Romane: Alle Bücher von Thomas Harris im Ranking

Alle Romane von Thomas Harris im Ranking – von „Black Sunday“ bis „Cari Mora“

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Mit „Cari Mora“ veröffentlichte Thomas Harris im Mai 2019 seinen ersten Roman seit 16 Jahren. Wie gut ist das Buch, sein erstes ohne Hannibal Lecter seit seinem Debüt „Black Sunday“ von 1975?

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Das Ranking beginnt mit „Black Sunday“. Es ist nicht sein schlechtestes Buch. Es ist halt nur sein sechstbestes. Harris hat eine makellose Bibliographie.

06. „Black Sunday“ (1975, deutsch „Schwarzer Sonntag“)

Für jeden Araber, der fortan durch die Hand eines Israeli stirbt, soll ein Amerikaner sein Leben lassen. Der „Schwarze September“, in Europa gefürchtet seit dem Anschlag auf die israelischen Sportler bei den Olympischen Spielen in München 1972, plant einen Terroranschlag auf US-Boden.

Die Attentatswellen der Palästinenser und die Vergeltungsmaßnahmen der Israelis waren, gemeinsam mit den Aktionen von RAF und IRA, der allgegenwärtige Terrorismus der 1970er-Jahre. Thomas Harris schickt seinen –fiktiven – Drahtzieher von München, Muhammad Fasil, gemeinsam mit dem – fiktiven – Koordinator der Angriffe in Frankreich und Italien, Abu Ali, nach Amerika.

Der Feind in den eigenen Reihen

Harris brachte nun eine Idee ins Spiel, die für amerikanische Patrioten für damalige Zeiten unerhört, für jeden anderen Amerikaner furchterregend war. Die eines Schläfers aus den eigenen Reihen. Der Pilot Michael Lander ist ein Vietnam-Veteran mit Symptomen, die man heute als Posttraumatische Belastungsstörung bezeichnen würde. Er wurde als Vietcong-Gefangener gefoltert. Und fühlt sich nun in der Heimat nicht ausreichend versorgt.

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Aus Rache an der Regierung, aber auch aus blinder Liebe zur Palästinenserin Dahlia beteiligt er sich am Plan eines Selbstmordattentats. Mit einem Zeppelin will er beim Super-Bowl-Finale über das Tulane-Stadion von New Orleans fliegen und eine Splitterbombe zünden. Damit tangierte Harris 1975 heute noch hochaktuelle Themen. Anschläge bei Massenveranstaltungen, wie eben bei einem American-Football-Spiel, haben hohe Symbolkraft. Dazu die Gehirnwäsche bei einheimischen Kollaborateuren.

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„Und dafür setzt ihr alles andere aufs Spiel. Nur für die Rache“

Harris ist Autor von Thrillern, nicht politischen Analysen. Analysen schließen eindeutige Ursache-Wirkung-Zusammenhänge meist aus. Verhindern also klare Zuschreibungen von Täter- und Opferrollen. Der Literat Harris aber braucht Protagonisten und Antagonisten. In seinem Plot sind die Mossad-Agenten also die Guten, die palästinensischen Terroristen die Bösen. Attentats-Planerin Dahlia bekommt beim Gedanken an zerfetzte Körper buchstäblich erigierte Brustwarzen. In einem späteren Vorwort schrieb Harris, dass er Gefallen an der Figur gefunden hatte. Derart, dass er sich inspiriert fühlte, die FBI-Agentin Clarice Starling zu entwerfen.

Die interessanteste Figur bleibt hier jedoch die des Veteranen Lander. Sein Hass auf Amerika ist nicht politisch. Ihm liegt eine Kränkung zugrunde. Die Palästinenserin Dahlia ist dagegen konditioniert.

Der Mossad und das israelische Militär, so scheint es hier, sind jedenfalls straffer organisiert als die US-Geheimdienste. „Die Amerikaner nehmen sich ihre Zeit“, urteilt der israelische Agent Kabakov, der den Anschlag verhindern will. Ein US-Ermittler wundert sich derweil über das Attentatsziel. „Beim Super Bowl spielt doch gar kein jüdisches Team.“ Es ging eben um die neuartige Planung von als besonders effektiv betrachteten Anschlägen. Es sollten gerade Unschuldige sein, die in Mitleidenschaft gezogen werden.

Und doch haben die Israelis laut Harris den strategischen Vorteil. US-Veteran Lander streitet sich mit dem Palästinenser Fasil. „Deshalb schlagen euch die Israelis mit solcher Beständigkeit. Ihr denkt ständig nur nach Rache, wegen dem, was euch in der letzten Woche angetan wurde. Und dafür setzt ihr alles andere aufs Spiel. Nur für die Rache.“

05. „Cari Mora“ (2019)

44 Jahre nach seinem Debütroman „Black Sunday“, der vom Terror des „Schwarzen September“ und Vergeltung durch die Israelis erzählte, widmet sich Thomas Harris wieder dem politischen Thriller. Dass er ausgerechnet aus einer nach Amerika emigrierten Ex-Soldatin der FARC, der linken Guerilla-Bewegung Kolumbiens, eine Kämpferin für Umwelt und liberale Einwanderungsgesetze macht, ist sein Seitenhieb auf die US-Regierung.

Caridad „Cari“ Mora arbeitet auf einer Seevogelstation und befreit im Müll gefangene Tiere. Der von Menschen verursachte Dreck an den Stränden wird einem ihrer Freunde noch zum Verhängnis werden. Mit den in Miami Beach lebenden Kubanern teilt sie Wissen über die Vielfalt des Fallobsts in den Vorgärten. Über Ressourcen also, die die Amerikaner in ihren vier Wänden nicht wertschätzen. Harris geht noch weiter, schreibt: Es ist bereits ein Fehler, Bücher über Natur und Gartenbau für unpolitisch zu halten.

„Miami wurde von Menschen errichtet, die oft zu Fuß aus anderen Ländern eingewandert sind“, schreibt er weiter. Die Ironie ist, dass Caris Schutzstatus als Einwanderin und FARC-Deserteurin durch „begründete Furcht“ belegt werden muss. Sie jedoch keine Angst vor dem Bösen verspürt. Als Haushälterin in der ehemaligen Miami-Villa Pablo Escobars begegnet sie Gangstern, die einen Schatz im vom Ozean gefluteten Keller heben wollen. Eine per Fallen gesicherte Goldtruhe.

