Joanna Newsom – Ys

Joanna Newsoms Debüt „The Milk-Eyed Mender“ war ein wundervolles Versprechen, auf dessen Einlösung wir warteten wie vorweihnachtlich gestimmte Kinder. Das Mädchen mit der Harfe, die Ikone des Freak-Folk, wie würde sie klingen, nach all dem Hype, der in den USA noch eine Nummer größer ausfiel als in Europa? Als vor einigen Wochen die ersten Fakten über „Ys“ bekannt wurden, wollte man es zunächst gar nicht glauben: Van Dyke Parks hat co-produziert, Akkordeon gespielt und Arrangements für ein über 30-köpfiges Orchester geschrieben, Steve Albini besorgte schon vorher die Aufnahmen von Joannas Stimme und Harfe, Jim O’Rourke mixte das komplett analoge Album, das von Nick Webb schließlich in den Abbey Road Studios gemastert wurde. Wow. „Cosima“, der kürzeste von insgesamt nur fünf Songs, ist bereits 7:15 Minuten lang, „Only Skin“ bringt es auf stattliche 16:53 Minuten. Doch Joanna steht nicht nur im puren „Sawdust & Diamonds“ – dem einzigen Stück ohne Orchester – klar im Vordergrund. Die meisten Songs gehören schon seit mehr als einem Jahr zum Live-Repertoire des Wunderkinds aus San Francisco. Mit einer einzigartigen Stimme, zwischen Björks Stimmakrobatik und dem niedlichen Quäken der Altered Images-Sängerin Clare Grogan, erzählt sie rätselhafte Epen. Am Ende von „Only Skin“ stimmt auch Bill Callahan mit ein, und gemeinsam singen sie die traurigen Zeilen: „All my bones, they are gone, gone, gone/ Take my bones, I don’t need none/ Cold, cold cupboard, lord, nothing to chew on!/ Suck all day on a cherry stone.“ Ein Höhepunkt des Albums, kein Zweifel. Doch er wird noch übertroffen von „Cosima“, dieser verzauberten Klage, getragen von einem märchenhaften Refrain, der einen sprachlos macht, so schön ist diese Folk-Melodie. Die Geschichte der Liebe zwischen „Monkey & Bear“ ist ein weiteres gewaltiges Werk, dessen erste Takte fast ein wenig an Kurt Weill erinnern – und der Rest an die Bremer Stadtmusikanten: „Darling, there’s a place for us/ Can we go, before I turn to dust?“

Van Dyke Parks und sein Orchester liefern nur den opulenten, farbenprächtigen Hintergrund für diese geheimnisvoll poetischen Geschichten und die üppig sprudelnden Harfenklänge. Da werden neben Streichern und Bläsern auch Dulcimer, Banjo, Marimba aufgeboten, selbst ein Pferdeschädel wird betrommelt. Manchmal spürt man, dass das Orchester mit den fertigen Gesangsaufnahmen arbeiten musste. Doch das stört nicht weiter, denn dies ist keine Van-Dyke-Parks-Symphonie, sondern das wunderbare zweite Album von Joanna Newsom. Ja, das Warten hat sich gelohnt.

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