Radiohead :: The King Of Limbs

Eben ein uraltes, nach Muff und Bananenchips riechendes MP3 auf meiner Festplatte entdeckt: Radiohead spielen „Union City Blue“ von Blondie, ein Live-Bootleg. Antike Daten aus dem Jahr 2000, damals mühsam von Napster übers Analog-Modem aus der Telefonbuchse geleiert. Als man noch einen Hackbraten zubereiten und essen konnte, bis der Downloadbalken durch war. Aufregend! Denn nicht die MP3-Technologie hat das Spannende und Kostbare an der Musik zerstört, sondern die Breitbandverbindung.

Haben Radiohead das alles erfunden? Man könnte es fast glauben, wenn man miterlebt, wie Millionen Menschen jedes Mal in Tiere-vor-dem-Sturm-Unruhe geraten, sobald die Band einen neuen Online-Deal ankündigt. Radiohead-Newsletter, das sind die Steve-Jobs-Keynotes unter den Pop-Pressemitteilungen! Als sie vor dreieinhalb Jahren das Album „In Rainbows“ gratis ins Netz stellten (die frei wählbare Gebühr war ja nur das Spendenkörbchen, das am Ende der Party rumgeht), konnte man die Aufregung noch besser verstehen. Obwohl andere, weniger bekannte Musiker schon vorher längst Ähnliches gemacht hatten. Und obwohl die Signalwirkung, die damals von einigen Kommentatoren für dringend möglich gehalten wurde, komplett ausgeblieben ist.

Aber noch 2011 erzeugt die Band bei den Beobachtern großen Rede-, Erklärungs- und Deutungsbedarf, wenn sie ihr neues Album „The King Of Limbs“ in Gestalt einer vorbestellbaren Zeitung mit zwei eingelegten Schallplatten veröffentlicht. Und den Vorab-Download dann sogar noch einen Tag früher freischaltet als versprochen. Ist das jetzt die Relativitätstheorie? Kann die Musik von Radiohead – dank Internet – jetzt etwa auch noch in die Vergangenheit reisen? Mal gleich im neuen Tim-Renner-Buch nachschlagen.

Die viel interessantere Frage stellt oder beantwortet aber keiner. Die Frage, ob das Internet und das ganze Hin- und Hergeloade mit der Zeit denn auch an der Musik von Radiohead irgendetwas verändert hat. Ob da Spuren sind, irgendeine Art von Rückkopplung, so wie die Erfindung der LP einst die Songs länger werden ließ und im CD-Zeitalter die Tracklists wuchsen. Ob denn ein so wundervolles, aus breit blutenden Skizzen und gefrorenen Insektenkunststücken bestehendes Album wie „The King Of Limbs“ überhaupt jemals hätte entstehen können ohne dieses Arbeitsklima.

Für eine Band wie Radiohead bedeutet das Internet ja nicht nur Vernetzung, sondern auch Abschottung. Von giftigen Fremderwartungen, von Ritualen, Fixkosten und Gedankensperren, die selbst eine konventionelle Indie-Plattenveröffentlichung mit sich bringt. Nur eine Hypothese: Nie im Leben hätten die notorischen Selbstzerfleischer und Psychokünstler Thom Yorke und Johnny Greenwood mit ihren Freunden diese acht Stücke und 37 Minuten Musik fertigbekommen, wenn sie die Freiheit nicht längst im Rückenmark spüren würden. Die Freiheit, einfach mal eine kürzere Projektplatte rauszuschicken. Die Freiheit, stärker denn je ihre Songs wie Krautrock- oder Elektrotracks zu konstruieren, ohne sie bis zum Zerstäuben zu hinterfragen. Und trotzdem aus allen sonischen Stärken zu schöpfen, die eine Rockband mit echten Instrumentalisten nun mal hat. „The King Of Limbs“ ist auch funky, lieblich, halszuschnürend, cinematografisch, soulig, und Yorke ringt seinen bekannten Lieblingsthemen (Ertrinken, Zur-Pflanze-Mutieren und so) poetisch derart viel ab, dass man schon extrem ignorant gegenüber Dichtung sein muss, um hier nur Blabla zu hören.

Was alles nicht heißt, dass Radiohead wirklich modern oder hip wären. Sie sind ein System, das sich ständig überarbeitet, und da kann die neueste Platte nur die beste sein. Die Flaming Lips haben übrigens kürzlich angekündigt, ihre nächste Platte in Form eines USB-Sticks zu vertreiben, der (kein Witz!) in einem lebensgroßen Totenschädel aus Fruchtgummi steckt. Und „The King Of Limbs“ kommt jetzt erst mal auf CD, wie früher DJ Bobo. Abgefahren.

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