Julia Holter :: Berlin, Kantine Berghain

Die kalifornische Sängerin löst den Widerspruch zwischen digitaler Ästhetik und akustischer Musik auf

Der radikalste Retroentwurf der laufenden Retromode findet sich bei der kalifornischen Sängerin und Produzentin Julia Holter. Auf ihrem Albumdebüt „Tragedy“ (2011) recyclete sie nicht schnöd irgendeine Dekade des letzten Jahrhunderts, sondern vielmehr die Zwanzigerjahre des fünften Jahrhunderts vor Christus. Mit Industrialgedengel, schlingernden Streichern und gesampelten Umwelt- und Alltagsgeräuschen interpretierte sie die Tragödie des Hippolytos. Mit heller, zarter, schön umwölkter Stimme sang Holter hier von Duldsamkeit, Leid und Trauer. Ihren Gesang verfremdete sie mit schillernden Filtern, schichtete ihn zu murmelnden Chören oder ließ ihn von einer flehenden Aura aus Vocoder-Effekten umflackern.

Im März ist nun ihr zweites Album „Ekstasis“ erschienen. Darauf findet man zwar keine Tragödie mehr, aber eine Folge von tragischen Songs, in denen Holter ihre musikalischen Mittel verfeinert und noch verdichtet. Wie alle ihre bisherigen Kompositionen hat Holter auch diese allein am Laptop eingespielt. Umso interessanter war das Konzert, das sie in der Berliner Berghain-Kantine zum Auftakt ihrer ersten Deutschland-Tournee gab. Von der Laptop- und LoFi-Herkunft ihrer Musik war hier nämlich nichts mehr zu spüren. Stattdessen hatte Holter sämtliche dargebotenen Songs auf das Format eines elektroakustischen Trios gebracht, mit einem Cellisten und einem Schlagzeuger und sich selbst an der Wurlitzer Orgel. Auch sang sie ihre Lieder ohne jeden technischen Effekt auf der Stimme – selbst das elegische „Goddess Eyes“, das im Original ganz vom gefühlvollen Gebrauch des Vocoders lebt. Im Konzert hingegen lebte es ganz von Holters Gesang, vom träumenden Hauchen und schwingendem Seufzen. Wenn man wollte, konnte man darin das Erbe der jüngst wiederentdeckten Folk-Psychedelikerin Linda Perhacs erkennen, in deren Begleitband Holter gelegentlich spielt. Zwischen digitaler Ästhetik und akustischer Kammermusik, zwischen athenischer Antike und kalifornischem Folk gibt es bei ihr jedenfalls keinen Widerspruch mehr: Aus dem Zirkel der Retro-Moden ist Julia Holter mutig und schön ins zeitlos Erhabene gesprungen.

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