Tonträger im Oktober

Man muß es ja nicht unbedingt Zeitgeist nennen. Aber daß Popmusik in ihrer Zeit mehr einschließt als Musik, ist mehr als eine Banalität. Manchmal geht es nur darum, die Hosen jetzt ein wenig weiter schneiden zu lassen. Oft geht es auch nur um Abwechslung: Jetzt haben wir jahrelang den und den Beat gehört und die und die Frisur getragen, jetzt wollen wir was anderes. Aber in der Regel liefert jede neue Musik, jede neue Generation auch ein soziales Modell mit.

Im Amerika der 80er Jahre bestand das Modell darin, daß – parallel zu Reagans Politik – das Soziale ausgeblendet wurde. Aus den Jacksons (Modell Familie) löste sich Michael Jackson heraus ( Modell Außerirdischer). Madonna mag in den „Girlies“ Töchter haben – Schwestern hatte sie damals nicht. Und Prince baute um sich herum Kollektive auf und löste sie nach Belieben wieder auf: die Gruppe als Beigabe zum Ego.

Seit Anfang der 90er Jahre sind in den USA wieder Entwürfe gefragt, die das Kollektive und das Authentische betonen. HipHop kreist beständig um die Neighbourhoods und die Gruppe der aus der Gesellschaft wirtschaftlich und sozial Ausgeschlossenen; in der Rockmusik dagegen hat das alte Beat-Prinzip „Schulfreunde“ wieder die Oberhand gewonnen. Viele Grunge-Bands sind tatsächlieh auf der High-School entstanden, hier haben sich die zusammengefunden, die am meisten Ärger mit den Lehrern hatten.

Mitten in diese Szenerie platzen jetzt Garbage hinein. Nichts soll die Gruppe davor schützen, zunächst als Grunge-Band wahrgenommen zu werden. Da ist natürlich der Name. Und da ist vor allem der Schlagzeuger dieser Band, Buten Vig, Produzent nicht nur des epochalen Albums ^Aferermind“, sondern beinahe der gesamten Rock-Elite von Sonic Youth und Heimet bis L7 und Smashing Pumpkins. Nun ist Butch Vig aber kein Twenty-Something, sondern geht gerade auf die Vierzig zu. Und die Sängerin Shirley Manson kennen die Musiker nicht aus der High-School, sondern aus dem Fernsehen – sie stammt aus Schottland und fiel ihnen auf MTV auf, wo ein Video mit ihr lief. Garbage auf einem Indie-Label gab es nie, ihr Debüt erscheint jetzt selbstverständlich bei einem Major. Daß Garbage im Grunge-Umfeld entstanden, mit dieser Musik aber so gut wie gar nichts zu tun haben, ist nur einer der vielen interessanten Aspekte.

Diese Musik ist purer Pop, ein bißchen künstlich und blankpoliert, bis in die allerfeinsten Adern hinein modern. Vieles, was Leute wie Phil Spector und Sonic Youth über Sound-Wände herausgefunden haben, wird hier in der denkbar smartesten Weise angewendet: Shirley Manson singt zart und zuweilen ätherisch, sie hätte es auch bei den Cocteau Twins ausgehalten – aber dahinter liegen mehrere Schichten Klang. Gitarren, Samples, Loops, Keyboards vermischen sich nicht zum Brei, sondern halten Abstand. Nichts drängt sich wirklich in den Vordergrund, alles wirkt massiv und gleichzeitig offen. Manchmal fragt man sich beim Hören, was aus My Bloody Valentine geworden ist.

In das Pop-Amerika, das unter der Knute der Authentizität ächzt, fuhren Garbage wieder ein Stück Künstlichkeit ein. Die Stärke dieser Band ist die Oberfläche – und das, was knapp darunter liegt.

Ralf Schlüter 4,0 TIE GIERT ESCAPE Blur EMI Der große Griff in die Truhe der Erinnerungen. Bisher traten Blur als skeptische Hedonisten auf, als blasierte Patrioten und Anti-Amerikanisten, eine boshafte Komödien-Truppe und jugendliche Nörgelbande. So jung, so vergreist. „Modern Life Is Rubbish“ pöbelten sie schon im Titel ihres fabelhaften zweiten Albums, und die Parole sprühten sie angeblich auch auf Hausmauern in der Provinz. Ihre Musik klang freilich bereits, als träumten Ray Davies und die Kinks von sich selbst und einer Zeit, da die Welt in England noch in Ordnung war. Mit „Parklife“ wurden Blur friedlich in den Charts domestiziert.

