Gazellenblut/Der kretische Gast/Ghost of Chance
„Gazellenblut“ (Maro, 14,90 Euro) von Claudia Gohmert ist mal Berlin-Literatur, die man lesen kann, weil sie nicht direkt aus der „neuen Mitte“ kommt, sondern von dort, wo man eigentlich nicht wohnt. Neukölln zum Beispiel. Es ist das sozial randständige, das unhippe, dreckige, nasskalte und trostlose Berlin, das sich in den meisten dieser elf Short Stories materialisiert. Gohmerts Anti-Helden können diese graue Urbanität nur noch illusionslos zur Kenntnis nehmen. Sie sind einsame, zumeist beziehungsgestörte oder doch in einer mit den Jahren ausgelaugten Partnerschaft steckende Plebejer mit der großen Sehnsucht in der Brust, die auf ewig dort darin verschlossen bleibt, weil sie keiner hören will oder sie nicht in der Lage sind, dergleichen zu artikulieren. Und Gohmerts glanzlose, oft elliptische, krumme, beinahe schon gesprochene Sprache passt gut zu diesen desparaten Charakteren, verleiht diesen kleinen kaputten Geschichten eine Tiefenschärfe, die sie so authentisch macht wie eine Sozialreportage und trotzdem artifiziell.
Am besten, vielleicht auch nur lesbarsten sind die Erzählungen, in denen diese irdischen Höllen nicht überfrieren vor lauter Tristesse, in denen noch ein Funke glimmt, etwas menschliche Restempathie die Seelen der Menschen wärmt. „Else“ etwa, in der die Frustration der Protagonistin beim Frühstück mit ihrem Mann Franz zunächst anzuwachsen und zu einer Entscheidung zu drängen scheint, sich dann aber doch auflöst in eine melancholische Geborgenheit. Die wird vielleicht nur von gemeinsamen schönen Erinnerungen genährt. Aber wenn Gohmerts Figuren schon mal so etwas wie Geborgenheit fühlen, dann fragen sie nicht noch nach Ursachen, dann kosten sie dieses seltene Glück einfach aus. Auf der vorletzten Seite zitiert die Autorin den alten Vers von Crosby, Stills, Nash and Young, der sich auch gut als Motto des Buches gemacht hätte: „If you can’t be with the one you love, love the one you’re with“. 3,5
„Der kretische Gast“ (Eichborn, 24,90 Euro) von Klaus Modick riecht ein bisschen nach Kolportage, und entsprechend spannend ist der Roman denn auch. Johann Martens, ein promovierter Archäologe, wird im Zweiten Weltkrieg nach Kreta entsandt, wird trotz des Terrors der deutschen Besatzungsmacht als Gast aufgenommen und freundet sich an mit den Einheimischen, die sich in kleinen Guerilla-Aktionen gegen die Fremdherrschaft zu Wehr setzen, die dann wiederum von der Wehrmacht brutal bestraft werden. Martens wird von seinem Vorgesetzten Leutnant Hollbach gezwungen, als Dolmetscher an einer solchen „Sühnemaßnahme“ teilzunehmen, fotografiert verbotenerweise die Exekutionen, ist schockiert und schließt sich daraufhin dem Andartiko an, den Insel-Partisanen. Aus dem Mitläufer und inneren Emigranten wird der Kämpfer für die kretische Sache. Nicht ganz unschuldig daran ist Eleni, die er dann heiratet, mit der er ein Kind hat: Sophia. Das Glück währt nicht lange, am Ende des Krieges, als die Engländer schon längst gemeinsame Sache machen mit den Deutschen, im Kampf gegen kommunistische Umtriebe, wird Martens von Hollbach erschossen, weil der die Fotos fürchtet. Die sind gut versteckt und warten nur darauf, entdeckt zu werden. Und zwar von Holbachs Sohn Lukas. Den zieht es 30 Jahre später nach Kreta, weil er etwas ahnt. Und mit ein bisschen detektivischem Spürsinn, einigen Zufällen und der vom Autor immer wieder aufgerufenen Macht des Schicksals findet er die Fotos und zuvor Sophia, Martens Tochter. Sie verlieben sich, und so wird aus Lukas noch so ein kretischer Gast, der sich der Freundschaft der Insulaner als würdig erweist. Und mit ihrer Liebe versöhnen sie zugleich die blutige Familien- und stellvertretend vielleicht sogar Zeitgeschichte. Ein lebenssaftiger, auch kulturhistorisch lehrreicher Historienschinken. 3,0
„Ghost Of Chance“ (Hannibal, 17,90 Euro) von William S. Burroughs ist ein hübsch verschwörungstheoretischer, drogistisch-visionärer Hybrid aus Erzählung und Essay, der wieder mal am ganz großen Rad dreht und eine kausale Verbindung herzustellen sucht zwischen der stetig voranschreitenden Zerstörung der Artenvielfalt, der Ausbreitung des Christentums, das ja die Götterwelt dezimierte, also gewissermaßen ein religiöses Artensterben initiierte, und dem drohenden Untergang der Menschheit durch Seuchen.
Burroughs‘ Geschichte rankt sich um die offenbar historische Gestalt des Captain Mission, der in Madagaskar mit ein paar hundert Seeräubern, Sklaven und Dropouts die „Libertatia“-Kolonie gründet, eine Art präkommunistische Gesellschaft, die in „relativer Eintracht miteinander, mit ihren Nachbarn und mit der ökosphäre aus Flora und Fauna“ zu leben versucht. Auch diese Sozialutopie scheitert aber, weil die „Hüter der Zu-kunft“ sie nicht wollen, weil der Menschheit ein anderes, eben finales Schicksal beschieden ist.
Es ist alles ein bisschen Kraut und Rüben, wie so oft in Burroughs‘ eher essayistischen Texten, vage, gelegentlich obskur, auch albern, wenn er sich daran versucht, die zukünftigen letalen Martern und Gebresten zu imaginieren, und dann wieder von einer gleißenden sprachlichen Brillanz, bei der man sich die Augen reibt.
Man erkennt den großen Autor auch in diesem schwächeren Buch. 2,0