Sunna – One Minute Science
Sunna-Chef John Harris, das erfährt man in dieser Zeitschrift, ist ja im Grunde seines Herzens ein Rocker. Nicht irgendeiner ohne Herkunft und Ziel, sondern ein ganz bestimmter: Der Grunge, wie man ihn in Seattle erfand, hat den 50-jährigen Sänger und Gitarristen zu dem gemacht, der er jetzt ist. Harris nennt Cobain ein Idol und Cornell einen Einfluss – und so sucht der Engländer das musikalische Heil im Nordwesten der USA. Dabei kommt auch Harris aus einer Stadt, die einen Trend setzte: In seiner Heimat Bristol musizierte er mit den Trip Hoppern Massive Attack und gewann deren Produzenten Neil Davidge zum Intimus.
Das Debüt von Harris‘ Band Sunna erblüht aus der Saat eben beider Pflanzungen: „One Minute Science“, das den Kontakten entsprechend bei dem Massive Attack-Label Melankolic erscheint, versucht recht erfolgreich den Spagat zwischen Grunge-Zerknirschung und zeitlupenhaftem Seelentheater, wie es die Beat-Betriebe in Bristol vor einigen Jahren kultivierten. Obschon Sunna also Wölfe im Schafstall ihres sonst ja eher sittsamen Labels sind, gelingt die Anbindung ans Repertoire – Harris, der das Album noch fast im Alleingang aufnahm bzw. programmierte, verfügt über die programmatische Melancholie, die Sunna vor dem drohenden Etikett „Industrial-Rock“ retten wird. Dass das überhaupt droht, daran haben Sunna selbst die Schuld; die erste Single „Power Struggle“ ist ein wütendes Getöse aus Alice In Chains-Riffs und grimmig murmelnden Apparatklängen, und die just absolvierte USA-Tour mit A Perfect Circle tut ihr Übriges für die Zuordnung der Bristoler.
Der Auftakt ist irreführend: „One Minute Science“ ist bestimmt kein Werk im Sinne Reznors, Keenans und Mansons – selbst in den lautesten Momenten ist hier nichts so neurotisch und anstrengend hysterisch wie bei den amerikanischen Antichristen. Was Sunnas Debüt statt dessen ist, kann man aber so recht auch nicht wissen; von hypnotischen Zwittern aus Mensch und Maschine („I’m Not Trading“), über in sich gekehrte, leicht delirierende Studien der verirrten Seele („I Miss“) bis hin zu recht altbackenem
Songwriting besagter amerikanischer Provenienz („O.D.“) geht Harris‘ vielerorts unbedingt inspirierte Stilreise durch die eigenen Möglichkeiten, und so wird man wohl noch ein bis zwei Alben warten müssen, bis die Städtebummler Sunna endgültig sesshaft werden.