Flamin‘ Groovies – At Full Speed-The Complete Sire Recordings
Bevor er die Searchers unter Vertrag nahm, hatte Impresario Seymour Stein schon einer anderen auf Kult-Status zurückgebliebenen Band eine neue Chance gegeben. Ursprünglich eine Garagenrock-Truppe, hatten sie zunächst die EP „Supersnazz“ und dann für ihr neues Label (KamaSutra) 1970 eine LP aufgenommen, die ihnen unter Kennern einen Ruf wie Donnerhall einbrachte. Obwohl erklärtermaßen fanatische Rolling Stones-Bewunderer, nahmen sie für „Flamingo“ als einzige Cover-Version die von einem Little-Richard-Song auf. Und für das folgende „Teenage Head“ als erste von zwei „Have You Seen My Baby“ von Randy Newman. Die andere war Robert Johnsons „32-2o“-Blues. Der Legende zufolge soll Mick Jagger behauptet haben, das sei ein besseres Album als das 1971 parallel veröffentlichte „Sticky Fingers“. Was gar nicht mal so abwegig gewesen wäre, hätten es damals auch jene Studio-Outtakes auf das Album geschafft, die erst 1999 auf der sensationell klingenden Remaster-Edition von „Teenage Head“ auftauchten. Unter denselben neben „Shakin’All Over“, „That’ll Be The Day“ und „Louie Lome“ auch ihr Rolling Stones-Tribute mit drei prima Aufnahmen von „Walkin‘ The Dog“, „Carol“ und Slim Harpos „Scratch My Back“. „Brown Sugar“ schaffte es in demselben Jahr an die Spitze der Hitparade, Dave Edmunds‘ „Hear You Knocking“ in England auch und in Amerika fast, die Flamin‘ Groovies kamen dagegen nicht mal unter die Top 200 der LP-Bestseller.
Weil United Artists-Boss Andrew Lauder ein großer Fan der Band war, finanzierte er zwei Sessions, für die sie um einen anderen ihrer Helden als Produzenten nicht lange betteln mussten. Das war besagter Dave Edmunds, der die Songs in demselben Sound wie sein Rockpile-Debüt produzierte. Nur war Lauder nicht so weitsichtig, dass er das Potenzial von „Shake Some Action“ erkannt und die Aufnahme auf einer der beiden Singles gebracht hätte. Also nahmen sie den vier Jahre später, derselbe Dave Edmunds am Mischpult, aber jetzt Seymour Stein der Chef, noch einmal auf. A-Seite der letzten Single war „You Tore Me Down“ gewesen, das so wunderbar klang, als hätten sich Lennon/McCartney 1964 mit Gene Clark darauf verständigt, gemeinsam einen Beatles-Klassiker zu schreiben.
Mehr davon fand man auf dem „Shake Same Action“-Comeback, nur dass „Yes It’s True“ oder „Please Please Girl“, „I’ll Cry Alone“ oder „I Saw Her“ natürlich unvermeidlich auch mit den Beatles von „Rubber Soul“ im Hinterkopf komponiert worden waren, „Teenage Confidential“ wie eine Hommage an die Byrds der Gene-Clark-Anfänge daherkam. Und „I Can’t Hide“ überhaupt bis heute eine der größten Verneigungen vor den Byrds geblieben ist. Kurios allerdings, wie zahm für Groovies-Verhältnisse hier die Cover-Versionen von McCartneys „Misery“ oder „She Said Yeah“ im Vergleich klangen. Ganz so entfesselt wie die Stones bei ihrer Aufnahme spielten sie das nicht. Dafür musizierten sie den Lovin‘ Spoonful-Song „Let The Boy Rock’n’Roll“ so richtig aus dem Geiste von Chuck Berry.
Was sie im Jahr des vorübergehend gewaltigen Umbruchs anno 1976 nicht abschätzen konnten: Mit dieser Hommage an ihre Idole der 60er Jahre setzten sie sich praktisch zwischen alle Stühle. Als sie im Frühsommer des Jahres zurück nach England und Frankreich auf Tournee kamen, maulten viele ihrer Fans, die zum einen mehr Songs von der Groovies-Originalität der Jahre 1970/71, andererseits aber auch wieder reichlich Cover-Versionen von Rolling Stones-Vorlagen erwarteten. Noch verheerender war der Umstand, dass die LP auf demselben Sire-Label in demselben Monat erschien wie das Debüt der Ramones. Das, erzählt Manager Greg Shaw in den Liner Notes, machte sie zu einem völligen Anachronismus. Als am 4. Juli 1976 die Ramones das Vorprogramm der Flamin‘ Groovies im Roundhouse bestritten, waren sie die Sensation, in der Presse natürlich „the next big thing“ usw. Was immer Dave Edmunds bei der Produktion zu „The Flamin‘ Groovies Now!“ anstellte, war nicht erfolgreich in dem Bemühen, ihnen ein ähnlich zeitgenössisches Image zu verpassen, wie er das selber bei seinen Solo-Platten oder mit Rockpile unbezweifelt bis in die 80er Jahre besaß. Klar, dass auch das Talking Heads-Debüt auf Sire endlos mehr Aufmerksamkeit und Lob generierte, als das den Groovies möglich war.
Es sollte viele Jahre dauern, bis diese Platten wiederentdeckt und rehabilitiert wurden. Bei allem Klassizismus enthalten die letzten beiden Sire-LPs so viele hervorragende Aufnahmen, dass sie in der hier vorgelegten Komplett-Retrospektive der Sire-Ära schon längst wieder – am Stück gehört – einiges mehr Hörvergnügen bereiten als eine ähnliche, doch etwas (vornehm ausgedrückt) monochromere der Ramones.