„The suburbs they are dreaming“: So beginnt „Stereotypes“, der erste Song von „The Great Escape“. Da muß ja noch mehr sein als das kleine Eigenheim mit Hypothek. Die alternative Lebenslüge folgt gleich in „Country House“: ,J’m a professional eyniel But my heart’s not in it… He’s reading Balzac/ Knocking back Prozac.“ Dazu ein ganz unbritisches Foto vom Schloß Neuschwanstein. Die Blur-Version von Kafkas „Verwandlung“ übertrifft womöglich den Horror von Gregor Samsa: „Ernold Same awoke from the same dream/ In the same bed at the same time/ Looked in the same mirror/ Made the same frown.“ Die Welt bleibt dieselbe.

Den Trost in diesem Reigen der mediokren Mittelschichts-Existenzen liefert jederzeit die Musik: ein karussellartiges Sammelsurium von Music-Hall-Referenzen, Spieldosen-Petitessen, Vaudeville-Travestien, Kirmes-Melodien und Kinderlied-Sentiment. Schwelgerisch und verspielt bieten Blur ebenso Bläser-Sätze wie „Lalala“-Gesinge auf. Im nostalgischen Rückgriff auf geschichtsbeladene Ausdrucksformen versäumen Blur zwar jede Neuerung, retten aber ein Genre, das ähnlich bedroht ist wie ehedem

Die Bürde des berühmten Vaters: JAMES MCMUR-TRV – Daddy Larry schrieb die Vorlagen für die Bogdanovich-Filme „Last Picture Show“ und „Texas- ville“ – schultert sie auch auf seinem dritten Album „Whert’d You Hide The Body“ (Columbia/SMlS) bravourös. Sein Gesang ist scheinbar teilnahmslos und modulationsarm, macht aber im Kontext perkussiv-pulsierender Story-Songs („Down Across The Delaware“) und wuchtigem „Heattland“-Rock („Levelland“) geradezu süchtig. Für das exquisite Klangbild und wohl auch einige verblüffende Arrangement-Ideen zeichnet der endlich reaktivierte Produzent Don Dixon (R.E.M, Marti Jones) verantwortlich.4,5 Mutig muß die Entscheidung genannt werden, in Zeiten wie diesen ein weiteres Roots-orientiertes Label aus der Taufe zu heben. Im attraktiven Startpaket von Blue Rose Records findet sich in KATE JACOBS eine Songwriterin, die gleich neben Iris DeMent Platz beansprucht: Ahnlich rustikal, aber nicht so unverhüllt autobiographisch in den lakonisch formulierten Lyrics, küßt ihre Stimme auf „(What About) Reget“ (Blue Rose) geradewegs den Himmel. Als „musical director“ sorgt Dave Schramm für Bodenhaftung und Gitarren-Störfeuer vom Kontrollturm. 3,5 Hochinteressant bleibt der Output des neuen Dead Reckoning-Labels aus Nashville. KEVIN WELCH, nach zwei Alben bei Vforner in Ungnade gefallen, präsentiert sich nun auf ,JLife Down Here Ott Earth“ (Dead Reckoning) mal schamlos sentimental („Wishing For Ybu“), mal trotzig anteilnehmend („Wilson’s Tracks“), aber selbst bei angezogenem Tempo relaxt und folky wie nie zuvor. Ein wunderschön illustriertes Booklet gibt dem Album auch optischen Reiz. 3,5 Böse Menschen meinen, Sid Griffin (ehemals Long Ryders) sei als Gram-Parsons-Biograph und Nachlaß-Plünderer talentierter denn ab Songwritet ,JLos London“ (Glitterhouse/EFA), das neue Werk seiner COAL PORTERS, verströmt zwisehen bewährten Koordinaten (Byrds,

Beatles, R&B-Bums) seligen Pub-Rock-Charme mit deutlichem Secondhand-Touch. Zwei, drei wirklich herausragende Songs („Crackin‘ At The Seatns“, „Ain’t No Way Tu Be Your Cowboy“) machen die Produktions-Schwächen und Griffins mediokren Gesang einigermaßen wert, der mit dem lieblichen Jahreszeiten-Zyklus „Apple Tree“ natürlich auch Gram Parsons huldigt 2,5 Aus der Reihe „Der Romantiker vor Ort“ (Untertitel: „Kitsch ist doch Kunst“) empfehlen wir drei Alternativen zum allseits präsenten Chris lsaak. „Musk For AU Occasions“(MCA) versprechen die Country-Traditionalisten MAVBmCKS, obwohl sie natürlich nur das kleine Alltags-Drama auf der Front Porch verhandeln. Das aber mit Größe, dank Sänger Paul Malo, der mutig die Fußstapfen von Roy Orbison beansprucht Willkommene Gäste: Flaco Jiminez und Trisha earwood.3,0 Gebrochene Herzen und hormoneüe Hürdenspünge sind auch das Metier von MONTO WAR-DM, der mit seinen Lonesharks auf „Here I Am“ (Zensor/Indigo) nicht minder herzerweichend, aber doch eine Spur härter zur Sache kommt Mit der dunklen Schnulze „I Need bu“ hätte er sogar in „Twin Peaks“ eine gute Figur ge