Die kindlichen Traumata

Harris‘ Figuren eint kindliche Traumata, die sie als Erwachsene entweder zu Aufrechten gemacht haben oder zu Psychopathen. Hannibal Lecter musste miterleben, wie seine Schwester verspeist wurde. Der transsexuelle Mörder Jame Gumb („Das Schweigen der Lämmer“) verzweifelte, weil ihm eine Geschlechtsumwandlung verwehrt blieb. Francis Dolarhydes („Roter Drache“) Großmutter drohte dem Jungen mit Kastration. FBI-Agentin Clarice Starling aber überwand das Geschrei der Tiere auf der Schlachtbank der elterlichen Farm, auch die Kindersoldatin Cari Mora ging gestärkt aus dem Krieg hervor.

Nun gerät Mora an Hans-Peter Schneider, einen Killer, den, wie auch Lecter, selbst Psychiater als „Monster“ bezeichnen. Der Deutsche will nicht nur das Gold. Er verkauft auch Entführte oder deren Leichen(teile), wie Jame Gumb es plante, an reiche Perverse. Schneider hat einen „Zinkfinger“ und ist aufgrund eines Gendefekts haarlos. Was aus ihm natürlich noch kein „Monster“ macht. Seine Lust am Töten aber bleibt im Dunkeln. Damit ist er der erste Harris-Schurke, der weniger interessant ist als die Heldenfigur. Mit dem Namen ist Nüchternheit beabsichtigt. Aber deutschsprachige Leser könnten sich bei dessen Hobby, Tote in Säure aufzulösen, an Helge Schneiders „00 Schneider“-Aktionismus erinnert fühlen, wo Verbrecher ihren Job als Hauswirtschaft verstehen: „‘Hans-Peter räumt auf! Hans-Peter spült die Sorgen fort!‘, lautete sein Motto.“

Die Stärken seines Romans liegen nicht in der Zuspitzung der Gewalt, Schatzsuche plus torture porn, sondern im Stillen

Nicht alles an der Erzählung also überzeugt. Es gibt zu viele Nebenfiguren. Vor allem auf Seite der Schurken. Schneiders Gehilfen tauchen ebenso schnell wieder auf, wie sie verschwinden bzw. sterben. Auch die Truppe rund um Cari Moras vermeintlichem Helfer, Clan-Chef Don Ernesto, ist zu groß bestückt, um in Erinnerung zu bleiben. Die Escobar-Villa dient als Ablageplatz für Filmrequisiten. Aber die Puppen rund um die Königin aus „Aliens“ sind als Schauer-Attrappen zwar von atmosphärischem, aber ohne erzählerischen Nutzen. Dazu kommt ein etwas altväterlicher Erzählton Harris‘, wann immer er Cari Mora in ihrem Alltag schildert. Sie lackiert sich – typisch Latino! – die Nägel im Bus und kontrolliert ihr Aussehen im Handspiegel. Und sie sehnt sich auch, schreibt Harris, nach einer starken männlichen Schulter. Darin ist sie Clarice Starling nicht unähnlich.

Der Goldschatz immerhin ist das, was im Film „MacGuffin“ genannt werden würde. Ein Sehnsuchtsobjekt ohne besonderen Nutzen. Das aber die Handlung vorantreiben und die Charaktere miteinander verknüpfen soll. Harris hat Spaß daran, Schneiders Truppe und die Cari Moras sich wie Panzerknacker an den Sicherheitsmechanismen der Truhe – das Ticken wird immer lauter! – abarbeiten zu lassen. Doch liegen die Stärken seines Romans diesmal nicht in der Zuspitzung der Gewalt, Schatzsuche plus torture porn, sondern im Stillen. Cari Mora ist unfreiwillig Heldin. Sie möchte nicht ins Visier der Einwanderungsbehörde geraten. Mit dem Gold würde sie ein bruchreifes Haus neu errichten. Sich also eine amerikanische Existenz errichten.

Ein komplettes Kapitel lang widmet er sich einem unwesentlichen Krokodil

13 Jahre liegt sein vorangegangener Roman „Hannibal Rising“ zurück. Thomas Harris ist 78. Vielleicht kommt kein weiteres Werk mehr. Viele hatten zuvor auf einen weiteren „Lecter“ gehofft. Aber sollen doch der Kannibale und seine Geliebte Starling weiter inkognito die Oper in Buenos Aires besuchen, wie am Ende von „Hannibal“. Dass die Ära Cari Moras anbricht, wirkt wie ein mutiger Neuanfang ihres Schöpfers. Harris ist gelassen geblieben. Ein komplettes Kapitel lang widmet er sich einem unwesentlichen Krokodil, das auf den Golfplätzen Miamis auf Beutejagd nach Chihuahuas geht. Und das auch noch zum Roman-Finale. Er kann es sich leisten.

04. „Red Dragon“ (1981, deutsch: „Roter Drache“)

Lange nahmen wir selbstverständlich hin, was uns die Netflix-Serie „Mindhunter“ erst vor Augen führen musste. Dass unser Wissen über psychische gestörte Serienmörder langjähriger Arbeit von Profilern zugrundeliegt, die ihre Arbeit, überwiegend beim FBI, auch erst in den 1970er-Jahren wissenschaftlich systematisierten. Zuvor waren Killer „irre“ und „gestört“.  Aber ihre Psyche wurde nicht untersucht. Sie wurden halt weggesperrt. Oder landeten auf dem elektrischen Stuhl.

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Für seinen zweiten Roman recherchierte Thomas Harris in der Abteilung für Verhaltenswissenschaft im FBI-Quartier in Quantico, Virginia. Und widmete sich deren Forschungen über Serienmörder. Es inspirierte ihn zur Erfindung zweier Psychopathen, zwischen denen sein FBI-Profiler Will Graham wie ein Ping-Pong-Ball hin und her springen sollte, und von denen einer in die Literatur- und später in die Filmgeschichte eingegangen ist. Dr. Hannibal Lecter. Der Psychiater korrespondiert von seiner Gefängniszelle aus per Brief mit Francis Dolarhyde, dem zweiten Psychopathen, dem „Roten Drachen“.

Er spricht nie von Mord, sondern von Einverleibung und Absorbierung

Dolarhyde meuchelt in Vollmondnächten ganze Familien, beißt ihnen, einer Art Oralfixierung verschuldet, Körperteile ab, trägt oft das künstliche Gebiss seiner Großmutter. Und manchmal einen Kimono. Er spricht nie von Mord, sondern von Einverleibung und Absorbierung, er glaubt so, mehr zu sein, als er ist, und schenkt seinen Opfern damit vermeintlich die Veränderung ihrer unwürdigen Daseinsform.

