Brüdern in einer geheimnisvollen Residenz lebt. Inès versucht, David vor der Welt abzuschirmen, der flüchtet sich schließlich in die eigene Fantasie und findet einen Verbündeten in Don Quijote; eine Jugendbuchausgabe von Cervantes‘ Roman ist ein erster Zugang zur Sprache.

„Die Kindheit Jesu“ ist eine existenzialistische Parabel, in der sich viele Probleme unserer modernen Gesellschaft spiegeln – der Umgang mit Flüchtlingen, die Verteilung von Arbeit und Reichtum, Entpolitisierung, Erziehung und Elternschaft.

Ein meisterlicher, geheimnisvoller Roman. (S. Fischer, 21,99 Euro)

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