Tipp: Blau ist eine warme Farbe :: Regie: Abdellatif Kechiche
Blau ist die See, blau ist Blaubarts Bart, blau ist die Blume der Romantik, Blau ist die wärmste Farbe … Man glaubt es nicht, bis man es selber gesehen hat – aber Abdellatif Kechiche hat einen der besten, faszinierendsten, schönsten französischen Filme der vergangenen Jahre gedreht, ein Werk, das die Ehre der Grande Nation des Autorenkinos wiederherstellt, die unter jener Welle platter Kitschfilme und Junk-Komödien im Gefolge von „Ziemlich beste Freunde“ doch erheblich gelitten hatte.
Was auch immer Kechiche („L’Esquive“, „Couscous mit Fisch“) dazu inspiriert haben mag, Blau zur Leit- und Zentralfarbe seines neuen Films, eines Films über die Liebe zu bestimmen – es war eine gute Entscheidung. Es fällt einem nicht sofort auf, aber dann doch recht früh, in der zweiten oder dritten Szene dieses ganz und gar wunderbaren Films, was dieser Regisseur mit den Farben macht: eine blaue Welt. Nichts per Computer Entsättigtes, Eingefärbtes, sondern einfaches Kostüm- und Production-Design; die dezente Künstlichkeit eines Musicals von Vincente Minnelli. Etwa eine Schülergruppe, bei der alle etwas Blaues anhaben, und ansonsten Schwarz, Weiß, Grau. Ein öffentlicher Platz, auf dem alle Bänke blau gestrichen sind. Und dann punktuelle Gegensätze: Ein rotes Kleidungsstück. Ein grüner Busch, ein rosa Kirschblütenbaum, die rostbraune Lederjacke der Titelheldin Adèle (Adèle Exarchopoulos).
Es beginnt in einer Schulklasse, man liest Marivaux: „Ihr Herz vermisste irgendetwas.“ So etwas ist in intelligenten Filmen wie diesem natürlich kein Zufall – in Frankreich geht Hochkultur immer in aller Leichtigkeit mit dem konkreten Leben einher, das scheinbar Komplizierte entpuppt sich als das Allereinfachste. Zum Beispiel: Adèle wird von einem Jungen aus einer anderen Klasse angeschwärmt. Beim ersten Treffen im Café geht das so: „Was liest du da?“ fragt der Typ, der auf sie steht, und sagt, als er es hört, dass er bisher erst ein Buch gelesen habe: „,Gefährliche Liebschaften‘ von Choderlos de Laclos.“ Und dann reden sie tatsächlich über das „ Double-reading: Ein Brief mit ‚Ich liebe Dich‘ sagt eigentlich ‚Du dumme Hure‘.“ Dann kommt erstmals Musik, Adèle geht über einen großen Platz, und dann sieht sie zum ersten Mal Emma, ein Mädchen mit blauen Haaren, und weil die von Léa Seydoux gespielt wird, ahnen wir schon …
Seydouxs Auftritt in diesem Film ist eine Offenbarung in seiner Mischung aus Härte und Sensibilität, kühler Intelligenz und Verletzlichkeit. Angesiedelt in Nordostfrankreich, erzählt „Blau ist eine warme Farbe“ über einem Zeitraum von etwa fünf Jahren und klassisch strukturiert in den vier Jahreszeiten, beginnend mit Winter, von der anfangs 16-jährigen Adèle, die aus eher einfachen Verhältnissen kommt, Grundschullehrerin werden will und sich bald unsterblich in Emma verliebt – ein aufgeklärtes „Mädchen aus gutem Haus“, das Malerei studiert. Man inspiriert sich gegenseitig: Adèle (und wir mit ihr) lernt durch Emma die Welt der Kunst und der Philosophie kennen und belebt zugleich ihr erschüttertes Ego.
Nach Julie Marohs Graphic Novel „Le bleu est une couleur chaude“ (international „Blue Angel“) erzählt Kechiche von Frauenliebe und vermeidet konsequent alle dazugehörigen Klischees. Man möchte nicht wissen, wie deutsche Filme hier brav und „politisch korrekt“ alle Facetten lesbischer Liebe abarbeiten würden. Kechiche hat einen so neugierigen und unbefangenen Blick und überdies ist sexuelle Orientierung hier nur Teil der Geschichte. Kechiche gelingen großartige Liebesszenen, die alles zeigen, aber nichts ausstellen. So etwas hat man lange nicht im Kino gesehen. Sie sind das Herz des Films. Einmal mehr beweist Kechiche, was wir natürlich schon wussten: dass er ein brillanter Frauenregisseur ist.
Er steht zur eigenen Bürgerlichkeit, er predigt nicht den reaktionären Mythos „einfacher“ „direkter“ „humaner“ Verständigung. Er zeigt in seiner Geschichte zugleich, dass Liebe und Verführungsmacht nicht genug sind, um ein Leben zu führen. Emma ist ein Mädchen der bürgerlichen Oberklasse, das gewohnt ist, zu bekommen, was es will. Sie nennt Adèle „meine Muse“, fügt vor Freunden hinzu: „Sie hat auch gekocht“ (was im Klartext heißt: „Ich bin die Künstlerin, und ich koche hier nicht“). Der bekannte Fall des Kontakts einer Oberklasse mit der Unterklasse, um deren Lebensenergie zur eigenen Vitalisierung zu nutzen.
Kechiche ist auch ein Meister der sozialen Interaktionen. In diesem Film wird, wie oft im französischen Kino, viel gegessen, viel geredet, Farbchoreografie und Kamera sind exzellent, sodass dieser Film ein reines Vergnügen ist – zu Recht bekam er in Cannes die Goldene Palme.