Heinz Strunk

Die gläserne Milf

Der Soundtrack zum Roman „Jürgen“: Große alte Songs in neuem Gewand

Von den drei großen Kunstfiguren Strunks, Jürgen Dose, Bernd Würmer und Torsten Bage, ist „Jürgen“ noch der glorreichste. Ganz sicher, weil er unser Herz berühren kann. Wir lachen über Söhne, die an ihren Müttern hängen. Aber wir wünschen ihnen auch nichts Böses. Der Albumtitel mit der „gläsernen Milf“, also einer künstlichen „Mum, I’d Like To Fuck“, verrät bereits: Jürgen liebt Frauen als Mütter, aber sieht sie eher als Kunstwerk. Er könnte ihnen nicht wirklich zu Leibe rücken.

Der bei seiner Mama lebende Single – von Strunk mit kindlicher, höher eingestellter Stimme gesprochen – ist ein Einfaltspinsel, für den das Dasein ein schönes Wunder bleibt. Selbst dann, als er erkennt, dass es ihm bis zum Tod keine Überraschungen bieten wird.

„Wer ist schon morgens schön?“, spricht Jürgen in den Spiegel, „packe meine sieben Sachen, und mache mich auf den Weg.“ Es geht in den Bus, Fensterplatz, „hauche an die Scheibe.“ Es ist todtraurig. „Das Leben ist schwer, doch man muss lernen es zu meistern.“ Jürgen hat ja das Glück, dass er die Verachtung seiner Mitmenschen nicht bemerkt.

Eine Best Of – zum Glück

Heinz Strunk mag seinen Jürgen, er lässt ihn zwar oft doof dastehen, aber nie ins Verderben rennen. Anders etwa als die Figur des Bernd Würmer, den Strunk meist als zurückgeblieben darstellt, und an dem er einen leichten Menschenhass auslebt (das alte Hörspiel „Krakauer“, in dem der begeisterte Bernd extra 30 Kilometer zu einer Bratwurstbude fährt, nur um dort von dessen Betreiber fertig gemacht zu werden, obwohl er unter Einschüchterung so redet wie wir alle, ist das gleichermaßen komischste wie tragischste wie erschütterndste, das er je aufgenommen hat).

Als „Soundtrack zum Roman ‘Jürgen‘“ beworben, vereint dieses Album 19 Strunk-Stücke. Fast alle davon sind bekannt, das halten ihm manche Fans auch vor. Aber einen Wutanfall wie auf Facebook, als Heinzer den Roman-Kritikern und deren Vorwurf des Selbstplagiats mit einem Rant („Dümmsten der Dummen“) kontern wollte, sollte er sich hier sparen. Natürlich muss ein „Jürgen“-Soundtrack eine Best-Of sein, auch altes Material abbilden. Es soll ja das bisherige Leben dieses Menschen zeigen – und das wichtigste davon ist hier versammelt. So bekommen wir eine „Greatest Hits“ mit vielen Neueinspielungen. Schade ist lediglich, dass „Kuhferien“ fehlt, aber das ist ja auch ein Hörspiel, kein Song (bitte auf „Mutter ist ein Sexmaschien“ nachhören).

Strunk verändert einige Texte, etwa das von Studio Braun auch im Theater erprobte „Stop den Wahnsinn“, werkelt ein wenig am Arrangement herum („Meister des Akords“), bleibt aber beim Proll-Disco. Falls man etwas an den Aufnahmen kritisieren will, dann vielleicht, dass sie fahriger eingesungen klingen, ganz deutlich in „Unsere Mission“.

Torsten Bage übergibt an Jürgen Dose

Dafür dürften Jürgen-Fans anhand dieser Compilation überhaupt erst erkennen, welche Songs Strunk ganz sicher dieser Figur zuordnet. Das im vergangenen Jahr erschienene „Sex ohne Menschen“ gehört dazu, kurioserweise auch „Schuhe aus Glas“, das zuvor Fraktus-Mitglied Torsten Bage für sich behauptete – und bei ihm vielleicht besser aufgehoben war: Der cholerische Musiker Torsten zeigte darin erstmals seine träumerische Seite. In den Händen von Jürgen Dose wird daraus eine etwas zu erwartbare Feier des Lebens, in der er, kindlich wie gehabt, einander unvereinbare Dinge assoziiert („Garten aus Luft“).

Viele Sätze sind großartig, weil sie jene ritualisierten familiären Muster auf die Spitze treiben, in denen hilflose Eltern im Leben der pubertierenden Kinder einfach mitzuspielen haben. „Es wird der Tag kommen, an dem Dir deine Mutter jeden Morgen ein neues Taschentuch unters Kopfkissen legen wird“, heißt es in „Erwachende Leiber“. In der nicht minder überwältigenden Wichs-Orgie „Stupor“, Jürgen tritt ungewohnt fatalistisch auf, gibt es Geschrei um den „Spargel“, der „herausgestochen“ werden will (mit „Biester“ existiert auch ein – hier nicht enthaltenes – Hörspiel, in dem Bernd Würmer von Selbstbefriedigung schwadroniert, was Jürgen auf einmal gar nicht gerne hört).

Jürgen tritt in „Jürgen“ zwar oft out of character auf, aber genauso irre wäre es, im „Soundtrack seines Lebens“ Stringenz einzufordern – die Pointe ist doch viel wichtiger. Und „Jürgen“ ist einfach eine tolle „Greatest Hits“, die mit dem nicht minder tragikomischen Roman eine Verbindung eingeht. Die Platte ist wie Jürgens Leben: Es besteht aus Variationen erprobter Muster.

Der Tod ist das Ende – aber nicht wie gewünscht

Manchmal schießt Strunk mit Jürgen ein wenig übers Ziel hinaus, will für seine Figur mehr, als es ihm guttäte: „Täuschung, Gehirnwäsche und Volksverdummung: Das ist das Bermudadreieck, in dem Politik und Großkapital versuchen uns unterzuduckern“. So was braucht man nicht von Jürgen Dose zu hören, das sagen derzeit die echten Dummen auf der Straße schon zu oft, und wahrscheinlich auch exakt so.

Mit „Das Licht ist nicht für mich“ ist auch jenes Strunk-Stück enthalten, bei dem man tatsächlich nicht weiß, ob man beim Hören lachen oder weinen soll. Es scheint, als wisse Jürgen Dose gar nicht, was Tod bedeutet, dass Tod das Ende ist. Das helle Licht ist ja nicht für ihn, er muss im Dunkeln bleiben, „gehört dahin, wo Moos gedeiht, leg ich mich dazu.“

Selbst der schöne Tod verschließt vor ihm seine Pforten.