Throbbing Gristle Desertshore/The Final Report

Unser Thema in diesem Monat: Musik für das Fest und für die stillen Tage. Die schönste Weihnachtsplatte der laufenden Saison heißt „Desertshore/The Final Report“ (Industrial Records) und bildet das Vermächtnis der britischen Industrial-Band Throbbing Gristle, die sich nun auch X-TG nennt. Die erste Hälfte des Doppelalbums versucht sich an einer besinnlichen Neuinterpretation des seinerseits ja schon recht weihnachtlichen „Desertshore“-Albums von Nico aus dem Jahr 1971. Nur von einem schnaufenden Harmonium begleitet, sang Nico darauf schwermütige Lieder fürs „Mütterlein“ oder zum „Abschied“.

Throbbing Gristle wiederum wurden wenig später, 1975, von dem Hippiekommunarden Genesis P-Orridge und dem singenden Porno-Model Cosey Fanni Tutti gegründet. In ihrem Performance-Projekt COUM Transmissions hatten die beiden zuvor zum Beispiel über scharfkantigen Metallskulpturen kopuliert oder aber benutzte Tampons zunächst gegessen und sodann erbrochen. Gemeinsam mit Peter „Sleazy“ Christopherson und Chris Carter variierten sie diese Ästhetik der Selbsterfahrung und -überschreitung in musikalischer Form: Mit Synthesizern, Bandmaschinen und selbst zusammengelöteten elektrischen Geräten aller Art erkundeten Throbbing Gristle die psychischen und physischen Wirkungen von Sound. 1981 löste die Gruppe sich auf; Genesis P-Orridge gründete unter anderem mit Marc Almond die Band Psychic TV und feierte im dazugehörigen Thee Temple ov Psychick Youth glamouröse Gruppensexorgien. Peter Christopherson widmete sich in dem Duo Coil der „rituellen Musik zur Steigerung der männlichen Sex-Energie“ – so hieß es jedenfalls auf dem Cover der ersten Coil-Single „How to Destroy Angels“.

Für eine Platte, eine Ausstellung in den Berliner Kunst-Werken und ein paar Konzerte fanden Throbbing Gristle 2004 wieder zusammen; auch begannen sie auf Christophersons Anregung mit dem „Desertshore“-Projekt. Bevor es fertiggestellt werden konnte, verließ Genesis P-Orridge die Band aber wieder; im November 2010 starb Peter Christopherson in seiner Wohnung in Bangkok. So ist die „Desertshore“-Variante, die Chris Carter und Cosey Fanni Tutti jetzt vollendet haben, auch eine Hommage an den toten Freund. Allerlei Verehrer und Wegbegleiter von Throbbing Gristle sind als Gastsänger dazugekommen: Antony Hegarty verleiht „Janitor of Lunacy“ mit seinem Bariton dunkel schillernden Glanz; Blixa Bargeld empfindet in „Abschied“ und „Mütterlein“ akribisch den germanischen Duktus von Nico nach; Marc Almond hat in „The Falconer“ – über sacht dahinscheppernden metallischen Beats und glimmenden Synthesizern – seinen besten Auftritt seit Langem.

Sehr gut gefällt mir auch die kalt genäselte Interpretation von „Afraid“ durch Sasha Grey. Wie weiland Cosey Fanni Tutti, hat auch sie ihre Leidenschaft für Geräuschmusik mit einer Karriere als Porno-Model verbunden. 2007 erhielt sie etwa den begehrten Adult-Video-News-Award für die beste Gruppensexszene; zwei Jahre später debütierte sie als Sängerin auf dem Current-93-Album „Aleph At Hallucinatory Mountain“. Aus dem Pornogeschäft hat sie sich inzwischen zurückgezogen, dafür spielte sie in dem Steven-Soderbergh-Film „The Girlfriend Experience“ und in der HBO-Serie „Entourage“. Seit einer Weile betreibt Grey zudem das Terzett aTelecine. Deren neues Album „Die Entkopplung“ ist gerade auf Dais Records, dem Label der Genesis-P-Orridge-Archivare Gibby Miller und Ryan Martin, erschienen: Mit fernem Rauschen, lieblichen Gongs und sprungfederhaft boing-boing-machenden Beats ist dies eine der leisesten und erotischsten Krachmusik-Platten, die ich seit Langem gehört habe: geradezu ideal für einen gemütlichen Winterabend zu zweit oder beim Gruppensex vor dem Kamin.

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