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Wie vorsichtig Kinogänger zur damaligen Zeit an abnorme Menschen herangeführt werden, zeigten die ausführlichen Epiloge, denen sich die Regisseure Alfred Hitchcock und Brian de Palma der Innerlichkeit ihrer Figuren widmeten, 1960 wie 1980. Sowohl in „Psycho“, als auch – dem gelungenen Plagiat – „Dressed To Kill“ erklären Ärzte und Polizisten nach der Festnahme des Mörders, was die umgetrieben hat. Zuschauer sollten mit dem beruhigenden Gedanken den Saal verlassen, dass sie wissen, was den Mann von Nebenan zum sadistischen Killer mit Ödipuskomplex gemacht hat.

Schnipp, Schnapp, Pipi ab

Auch Dolarhyde wurde von einer Mutterfigur, hier der Großmutter, zum Psychopathen erzogen. Das „wie“ liest sich heute schematischer, als man es 1981 aufgefasst haben dürfte. Die Oma legte einst den Penis des Jungen zwischen die Scherenklingen und drohte mit Schnipp-Schnapp. Kastrationsangst, der Klassiker, um Kinder Angst einzujagen. Als Erwachsener sieht er die alte, längst verstorbene Frau nun überall, sogar in einem Porträt George Washingtons. Erlösung glaubt Dolarhyde in der Verwandlung in ein Fabeltier zu finden, dem „Roten Drachen“, inspiriert von William Blake und dessen Bild „The Great Red Dragon and the Woman Clothed with the Sun“.

Jungen lieben ihre Mutter, der kleine Francis sah gerne zu, wie sie an ihrem Schminktisch saß und ihr Makeup in einem jener Märchenspiegel begutachtete, die von zahlreichen Glühbirnen eingefaßt sind. Weil Dolarhyde, den Jungen mit der Sprachstörung, keiner wollte, landete er nun also bei der Großmutter, deren Haus ihn schnell befremdet, das eine „neue Welt darstellt, ein Wald aus blau geäderten Beinen.“

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Die von Harris häufig skizzierten Paarkonstellationen sind soweit nicht von Dreigroschen-Romanen entfernt, die die Intensität, das „Feuer“ innerhalb der Liebesbeziehungen auch von Machtgefällen abhängig machen. Es gibt den Psychiater, der für seine Schülerin den Vaterersatz darstellt (Hannibal Lecter und Clarice Starling), es gibt den Schüler, der die weit ältere exotische Lehrerin begehrt (Hannibal Lecter und Lady Murasaki).

Im „Roten Drachen“ – und diese Liebe schrammt haarscharf am Erlöser-Kitsch vorbei – erkennt die junge Reba unvermittelt Schönheit im Arbeitskollegen Dolarhyde. Der traut sich in seiner bürgerlichen Existenz als Fotolabor-Entwickler kaum zu sprechen, weil er sich für seine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte schämt. Reba ist blind, sie sieht ihn nicht. Sie überlebt die Beziehung zum Serienmörder, sie hat die guten Seiten seines Wesens zum Vorschein gebracht, er konnte ihr einfach nichts antun.

„Zahnschwuchtel“

Die deutsche Übersetzung hat aus Dolarhydes von der Klatschpresse aus der Taufe gehobenen Beinamen „Tooth Fairy“, er ist ja ein Beißer, nicht die „Zahnfee“ gemacht, sondern die „Zahnschwuchtel“. Das würde heute wahrscheinlich, zum Glück, nicht mehr passieren. Der „Vorwurf“ homosexuell zu sein, ist dennoch ein großes Thema der Geschichte. Dolarhyde ist gekränkt, wenn er als schwul bezeichnet wird, so sehr, dass er einen Reporter tötet. Ein Polizeiarzt spricht von einer unterschwellig homosexuellen Konfliktsituation, also der Angst davor schwul zu sein. Nur deshalb habe Dolarhyde auch einem von ihm getöteten Mann danach die Unterhose wieder angezogen.

Diese Psychologisierung ist umso schauerlicher, da sie der Weltanschauung des zweiten Antagonisten, Hannibal Lecter, gegenübergestellt wird. Der lässt sich gerne als „Monster“ bezeichnen, weil er davon überzeugt ist, dass man als Monster geboren werden kann. „Wir schaffen uns unsere Persönlichkeit nicht“, sagt er zum Ermittler Will Graham. „Sie wird uns mit unserer Lunge, unserer Bauchspeicheldrüse und allem anderen bereits in die Wiege gelegt. Weshalb also dagegen ankämpfen?“ Damit verwirft Lecter mögliche Ursachen für Dolarhydes psychosexuelle Entwicklung, die Kastrationsangst, den Ödipuskomplex. Die „Zahnschwuchtel“ wäre so unter jeder Bedingung zur Bestie geworden. Er ist Vertreter einer Schicksalslehre, die allen FBI-Profilern Hohn spricht.

Hannibal Lecter beansprucht im „Red Dragon“ auch den schockierendsten Moment für sich. Es gelingt ihm, eine codierte Nachricht aus seiner Zelle an den Bewunderer Francis Dolarhyde zu übermitteln. Es ist ein Mordauftrag, um den gemeinsamen Gegner aus dem Weg zu schaffen, und dessen Familie gleich mit. Lecter muss nicht immer Reden schwingen, die Botschaft, in der er eine Geheimadresse verrät, lautet: „Graham Zuhause Marathon. Florida. Rette dich. Alle umbringen.“

03. Hannibal Rising (2003)

Der Legende nach hat Thomas Harris das finale Lecter-Buch nur geschrieben, weil Hollywood-Produzent Dino de Laurentiis Druck gemacht hatte. Ein Film über die Kindheit und Jugend des Kannibalen komme definitiv, es liege an Harris, ob er zuvor eine Romanvorlage schreiben wolle. Entstanden ist also quasi eine Selbstauftrags-Arbeit, dann Harris wollte sich natürlich nicht die Butter vorm Brot nehmen lassen. Hannibal gehörte ja ihm.

Für „Hannibal Rising“ erhielt er erstmals durchwachsene Kritiken. Es gab solche Leser, die die Anfangsgeschichte des genialen Kannibalen erfahren wollten, andere hätten es schöner gefunden, die Genese des Bösen wäre im Dunkeln geblieben. Dass Hannibal als Junge den Mord an seiner kleinen Schwester Mischa zu betrauern hatte, wurde bereits im Vorgänger-Roman „Hannibal“ angedeutet.

