R.E.M. – Reckoning

Nachträglich betrachtet, war das verwegen bis atemberaubend, wie sich diese kleine Band aus Athens, Georgia, in den wenigen Jahren ihrer Anfänge bei I.R.S. mit jeder der fünf LPs praktisch neu erfand und sich nicht genierte, die Band-Identität auch schon mal auszuwechseln. Von „Murmur“ bis „Document“ markierte jede neue Platte mehr eine andere „Periode“ denn eine folgerichtige Entwicklung im herkömmlichen Verständnis. Die „Chronic Town“-EP war so etwas wie das Gesellenstück gewesen, „Murmur“ das gefeierte Meisterwerk, bei dem man den beiden Produzenten weithin freie Hand gelassen hatte bei ihrem Job als Sound-Designer.

Damit war es bei den Sessions zu op. 2 vorbei. Im Kleingedruckten zu „Reckoning“ wurden Mitch Easter und Don Dixon als „machinists“ bezeichnet. Vorher hatten sie schon unter Aufsicht von Neil Youngs „Harvest“-Coproduzent Elliott Mazer fast zwei Dutzend Demos neuer Songs an einem Tag aufgenommen. Zusammen mit anderen schon Jahre alten wie „(Don’t Go Back To) Rockville“ hatte man also die freie Auswahl, als es noch vor Veröffentlichung von „Murmur“ an die Sessions zur nächsten LP ging. Bei den zehn Songs, die es schließlich auf die Platte schafften, erinnerte kaum einer an die, die man mit „Murmur“ ’so verinnerlicht hatte.

Bei „Pretty Persuasion“ durfte man sieh noch einmal an die Byrds erinnert fühlen. Aber für Hunderte von Bands, die bald zu kopieren begannen, war das der neue R.E.M.-Sound. Keinerlei melancholische Anklänge auch beim ersten Song „Harborcoat“, einer ganz eigenwilligen Mischung aus Garage und

Power-Pop mit kurzem Bluesharmonika-Intermezzo. Auch bei dem als Verbeugung vor Velvet Underground identifizierbaren „Time After Time“ legte man Wert auf Originalität – niemand konnte da was von „All Tomorrow’s Parties“-KIau murmeln.

Apropos murmeln: Michael Stipe war mittlerweile offenbar zu der Auffassung gelangt, dass man die Songtexte klar hören, wenngleich nicht immer sofort enträtseln sollte. Dafür durfte man sich „7 Chinese Bros“ schon mehrfach anhören. Zwischendurch erinnerte das melancholische, dezent folkrockige „Camera“ schon mal an den Gerry Rafferty der frühen Transatlantic-Jahre, während man für „(Don’t Go Back To) Rockville“ das neu ausprobierte countryrockige Arrangement als das endlich passende und zeitlos gültige betrachtete.

Beim Original-Album arbeitet das Remastering ganz hervorragend den rockigeren Charakter von „Reckoning“ noch weit schlüssiger und sinnfälliger heraus. Bill Berry insbesondere darf sich freuen: Seine Beiträge am Schlagzeug klingen (jetzt „härter“) besser denn je zuvor. Und das Mehr an Präsenz im Mix sorgt für einiges Mehr an Transparenz. Ziemlich genau ein Jahr nach dem Auftritt in Toronto mitgeschnitten, dokumentiert der Auftritt im Aragon Ballrom in Chicago vom Juli 1984 (auf der zweiten CD), wie mit der rasant wachsenden Popularität auch das Selbstbewusstsein der Band zunimmt. Die obligatorische Velvet Underground-Hommage ist diesmal „Femme Fatale“, der Rest der knappen Stunde von „Radio Free Europe“ bis zum Finale mit „(Don’t Go Back To) Rockville“ beinahe eine kleine frühe Greatest-Hits-Revue. Für die Elliott-Mazer-Demos, die Tony Fletcher in den Liner Notes erwähnt, blieb damit so wenig Platz wie für andere Session-Outtakes von „Reckoning“.

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