Die Psychopathen sind unter uns :: von Jon Ronson
Nach bald 30 Jahren Hannibal, the cannibal mit all seinen Enkeln in Funk, Fernsehen und im frauenaffinen Serienmörderroman sollte man meinen, dass das Psychopathen-Genre weitgehend auserzählt sei. Umso überraschender, dass der Engländer Jon Ronson, der sich mit dem mit Starbesetzung verfilmten „Männer, die auf Ziegen starren“ über Drogenexperimente der US-Armee bereits als zuverlässiger Wegbegleiter in die Randgebiete menschlicher Zurechnungsfähigkeit erwiesen hat, auch den Psychopathen unter uns noch ein paar ziemlich aufregende Seiten abgewinnt. Eben weil er sich weniger für die Hannibal Lecters dieser Welt interessiert als für das weite Feld der scheinbar harmlosen Irren von nebenan.
Vom ehemaligen MI5-Agenten, der zum in Frauenkleider tragenden Verschwörungstheoretiker mutiert, bis zum CEO, der bei der Entlassung von mehreren Tausend Mitarbeitern orgiastische Gefühle erlebt, porträtiert Ronson ein breites Spektrum gestörter Personen und wirft immer wieder die Frage auf, wo der Spleen endet und der Wahn beginnt.
Dank Ronsons im besten Sinne naiver Herangehensweise verschwimmen dabei mehr und mehr die Grenzen zwischen Patient und Therapeut, und wenn man liest, dass manch besonders „aufgeschlossener“ Psychiater darauf schwor, Serienmörder mit LSD zu therapieren, fragt man sich, auf welcher Seite des Schreibtisches die wahren Irren sitzen.
Bisweilen erreicht Ronson hier die schwarzhumoristischen Qualitäten eines Elmore-Leonard-Romans. Bei Tony etwa, einem Londoner Kleinkriminellen, der glaubte, wenn er auf „Psycho“ mache, würde ihn das vor dem Gefängnis bewahren. Er imitierte Dennis Hoppers „Blue Velvet“-Performance und hatte Erfolg. So großen, dass er heute noch in der Geschlossenen sitzt, wo die behandelnden Ärzte all seine Beteuerungen, normal zu sein, als typische Reaktion eines Psychopathen interpretieren. (Tropen, 19,95 Euro) Gunter Blank