Natürlich ist die Romanze zwischen dem ergebenen Teenager Hannibal und der älteren, vornehmen Witwe seines Onkels, der Japanerin Lady Murasaki, der Stoff, aus dem die Seifenopern sind. Es ist eine unmögliche, eine unwahrscheinliche Liebe. Allein dieser Satz wäre jedem anderen Autoren seiner Größe um die Ohren gehauen worden: „Was ist noch übrig in dir, das ich lieben könnte?“. Das sagte die Lady verzweifelt und „lief aus der Kabine und die Kajütentreppe hinauf und hechtete in einem perfekten Kopfsprung über die Reling in den Kanal.“ Was für ein dramatischer Abgang! Bücher aber sollten Fernsehen inspirieren, nicht umgekehrt, hier aber gibt es tatsächlich Szenen, die wie aus einem Sonntagabend-Melodram übernommen zu sein scheinen. Vielleicht hatte Harris den Film schon im Kopf, verübeln konnte man es nicht, saß ihm doch der Hollywood-Produzent im Nacken.

Hannibal, der Rächer

Als sich Hannibal der neuen Ziehmutter erstmals nähert, sieht er es: „Die flüchtige Bewegung eines Vorhangs hinter jenem Fenster im Obergeschoss, der Glanz von Lady Murasakis Haar, dann ihre Silhouette.“ Vor Kitsch war Harris früher schon nicht gefeit, die Beziehung der blinden Reba zum „Monster“ Francis Dolarhyde im „Red Dragon“ war auch die des Paars größtmöglicher Gegensätzlichkeit.

„Hannibal Rising“ entwickelt sich gleichermaßen zu einem Kriminalroman: Können dem klugen Jungen diverse Morde nachgewiesen werden?, wie zu einem Rächer-Roman – er will Jahre später die Mörder seiner Familie aufspüren. Das ist bisweilen durchaus schematisch. Denn die Polizei muss, immer einen Schritt hinter Lecter hinterher, Indizien zusammentragen, die der Leser längst kennt. Und das Ende scheint auch klar. Natürlich wird Hannibal die Nazi-Kollaborateure kalt machen.

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Und dennoch: Thomas Harris ist eine berührende, verstörende, schockierende, epische Erzählung gelungen, und das im in der deutschen Übersetzung schmalen Umfang von 335 Seiten. „Hannibal Rising“ beginnt geradezu gigantisch. Es ist der erste Teil dieser Geschichte, in der Harris zu überragender Form aufläuft. Schicksalhafte Jahre einer Kindheit, verdichtet in präzisen Sätzen auf gerade mal 100 Seiten. Der Überlebenskampf der Lecter-Kinder im litauischen Winter des Zweiten Weltkriegs von 1941. Hannibal und Mischa verstecken sich in der Waldhütte der Eltern und werden dort von fünf Deserteuren entdeckt, denen bald die Vorräte ausgehen. Diese fünf sind Menschen, die Kadaver von den Ketten ihres Panzers abkratzen um sie dann zu essen. So weit hat sie der Hunger getrieben. Es wird dann die kleine Mischa sein, die sie verzehren, bevor sie sich Hannibal widmen wollen.

Der Tod der Schwester, die Hilflosigkeit des Jungen gegenüber den Erwachsenen, das wird Hannibal Lecter umtreiben. Der voran gegangene Mord an den Eltern – sie werden von einer Fliegerbombe getroffen – zeigt noch, wie kontrolliert das Kind ist, wie es sich augenblicklich auf neue Lebensumstände einrichten kann. Die Zeit schreitet voran, alles macht weiter, was Harris zu einem seiner schönsten Sätze inspirierte. Hannibal nähert sich der Leiche seiner Mutter: „Er holte eine Serviette aus dem Haus und legte sie auf ihr Gesicht. Nach und nach begann sich Schnee darauf zu häufen.“

Die NS-Verbrecher im Blick

Panzer, Maschinengewehre, Stukas, Wehrmacht, Winter, Nazis, Nazi-Kollaborateure, nach Ende des Zweiten Weltkriegs dann von Frankreich aus die Suche nach den gestohlenen Kunstschätzen der Lecter-Familie, die die fünf Deserteure und Mörder reich gemacht haben – das ist ein klasse Stoff für einen Pulp-Thriller. Selbst von Frankreich aus behält Lecter die NS-Verbrecher im Blick, die es eben nicht nur im Deutschen Reich gab oder an der Ostfront, sondern auch im Westen. Einen Pariser Inspektor konfrontiert er damit, den Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, nicht gestoppt zu haben.

Wer hätte nach dem „Roten Drachen“ von 1981 gedacht, welch aufregende Biografie dieser Psychiater gehabt hat? Ärzte, Erzieher und Kommissare arbeiten sich an der Psyche des Jugendlichen ab, und sie stoßen doch nie zu seinem Innersten hervor. Die meisten ziehen immerhin die richtige Verbindung zwischen der Hilflosigkeit beim Mord an seiner Schwester und der zunehmenden Gefühlskälte mit fortschreitendem Alter. Hannibal wird fortan, wie schon in den drei voran gegangenen Hannibal-Romanen, als „Monster“ bezeichnet.

Er selbst betet später an der Stelle, wo Mischa ihr Leben ließ, und findet Trost in seinem Atheismus, dem Wissen, dass es keinen Gott und keinen Himmel gibt, dem sie sich andienen müsse. Er sagt ins Grab, dass sie ihm jeden Tag fehle. Etwas Intimeres würde Hannibal nie mehr sagen.

Am Ende, er wurde von Lady Murasaki verlassen, begibt er sich in die Einsamkeit, und er ist glücklich damit. „Hannibal war in den langen Winter seines Herzens eingetreten.“

02. The Silence of the Lambs (1988, deutsch: „Das Schweigen der Lämmer“)

Bücher sind meist besser als ihre Verfilmungen, vielleicht gilt das selbst für die Kinofassung von „Das Schweigen der Lämmer“, die 1992 zu Recht, aber überraschend mit den fünf wichtigsten Oscars (Bester Film, Beste Regie, Bestes Drehbuch, Beste Hauptdarstellerin, Bester Hauptdarsteller) ausgezeichnet wurde.