macht 3,5

Geschiedene Geister provoziert STACY DEAN CAMPBELL: totales Weichei oder neuer Stern am Country-Himmel? Meine bescheidene Meinung: Hat was, der Mann. Möglicherweise ist Campbell mit seinem zweiten Album „Hurt City“ (Columbia/SMIS) aber zur falschen Zeit heruntergefallen, denn mit Songs von Steve Earle, Kevin Welch und sauberem Tradi-Oonal-Sound hätte er viel besser in den „New Country“-Hype von 1986/87 gepaßt 3,0

die Music-Halb das musikalische Porträt, die klingende Sozialreportage.

All diese Geschichten über Dan Abnormal und Mr. Robinson, vom „Charmless Man“ und von den Satellitenschüsseln an jeder Wohnstube resümieren die britische Popmusik von Ray Davies bis zu den späteren Adepten Paul Weller, Elvis Costello und Madness. Der Alltag bietet hier das Material, der kleine Eskapistnus und die große Illusion vom Glück. In Dämon Albarns Texten manifestiert sich nun neben wohlfeiler Ironie und Zorn angesichts des Stillstands auch Mitleid für seine Figuren. Mit „The Great Escape“ entkommen Blur der Selbstreferentialität: Der Songschreiber tritt neben sich, um einen Blick auf die Wirklichkeit zu werfen. Auch eine verkable Leistung für eine Band, die seit fast zwei Jahren ihren Standpunkt als Stoßtruppe des Brit-Pop neu bestimmen muß. Klassischer und unaufgeregter als sie aber ist keine andere Gruppe in England diesseits der Rolling Stones. So ein Album kauft auch der Pop-Papa unbesehen.

Am Ende, in der fast psychedelisch entrückten Ballade „Yuko And Hiro“, wagen Blur doch eine Art von Vision – im Negativ: „We are never together/111 love you forever.“ Die einzig mögliche Flucht.

Arne Willander

3,0 Bim i«i Loudon Wainwright DI

Virgin Da steht er nun, ein „Grvnm Man“unter der Dusche, und räsonniert kurz vorm 48. Geburtstag mit heiterer Gelassenheit über den Stand der Dinge: graue Haare, wackelige Zähne, schlaffe Haut The best years of our lives? Oder doch nur der Anfang vom Ende?

Der (eine) Chef dieses Blattes findet den „The Birthday Present“ betitelten Auftakt zum neuen Album von Loudon Wainwright HI jedenfalls „weinerlich“. Nicht doch eher unvermeidlich? Die grundsätzliche Frage ist ja, was Songwriter der alten Schule anstellen sollen, wenn sie erstmal in die Jahre kommen. Rotz und Ranküne über die Jahre retten, bis sie schal und schimmelig sind? Oder stillen Frieden mit sich selbst und überhaupt schliessen? Und das nennt man dann „Erwachsenwerden“?

Loudon Wainwright DI darf sich glücklich schätzen, nicht unter dem Banner der Jugendlichkeit für irgendwas vereinnahmt worden zu sein. Dafür blieb er stets zu unbekannt und unspektakulär. Jenseits vielbeschworener Generationen-Konflikte, konnte ihm so der Sprung etwa ins Dickicht familiärer Mysterien, die ihn nicht erst seit diesem Album umtreiben, recht mühelos gelingen. Sicher kann man darüber streiten, ob dieses Thema mit einem JFather/Daughter Dialogue“ auf die Spitze getrieben werden muß. Aber warum nicht, wenn Schonungsloses am Besten in dieser Konstellation verhandelt werden kann. Und im Gegensatz zu anderen Bälgern, die von Mami oder Papi vors Mikro gezerrt werden, kann die junge Dame aus dem Hause Wainwright immerhin ganz passabel singen.

Nein, Selbstgefälligkeit oder gar larmoyante Weisheit der späte(re)n Jahre wird man Loudon Wainwright m kaum nachweisen können. Da sind genügend (Selbst-) Zweifel geblieben, die ihn zu ungelebten („A Year“) wie zu überlebten Lieben („The End Has Begun“) treiben, da ist das Ende nahe genug für ein bißchen „Dreaming“ und ein Ticket als „Human Cannonball“. Und „Iwiwal“, ein grammatikalisch „aufgehängtes“ Plädoyer für die Freuden lesbischer Liebe, ist zwar reichlich albern, aber auch garantiert politically incorrect Die Musik bleibt, wie immer bei Wainwright, funktionale Kulisse, die dem Anliegen der Songs dezent, manchmal auch eine Spur zu eindeutig zuarbeitet In der bitteren Country-Parodie „Housework“, einer erkalteten Hölle auf Erden, wo sich „dishes“ auf „wishes“ und „bills“ auf „pills“ reimt, gießt die Steel-Gitarre wimmernd einen Kübel Hohn und Spott in die Asche. Just A John“ rockt angemessen fürchterlich, wenn Wainwright „Männlichkeit“ auf ihren primitiven Kern reduziert. Die Gentechnik-Vision ,4994″ swingt angemessen absurd.

