Jukebox :: von Charles Berbérian

Als John Lennon im Jahr 1979 vom zeichnerisch Zeitreisenden Charles Berbérian erfahren will, ob er es 2006 immer noch drauf habe, verschlägt es dem „Monsieur Jean“-Schöpfer für einen Augenblick die Sprache. Immerhin hat der 1959 in Bagdad geborene Comiczeichner und Autor, der Mitte der 70er-Jahre nach Frankreich umsiedelte, seinem Idol am Ende nicht die Wahrheit gesagt. Man weiß schließlich nie, wie das ausgeht, wenn man mutwillig in die Zeitläufte eingreift. Berbérians Liebe zur Rock- und Popmusik hingegen ist aufrichtig. Mit „Jukebox“ hat er ihr erstmals ein ganzes Buch gewidmet, das episodisch quer durch die Musikgeschichte reist, von den MC5 über die Stones bis hin zu Michael Jackson oder Leonard Cohen. Ob er sich dabei von der zufälligen Entdeckung eines Schnappschusses von Yo La Tengo in einer bretonischen Crêperie inspirieren lässt, er in Gedanken mit David Bowie alias Ziggy Stardust auf Amerika-Tournee geht oder davon erzählt, wie Elton John sich einst zum Affen machte, als er in einem Gorillakostüm die Bühne der Stooges stürmte – stets sind Berbérians Geschichten von einem persönlichen Stil geprägt, pointiert und äußerst kurzweilig. (Heyne, 26,99 Euro) Alexander Müller

von Franzobel

Hildebrand „Hildy“ Kilgus, ein dicklicher, etwas tapsiger, stark traumatisierter Mann, trägt seine Hose bis zum Bauchnabel hochgezogen. Der Sohn eines Gastwirts aus dem österreichischen Sumpfing leidet an Empathielosigkeit und Berührungsangst. Daher macht er sich auf die Suche nach dem Geheimnis hinter den tiefsten Gefühlen. Er hofft es im orgiastischen Stöhnen der Frauen zu finden. Er lässt sich zur Hebamme ausbilden, sucht Anstellung als Puffvater, Sargträger und Sterbebegleiter, heiratet eine leider untalentierte Stöhnerin, zeugt einen Sohn, hat eine lustschreibegabte Geliebte – doch sein Erkenntnisinteresse wird nicht befriedigt. Schließlich zieht es ihn nach Rom, wo er bei einer Agentur zur Wettermanipulation landet. Dort verkehrt er mit altrömischen Legionären, gerät in die Fänge der Mafia und beginnt, wie einst Franz von Assisi, mit den Vögeln zu sprechen.

Natürlich dient eine solch hanebüchene Schelmengeschichte dem Autor Franzobel vor allem zur Demonstration seiner Fabulierkunst. Doch er braucht einige Seiten (etwa 100, um genau zu sein), um das anfangs doch etwas hölzerne Konstrukt mit prallem Leben zu füllen. Dann gibt es allerdings kein Halten mehr, die Fleischeslust und die Religion, die Literatur und die Wissenschaft, die Politik und die Finanzkrise, das Dionysische und das Österreichische werden mit von Kapitel zu Kapitel zunehmender Sprachgewalt, opernhafter Wucht und fast jelinekscher Lust am Kalauer auf- und vorgeführt. (Zsolnay, 24,90 Euro) Maik brüggemeyer

Die schwangere Witwe ***¿

von Martin Amis

Wer nie in die rosa-dunklen Ecken des Buchladens schlüpft, kennt wohl keinen Roman, der so erschöpfend über große Busen, Unterwäsche und Frauenhintern debattiert wie dieser. Sommer 1970, ein Schloss in Italien, eine Gruppe von jungen englischen Tagedieben und Urlaubern. Die Sonne brütet, Körpersekrete werden zähflüssig, alles ist schwer ödipal und metaphorisch – und dann legen die Girls ihre Bikinioberteile ab, denn die sexuelle Revolution beginnt ja.

Martin Amis, geliebter und (noch mehr) gehasster Obersnob der englischen Großschriftstellerei, erzählt das aus der Perspektive der mittlerweile gealterten Hauptfigur Keith, und am Anfang braucht man als Leser schon gewaltiges Vertrauen, um das nicht für eine schwüle Altmännerfantasie zu halten. Ist es natürlich, aber dann eben auch eine herrlich verwirrte, voller Fallen steckende Parabel über die Wachablösung im Geschlechterkrieg, über die Probleme, die der Narziss bekommt, wenn das Spiegelbild plötzlich mit fremden Augen zurückstarrt. Trotz der über 400 Seiten wirkt das Buch mehr wie eine Fingerübung, eine Novelle, die Amis ein wenig aus den Fugen geraten ist. Aber solange sein sadistischer Witz so intakt ist wie hier: gut so. Allein um den zwergenhaften italienischen Extremsportler Adriano kennenzulernen, muss man das eigentlich lesen. (Hanser, 24,90 Euro) Joachim Hentschel

Wenn das Schlachten vorbei ist **¿

von T.Coraghessan Boyle

Dem Terrain des Ökoromans widmete T.C. Boyle bereits die Dystopie „Ein Freund der Erde“. Hier versucht er sich nun an einem Lehrstück über Arroganz und Anmaßung, in dessen Mittelpunkt die Geschichte der kalifornischen Kanalinseln steht. Durch Isolation hat sich dort eine exklusive Flora und Fauna entwickelt, die durch eingeschleppte Exoten immer wieder bedroht wird. Ein Biotop, das bei Boyle zum Schauplatz einer erbitterten Auseinandersetzung verschiedener Fraktionen von Umweltschützern wird. Der Roman ist bevölkert von Spintisierern, Fanatikern und sogenannten Gutmenschen. Während die Parkverwaltung versucht, das ursprüngliche Ökosystem wiederherzustellen, werden diese Pläne von radikalen Tierschützern sabotiert. Wie aber definiert man den „Urzustand eines Ökosystems“? Trotz unterschiedlicher Motivation führt das Handeln von Jägern, Schafhirten und Umweltschützern über die Jahre für das Ökosystem zu ähnlichen Ergebnissen: Ganze Populationen werden abgeschlachtet und neue eingeführt.

Eine ideale Vorlage für den schwarzhumorigen Zyniker T. C. Boyle, sollte man meinen. Doch leider wird ihm sein größtes Talent zum Verhängnis: Das Verzahnen verschiedener Zeitebenen beherrscht Boyle zwar traumwandlerisch, doch die Geschichte gerät durch Faktenhuberei und ausufernde Seitenstränge aus dem Tritt. Boyle erklärt zu viel – und erzählt zu wenig. (Hanser, 22,90 Euro) Torsten Gross

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