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Regisseur Jonathan Demme und Schauspieler Anthony Hopkins hatten die Figur des Hannibal Lecter verstanden, wie sie vielleicht kein Leser im Kopfkino sehen konnte: Der Serienmörder war nicht klassisch schön, er trug auch keine Brille. Er war besonnen, er war im erotischen Alter eines Fünfzigjährigen, der gerade noch kein Fett ansetzte. Vor allem war er undurchdringlich. Wenn er lächelte, bog sich die Lippenschnur nur leicht. Dass er im Kino wie Anthony Hopkins aussehen konnte, der kein A-Star war damals, das aber hätte keiner gedacht.

Er war auch kein kleiner Kasper, der vor allen Streiche spielen wollte, wie Brian Cox in der Rolle des Lecter aus Michael Manns „Roter Drache“-Verfilmung von 1986. Aus ihrer Figur der Clarice Starling machte Jodie Foster wiederum eine FBI-Schülerin, die nicht ganz so sehr Büffelnde im Wohnheim war, wie die aus Harris’ Roman („Mr. Crawford, bitte schicken sie mich nicht in die Schule zurück“). Auch sie hatte viele Fragezeichen im Gesicht, war aber patenter als alle anderen Cops.

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„Das Schweigen der Lämmer“ ist also nicht besser, aber heute berühmter als seine literarische Vorlage. Und doch ist Thomas Harris’ Erzählung, die vor 31 Jahren erschien, eine unabdingbare Lektüre. Lecter ist darin, viel konkreter als auf der Leinwand, ein Vater. Starling eine Tochter. Erst im Roman verstehen wir auch die Abscheulichkeit des Gefängnisleiters Dr. Chilton, verstehen wir die Melancholie des Beamten und baldigen Witwers Jack Crawfords, für die in 138 Filmminuten weniger Raum war. Schade nur, dass der flüchtende Chilton im Nachfolger „Hannibal“ erfolgreich im Verborgenen bleiben darf, und an dessen Stelle des Scheusals der FBI-Mann Krendler trat. So mies war Krendler in den „Lämmern“ noch gar nicht.

Und der Käfig, der Kubus aus Stahl, in dem Lecter in der Mitte eines Raumes gefangen gehalten wird, jener wie ein Altar herausgeputzter, perfekt ausgeleuchtete Käfig, danach aus unzähligen Serienmörder-Filmen (oder im Bond-Vehikel „Skyfall“) bekannt – von dem gab es auch in diesem Werk zum ersten Mal zu lesen. Das Gehege wurde zum Prototypen für Film-Räume, die klar machen sollten, dass ihr darin Gefangener der gefährlichste Bösewicht der Welt ist.

Rache für den Vater

„Clarice schläft tief, im Schweigen der Lämmer“, heißt es am Ende. Jame Gumb alias Buffalo Bill ist tot, sie hat ihn gekriegt, Hannibal Lecter lieferte den entscheidenden Hinweis. Mit dem abgeschlossenen Fall hat die FBI-Agentin, scheint es zunächst, ihr Kindheitstrauma abgelegt. Damals wurde ihr Vater, ein Wachmann, der es nicht zum Cop geschafft hatte, von Junkies auf seiner Patrouille erschossen. Er zog nicht schnell genug, die Waffe hatte sich verheddert. Ein trauriger Tod. Nach Ansicht Hannibals ein peinlicher Tod.

Als Starling Jahre später Buffalo Bill erledigte, steckte dahinter der Wunsch, ihr Vater hätte das getan.

Roman und Film betreiben eine oberflächliche Psychoanalyse (Psychoanalyse ist eine „tote Religion“, findet Lecter). Wahrscheinlich ist das auch richtig, denn Ursachenforschung zerstört den Zauber des Bösen. Wenn „Hannibal“ die italienische Abenteurer-Geschichte ist und „Hannibal Rising“ das Pulp-Drama mit den SS-Kollaborateuren, ist dieses Buch ein Kammerspiel. Es sind die Recherchen, die die Ermittler auf die Spur führen, die vielen Gespräche. Das „Schweigen“ behandelt das „wie kommen wir zur Lösung?“ – die zwei Folgeromane, „Hannibal“ und „Hannibal Rising“, ein „Wie kommen wir aus dem Schlamassel raus?“

Hannibal Lecter liebt Clarice

„Das Schweigen der Lämmer“ liefert auch eine Notiz, die mit Blick auf Roman und Film oft in den Hintergrund gerät: Dass schon der Titel die Suche nach Frieden in den Mittelpunkt rückt, von der Stille keine Bedrohung mehr ausgeht. Denn das Schweigen der Tiere auf der Farm Clarice‘ Vaters ist nicht auf deren Schlaf zurückzuführen, sondern auf ihre Schlachtung. Der Titel beschreibt eine Ruhe, der Tötung voranging.

Die Liebesgeschichte, die im nächsten Harris-Roman, „Hannibal“ elf Jahre später, ihren Anfang nimmt, wird hier schon angedeutet. Nach seiner Flucht teilt er Starling den Aufenthaltsort nicht mit, er schreibt nur: „Einige unserer Sterne sind dieselben.“ Starling wehrt sich noch, denkt, ihr Überleben hängt mit der Tatsache zusammen, dass Hannibal sie noch nicht langweilig genug fände.

Sie weiß nicht, was Hannibal für sie empfindet, weil er sie, den „Bauerntrampel“ zunächst verletzen will. „Quid Pro Quo“, die berühmte Dialogzeile aus dem Film, die im Roman nicht existiert: Ich sage Dir etwas über mich, Du dafür etwas über Dich. Aber die letzten Worte vor dem Nimmerwiedersehen, die die zwei aneinander richten, Lecter sitzt da noch in seiner Zelle, sind: „Danke, Clarice“ – „Danke, Dr. Lecter“. Harris hätte den Welterfolg dieser Beziehung im Entstehungsjahr des Romans 1988 sicher nicht absehen können – und dass Agentin und Killer sich für den Fortsetzungsroman „Hannibal“ noch einmal sehen werden.

Für Clarice sind psychologische Unterteilungen von Menschen fundamental

Wie Thomas Harris, 78, zur Psychiatrie steht, ist wenig erforscht. Seit Jahrzehnten hat er kein Interview mehr gegeben. Vielleicht spricht Dr. Lecter aus ihm, wenn der seine Abneigung gegenüber jeglicher Forschung zum Ausdruck bringt. Im Roman wird das noch deutlicher als im Film. Lecter ist ein Mann, für den die individuelle Bewertung zählt, so viel steht fest, vor allem, wenn er selbst untersucht werden soll: Wer ihn zur reinen Messdatum machen will, bekommt ein Problem. Qualitative Analyse ja, quantitative nein.

