Tiny Tim – God Bless… The Complete Reprise Studio Masters

Reprise war mal das Label, für das einige der größten Singer/Songwriter grandiose Platten aufnahmen, Künstler wie Randy Newman, Joni Mitchell und Neil Young. Mit anderen, Dean Martin oder der Jimi Hendrix Experience, machte man so spektakuläre Umsätze, dass man sich problemlos das Risiko leisten konnte, eine so völlig exzentrische Figur wie Herbert Khaury unter Vertrag zu nehmen, der es unter dem Pseudonym Tiny Tim in den Shows von Johnny Carson, Jackie Gleason und Ed Sullivan zu richtigem Kult-Status gebracht hatte. Kult war er schon auf Bühnen in und von Greenwich Village gewesen, als Dylan noch ganz hoffnungsvoll seine Karriere erst vor sich hatte. Eine Attraktion auch in Lesben-Clubs, wo er seine Mischung aus Standards, so gut wie vergessenem Pop des 19. Jahrhunderts und auch richtigem Schund auf der Bühne zum Besten gab. Einige brillante Parodien auf aktuelleres Liedgut beherrschte er auch.

Erst einmal unter Vertrag, stellte man Richard Perry als Produzenten ab, damit er ganz unvoreingenommen eine Tiny-Tim-Revue inszenierte. Das war dann wirklich auch mit überhaupt nichts vergleichbar, was in dem Jahr Reprise oder irgendein Label des Konzerns veröffentlichte. Das hatte, um Missverständnissen vorzubeugen, auch nichts mit dem abgedrehten Charme gemeinsam, mit dem sich Jonathan Richman und seine Modern Lovers bei dem von John Cale produzierten Debüt profilierten. Das war Showbusiness einer gänzlich abgefahrenen Art, wie sie auch kein anderer Stand-up-Komiker zu dieser Zeit kultivierte. Die Komik von Lenny Bruce war eine ganz andere Baustelle. Von bis heute anonym gebliebenen Studiomusikern begleitet, mischte der Mann mit der Ukulele Irving Berlins patriotisches „Stay Here Where You Belong“ mit der fantastischen Country-Parodie von „Then I’d Be Satisfied With Life“ (Nico, hier in die Rolle von Tuesday Weld geschlüpft, „Oh Tiny…“ und „Tiny I love you!“ hauchend), Music-Hall-Erinnerungen („On The Old Front Porch“) beschwörend und den Sonny & Cher-Hit „I Got You Babe“ zuschanden singend, in „The Other Side“ erst einen Irren spielend, bevor er uralte amerikanische Popmusik im Geschwindschritt Revue passieren ließ. Seine Deutung von „Tip-Toe Thru‘ The Tulips With Me“ war so wundervoll, dass die Single auch die LP in die Hitparade katapultierte.

Keinen Deut schlechter war „Tiny Tim’s 2nd Album“, für das er ausgesprochen straight Songs von Tom Paxton und Hoyt Axton sang, seinen romantischsten Crooner bei „As Time Goes By“ gab und einen richtigen Rock’n’Roller bei „Great Balls Of Fire“ (auch nicht der mindeste Anflug von Parodie), das dann in England sein erster und einziger kleiner Hit wurde. Zwischendurch finanzierte die Firma auch die LP „For All My Little Friends“. Aber die wurde dann mit Songs wie „I’m A Lonesome Little Raindrop“ kein großer Hit in Kinderzimmern. In „They Always Pick On Me“ singt er darüber, dass seine Mutter schon zweimal hinschauen musste, um dann festzustellen: „It’s a boy I think…“, und beklagt sich darüber, dass die Eltern ihn immer nur triezten und mies behandelten. Das Ergebnis: „I’m so awfully lonesome, awfully sad/ It’s a longer time since I ‚ve been glad/But I know what I’ll do by and by/I’ll eat some worm and then I’ll die.“

Als man bei seiner Plattenfirma zu der Überzeugung gelangt war, dass er für immer ein one hit wonder bleiben würde, kündigte man den Vertrag. Für andere, kleinere nahm er noch ein halbes Dutzend weitere Platten auf, darunter ein paar erfreulich schräge für Bear Family Records und Rounder mit erwartungsgemäß eigentümlichen Deutungen von „Stairway To Heaven“ und „Just A Gigolo“. Auf und ab ging es in seiner Karriere oft, bis ihn Auftritte bei Conan O’Brien und Howard Stern Mitte der 90er Jahre wieder einer breiteren amerikanischen Öffentlichkeit bekannt machten. Am Abend des 30. November 1996 sang er ein letztesmal auf der Bühne „Tip-Toe Thru‘ The Tulips“ und erlitt dabei einen zweiten Herzinfarkt. Den überlebte er nur wenige Stunden.

Mit tollen Liner Notes von Barry Hansen alias Dr. Demento ist dies Rhino-Set mit allen Aufnahmen und Demos der Reprise-Jahre ein Sammlerteil allererster Güte, wenn man sich mit dem außerhalb von jedem Mainstream liegenden musikalischen Schaffen dieses Exzentrikers befassen möchte.

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