Daraus entstand, in abgewandelter Form, eines der berühmtesten Zitate des Kinos: „Einmal hat mich ein Volkszähler zu quantifizieren versucht. Ich habe seine Leber mit Faba-Bohnen und einem großen Amarone verspeist. Gehen sie zurück in die Schule, kleine Starling.“ Für Clarice sind psychologische Unterteilungen von Menschen fundamental, für ihn natürlich simplifizierend.

Lecter hasst den Behaviorimus, die Grundannahme, dass Verhalten erlernt ist. Er glaubt an das gegeben Gute und an das gegeben Böse. Wer den jungen Hannibal Lecter aus Harris’ letztem Buch „Hannibal Rising“ kennenlernt, kann dessen Glauben an Determinismus kaum nachvollziehen. Es sind seine furchtbaren Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, die ihn prägen, das steht außer Frage. Thomas Harris hat hier entweder die Geschichte des späteren Kannibalen umgeschrieben – oder die Figur seines mörderischen Psychiaters verdrängt hier etwas. Was die Kriegswaise aber auf jeden Fall früh lernte: Es gibt keinen Gott. Als Erwachsener sammelt Lecter Berichte über Kircheneinstürze, bei denen die Gläubigen unter Schutt begraben werden. Für ihn die perfekte Ironie.

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Harris verführte seine Leser wie wenige Autoren vor ihm, er schaffte Sympathien für eine Bestie, weil die Bestie half eine anderer Bestie zu erledigen. Lecter unterstützt Starling. Aber unser Mitgefühl für Hannibal Lecter hing auch mit dessen unfassbarer Intelligenz zusammen. Man ertappt sich beim unangenehmen Gedanken, wie schade es doch ist, dass ein Genie weggesperrt wird (auch, wenn es in der Geschlossenen gelegentlich noch den einen oder anderen wissenschaftlichen Artikel verfassen darf).

Penis eingeklemmt

Harris’ Serienkiller sind oft Menschen mit einer von der Mehrheit abweichenden Sexualität. Zu Recht wurde er für seine gelegentlich sensationsheischenden Darstellungen kritisiert (manchmal baut auch der deutsche Verlag Mist, in „Red Dragon“ wurde aus dem Mörder-Spitznamen „Tooth Fairy“ die „Zahnschwuchtel“). Im „Schweigen der Lämmer“ ist Jame Gumb ein Mann, der sich eine Geschlechtsumwandlung wünscht. Er tötet Frauen und häutet sie, weil ihm die Operation verweigert wurde.

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Aus Jonathan Demmes Verfilmung ist vor allem die Szene im Gedächtnis geblieben, in der Gumb (Ted Levine) sich vor dem Spiegel aufbaut, seinen Penis zwischen den zusammengepressten Beinen versteckt, so tut, als sehe man nur eine Vulva, und zu den Klängen von „Goodbye, Horses“ tanzt („Clerks 2“ zeigt später eine Parodie davon, und den verstörenden Effekt, einen harmlosen Popsong mit Gewalt zu kontrastieren, haben später Tarantino und David Fincher genutzt).

Harris gibt sich Mühe, Transsexuelle nicht zu stigmatisieren. Am Ende lässt er Ärzte vernünftig sprechen, wissenschaftliche Fachzeitschriften berichten über Gumb, und in keinem Fach-Artikel tauchten Wörter wie „verrückt“ oder „böse“ auf. Ein Mediziner bespricht mit Starling Einwände, Gumbs gestörte Psyche überhaupt mit Transsexualität in Verbindung zu bringen.. Etwas steif, fast zum Mitschreiben, formuliert er Forschungsergebnisse: „Dies sind anständige Menschen mit einem echten Problem. Ein Zusammenhang zwischen Transsexualität und Gewalttätigkeit ist mir bisher noch nie untergekommen.“

Das Haus als Struktur der Psyche

Jame Gumb bleibt etwas im Verborgenen, im Roman wie im Film, Harris und Regisseur Demme wussten, dass die Figur des Hannibal Lecter das größere Spektakel bietet. Die letzten Worte des sterbenden Gumb sind so faszinierend wie unangenehm, er flüstert Starling zu, „Was ist es für ein Gefühl so schön zu sein?“

Gumb hat sich in einem dunklen, Labyrinth-artigen Haus eingerichtet, in dem er seine Opfer stundenlang jagen kann. Das Anwesen ist, ähnlich wie in Hitchcocks „Psycho“, wie ein Gebilde von Freud eingerichtet. Es gibt das obere Stockwerk („Über-Ich“, die Mutter), das Erdgeschoss („Ich“) und den Keller, wo buchstäblich die Leichen liegen (das „Unbewusste“). Mit jedem Mord wächst sein Selbstvertrauen. Seine Bedürfnisse will er irgendwann nicht mehr in den entlegenen Bereichen seines Kellers befriedigen.

Der Doktor will zu seinem Sehnsuchtsort

In der heutigen Zeit des Deep Web bzw. Dark Net gibt es Foren für jede Art kriminellen Tuns, aber 1988 waren Geheimbünde wahrscheinlich schwieriger zu organisieren. Es ist eine Kunst, wie Thomas Harris, quasi beiläufig, von den Gleichgesinnten Gumbs berichtet, die seine Hautkostüme bewundern: „Er weiß von Orten, Kreisen, wo seine Bemühungen sehr bewundert würden – es gibt gewisse Jachten, auf denen er sich herausputzen könnte.“

Als Vorbild für Hannibal Lecter, schrieb Harris in einem Vorwort zur Neuauflage von „Das Schweigen der Lämmer“ 2013, seiner ersten schriftlichen Notiz zum eigenen Werk seit vielen Jahren, diente ein in Mexiko inhaftierter Arzt Namens Dr. Salazar. Harris lernte ihn im Gefängnis während seiner Arbeit als Gerichtsreporter kennen. Zu Salazar notierte er eine poetische Beobachtung, die auch in die Beschreibung Lecter einfloss, seine „Augen sind kastanienbraun, und sie reflektieren da Licht in Nadelspitzen aus Rot. Manchmal scheinen die Lichtpunkte wie Funken in sein Innerstes zu fliegen.“

Es ist unklar, wie weit Thomas Harris mit seinem Hannibal planen wollte, aber das Ziel seiner Flucht wird vielleicht schon sehr früh im Roman verraten, im ersten Kapitel. Der Doktor will zu seinem Sehnsuchtsort.

In seiner Zelle blätterte er in der „Vogue“, der italienischen Ausgabe.

01. Hannibal (1999)

Ist Ridley Scott ein guter Regisseur? Finden nicht alle, der Autor dieser Zeilen eingeschlossen. Aber in seiner filmischen Umsetzung von „Hannibal“ hat Scott zweifelsohne vieles richtig gemacht. Er hat Harris‘ Humor verstanden. Beim Namen Hannibal denkt doch heute keiner mehr an den Feldherrn, sondern an den Kannibalen. Dieser Hannibal ist ein Popstar geworden. Ein Jet-Setter. Ein Abenteurer, ein Held. „Das Schweigen der Lämmer“ war groß, die Verfilmung vielleicht noch größer – Scott und sein Hauptdarsteller Anthony Hopkins haben erkannt, dass sie den Thrill der „Lämmer“ nur übertreffen können, wenn sie Lecter larger than life machen.

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Und das ist ihnen gelungen. Wie ein James Bond, wie ein Indiana Jones reist Hannibal durch die Welt, quer durch Amerika, und anfangs in Italien. Er kennt keine Eile. Von New York aus schickt er Ausstellungs-Kataloge an seinen Cousin in Frankreich, den „berühmten Maler Balthus“, und mit dieser Nebensächlichkeit in Harris‘ Erzählung wird uns überhaupt erst gewahr, dass es noch weitere Lecters auf dieser Welt gibt. Furchterregend.

Maske eines Monsters

Doch Hannibal reist nicht wirklich, erstmals wird er gejagt, auch wenn das keinen Einfluss auf sein Tempo hat. Der Multimillionär Mason Verger, sein ehemaliger Patient, will ihn schnappen. Der Doktor hatte ihn im Drogenrausch dazu gebracht, sich zu verstümmeln und seine Haut den Hunden zum Fraß vorzuwerfen. Jetzt ist er ans Bett gefesselt und erschrickt jeden, der ihn zum ersten Mal sieht, zu Tode.

Im „Hannibal“-Film verkörperte Gary Oldman den perversen Tyrannen Verger. Er lässt sich Kindertränen in seinen Martini mixen, die Kinder weinen ja, zuvor wurde den in seine Obhut gebrachten Kleinen erklärt, sie sähen ihre Eltern nicht wieder. Auch Oldman bewies Sinn fürs Absurde. Er, der in den Neunzigern gemeinsam mit Dennis Hopper das Feld des Overacting souverän besetzte, verschwand komplett hinter der Maske eines Monsters.

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Der erste Teil des Romans, Lecters geheimer Aufenthalt in Florenz, Starlings Degradierung nach einem verpatzen Einsatz sowie die Planungen des Häschers Verger, zählen sicher zum Atemberaubendsten, was Harris bislang zur Papier gebracht hat. Hannibal, einer der meistgesuchten Verbrecher der Welt, befindet sich natürlich am Ziel seiner Träume, in der italienischen Kunstmetropole. Er tarnt sich als „Doktor Fell“, Kurator der Capponi-Bibliothek, der erste Ausländer, der den Job über – mörderische – Umwege bekommen hat, und nebenbei ein herausragender Pianist, dessen Töne nachts durch den Wohnpalast in die Nacht schallen, über die leeren Kopfsteinpflaster hinweg. „Hier hat er seinen Frieden gefunden, den er sich bewahren will“, beginnt einer der so vielen grandiosen Beschreibungen. „Er hat während seines Aufenthalts in Florenz kaum jemanden getötet, sieht man einmal von seinem Vorgänger ab.“

Alle seine Jäger scheitern an ihm

Harris gibt sich keine Mühe, seinen Stolz auf einen der berühmtesten Bösewichte der Popkultur zu verbergen. Hannibal, der Superheld: „Sein Ego, ebenso wie sein Intelligenzquotient und der Grad seines Denkvermögens entziehen sich herkömmlichen Bewertungskriterien. Innerhalb der Analytikerzunft herrscht nicht einmal darüber Übereinstimmung, ob Dr. Lecter überhaupt als Mensch zu bezeichnen ist.“

Man kann sich leicht vorstellen, wie viel Spaß Thomas Harris bei seinen Recherchen in Florenz gehabt haben muss, wie er, aus schamlos touristischer Perspektive, in jeder verwinkelten Gasse einen romantischen Mord vermutete. Wir wissen augenblicklich, wer „Dr. Fell“ ist, erkennen Lecters Gang, seine Größe, seine Art zu sprechen, doch Harris gönnt sich den Luxus, ihn als „Dr. Lecter“ erstmals auf Seite 157 (deutsche Übersetzung) vorzustellen.

Hannibal spielt mit uns. Alle seine Jäger scheitern an ihm, Kleinkriminelle, und zum obersten Kleinkriminellen wird ausgerechnet ein Florentiner Kommissar selbst, der dreckigste Methoden anwendet, und den Harris mit jener – verhängnisvollen – Motivation ausstattet, die so viele seiner Figuren prägt: der Wunsch, der Beste seines Stammbaums zu werden, eine Familienschuld zu tilgen, die Unvermeidbarkeit einer bestimmten biografischen Entwicklung entgegenzuwirken.

Opfer für Scheitan

Inspektor Pazzi also identifiziert Dr. Fell als Dr. Lecter, aber er kommt nicht an ihn heran. Harris bedient sich auf wunderbare Weise jenen mit Italien verbundenen Klischees um Mafia und Katholizismus. Pazzi wird verflucht, weil er den Tod eines Diebes verschuldet, den er auf Lecter angesetzt hat. Die Zigeunerin Esmeralda weiß von dieser Schuld. „Mit Augen so schwarz wie Kalamata-Oliven schaute sie ihm tief in die Augen. ‚Du hast Gnocco Scheitan geopfert‘, sagte sie ruhig. ‚Gnocco ist tot‘. Esmeralda beugte such ungelenk nach vorn, als beugte sie sich über ein Huhn auf dem Hackbrett, und spuckte voller Inbrunst auf Pazzis Schatten.“ Ein Satz scheinbar wie aus einem Dreigroschen-Roman, einer Räubergeschichte wie von Karl May und auf dem falschen Kontinent, und doch irgendwie einer der vielen unsterblichen Beschreibungen in diesem großen Märchen.

Doch geht es nicht wirklich um Pazzi. Wer beherrscht hier eigentlich wen, Hannibal Clarice oder Clarice Hannibal? Harris lässt uns selbst laut denken, wenn er den wohl lustigsten Satz dem wütenden und ungeduldigen Mason Verger in den Mund legt. Der Lecter-Jäger will Ergebnisse sehen und berät sich mit seinem Profiler: „Dr. Doemling, will er mit ihr vögeln oder sie töten, oder will er sie fressen oder was?“ Alles drin, was die Beziehung zwischen Killer und Agentin ausmacht.

Es ist aber etwas komplizierter als das, es gibt keine einfachen Antworten. Hannibal hofft in der FBI-Agentin seine im Kindesalter verstorbene Schwester Mischa wiederzufinden. Das Mädchen wurde im russischen Winter des Zweiten Weltkriegs von verhungernden Nazi-Kollaborateuren aufgegessen, der junge Lecter konnte ihr nicht helfen.

Mischa“ ist auch sein einziges Wort, als ihn der Narkosepfeil von Vergers Häschern trifft

Mischa, eine Hauptfigur im späteren Roman „Hannibal Rising“, kommt hier erstmals vor (was dem Gerücht widersprechen würde, Kino-Produzent Dino de Laurentiis hätte Harris indirekt zu einer Fortsetzung gezwungen, vielmehr schien Hannibals Lebensgeschichte schon ausgelegt). Es sind die Momente der Gedanken an die Schwester, die Hannibal menschlicher machen. Er wacht, eine seltene Darstellung seiner Gefühle, nachts schreiend aus dem Schlaf auf, und „Mischa“ ist auch sein einziges Wort, als ihn der Narkosepfeil von Vergers Häschern trifft.

Wie realistisch ist es, dass der große Analytiker Hannibal Lecter aufgrund eines Kindheitstraumas versucht, die Vergangenheit ungeschehen zu machen, indem er aus Clarice Starling Mischa macht? Man muss sich auf solche Fantastereien einlassen können. Clarice weiß, dass er sie vielleicht nur am Leben lassen wird, solange er dieser Illusion hinterher hängt, und sie nutzt ihre Chance, ausgerechnet, indem sie einen angeblichen Ödipuskomplex anspricht: „Haben Sie jemals das Gefühl gehabt, dass Sie die Brust ihrer Schwester überlassen mussten? Diese hier brauchen Sie nicht aufzugeben“, und zieht sich dann aus. Starling hat sich zwei Vorteile gegenüber dem Biest herausgearbeitet. Unvorhersagbarkeit und Selbstständigkeit.

Gerüchten zufolge wollte Jodie Foster, die Starling in „Das Schweigen der Lämmer“ verkörperte und dafür einen Oscar bekam, aufgrund brutaler Gewaltszenen nicht in „Hannibal“ mitspielen. Aber es dürften auch diese Implikationen verbotener Sexualität gewesen sein, die unbehaglich waren.

Zeit zurückdrehen

Es ist ein Zeichen Hannibals großer Schwäche, aber auch ein Motor seines Lebens: der Wunsch, die Schwester zurück ins Leben zu rufen. Er studiert die String-Theorie und die Quantenphysik, will die Umkehr des Zeitpfeils, zurück zur Klärgrube in Litauen, wo die ausgeschissenen Milchzähne des Mädchens Mischa liegen. Vielleicht muss man Theoretischer Physiker sein, um Sinn oder Unsinn von Lecters Gedanken zu verstehen, aber vertrauen wir mal den Recherchen Harris‘, dass zumindest die Theorien nur etwas mehr sind als Fantasie.

Lecter möchte an Stephen Hawkings Idee glauben, dass das Universum aufhören könnte sich auszudehnen und sich stattdessen zurückentwickelt, dass Hannibal seine Mischa also wieder in die Arme schließen kann, weil die Vergangenheit zurückkehrt. Lecter demonstriert das an der am Boden zerschellenden Tasse. Eben noch heil, dann in etliche Stücke zersprungen – die „Zunahme von Unordnung oder Entropie ist das, was die Vergangenheit von der Zukunft unterscheidet, indem sie der Zeit eine Richtung gibt.“

Aber es sind nicht nur Hannibal und Clarice, denen Thomas Harris in seinem – chronologisch betrachtet – letzten Lecter-Roman einen gebührenden Abschied schenkt. Der Mentor der FBI-Agentin, Jack Crawford, ist gemeinsam mit dem Kannibalen die dienstälteste Figur im Kosmos des Schriftstellers, von Hannibal verhöhnt, von Clarice oft bedauert, und wie Lecter seit dem „Roten Drachen“ dabei. Crawford ist ein nachdenklicher Bürokrat, stellt sein Licht unter den Scheffel, Starling muss es daher für uns alle noch einmal verbalisieren: Crawford hat die legendäre FBI-Abteilung für Verhaltensforschung (gehuldigt aktuell in der David-Fincher-Serie „Mindhunters“) aufgebaut.

Was wurde Ende der Neunziger im Feuilleton, sogar von Harald Schmidt, über diese Konstruktion diskutiert!

Crawford ist nur ein Besucher in dieser Horror-Welt voller Kannibalen, Haut-Überstülper und Schlächter, er lebt nicht in ihr. Er ist der Mann, der am Abend nach Hause geht. Am Schluss ist Crawford Witwer geworden. Als er sein eigenes Ende kommen sieht, den nächsten Herzinfarkt, trifft er die berührende Entscheidung. „Statt einen Krankenwagen zu rufen und alles noch einmal durchzumachen, suchte er einen Trost darin, dass er sich auf die Seite des Bettes rollte, wo früher seine Frau gelegen hatte.“

… und Hannibal Lecter bleibt nicht zu fassen. Warum hat es keiner geschafft ihn zu besiegen? „Indianer kennen keinen Schmerz“, heißt das Sprichwort, aber manchmal tut es auch der Gedanke an den Gedächtnispalast, der alles ausblendet. Was wurde Ende der Neunziger im Feuilleton, sogar von Harald Schmidt, über diese Konstruktion diskutiert!

Auf den Gedächtnispalast, einer Mnemotechnik, greift Lecter nicht nur zurück, um sein gigantisches Wissen jederzeit abzurufen (bei ihm ist das Gedankengebäude so groß wie der Topkapi-Palast), er hilft ihm auch, Schmerzen zu unterbinden. Unter härtester Folter kühlt er sich die Stirn am imaginierten, kühlen Stein einer Statue im Palast. Sein Geist besiegt den Körper.

Heyne
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