Auf die allzeit beliebte, nicht zuletzt durch eine launige Presse-Biographie mit etlichen Song-Querverweisen genährte Frage, wie autobiographisch denn dieser

„Grown Man“ nun zu nehmen sei, hat Loudon Wainwright HI auch eine Antwort parat. Nämlich: „Der Typ, der die Songs singt, das bin nicht ich.“ Da liftet nicht nur Fräulein Tochter skeptisch ihre Augenbraue. Jörg Feyer 3,0 LITE STIIT Lloyd Cole Mercurv Viva Las Vegas! Warum singt Lloyd Cole nicht im „Sands“ vor Reichen und Touristen? Irgendeiner muß den Job ja machen. Und daß Cole das Zeug dazu hat, Sinatra und Liberace gleichzeitig zu beerben, das hat er Anfang der Wer Jahre mit den Orchester-Schmalz-Liedern von JDon’t Get Weird On Me, Babe“ bewiesen. Es war so schön, es war so butterweich, es war so dick aufgetragen™ Ein zweiter Mann fürs große amerikanische Nobel-Entertainment wäre damals Nick Cave gewesen. Auf „The Good Sott“ hat er fast so dicke Streicher-Tunke aufgetragen wie Lloyd Cole. Aber heute sieht es so aus, als wäre das alles nur eine Phase gewesen, eine mit vielen Camp-Anteilen natürlich. Cave kultiviert seinen 80er-Jahre-Sound und wird in nächster Zeit ganz bestimmt nicht in Hotels singen.

Und auch Lloyd Cole hat längst wieder Kurs genommen auf die kleine Form. Wollte man sein neues Album soziologisch zuordnen, müßte man es wohl an ein geschmackvoll gestyltes Jazz-Cafe verweisen, am besten eines mit Nichtraucher-Zone und vegetarischem Menü. Nachdem Cole auch in den letzten Jahren immer mal wieder Rock-ähnliche Elemente in seiner Musik hatte, geht es diesmal „unplugged“ zu: hauptsächlich akustisch, verhaltene Streicher, hier und da mal ein kleines Solo auf der E-Gitarre. Lloyd Cole ’95 klingt wirklich hübsch und irgendwie „zeitlos“. Diese melodiösen Drei-bis-vier-Minuten-Songs sind nur einen Steinwurf von seinem Debüt „Rattlcsnake“ entfernt. Deshalb ist es eine merkwürdige Vorstellung, daß Coles Musik einmal hip war.

Der Titel ^Atve Story“ mag genauso ironisch gemeint sein wie vorher „Mainstream“. Trotzdem steckt er zumindest das Feld ab, das unser Poet betextet: Es geht um Liebe und Sentimentalität und um die Frage, wie man darüber sprechen/singen solL In „The June Bride“ heiratet eine Frau im Sommer – und hat noch vor dem Herbst ihren Mann wieder verlassen. Lloyd Cole wiederholt das so oft, als könne er es selbst nicht fassen. Und trotzdem schillern seine Texte ironisch und sind nicht festzulegen. Ahnlich seinem britischen Landsmann Matt Johnson, der genau wie Cole nach New York zog, scheint ihn dort eine Art Altersweisheit befallen zu haben: „The more I learn/ The less I know.“

Lloyd Cole schreibt noch immer Songs, die ein bißchen was von Pralinenstückchen haben. Sogar die Country-Parodie „Let’s Get Lost“ schmeckt wie englischer Tee. Und: Der Mann sieht im Profil noch immer aus wie Elvis. Ist das ein Problem? Nein, im Gegenteil, das ist ein Fingerzeig von ganz oben: Lloyd Cole, um Las Vegas kommst du nicht herum.

Ralf Schloter 4,0 tllllE FE1T.TIE METALIEAIS Goldie Feat The Metalheads Metronome Braucht Jungle einen Star? Bisher schien die Musik, die auf den vertrackten, nervösen Breakbeats des britischen Underground beruht, ohne Promis auszukommen. Sicher – es sind vor allem die Medien, die „Köpfe“ brauchen, um eine neue Entwicklung überhaupt anzunehmen. Aber sie sind nicht allein verantwortlich für Hypes und Idolisierung. Selbst in der House- und Techno-Szene wurde mal Wert auf Anonymität gelegt, bis der DJ-Kult über die Weißmuster siegte.

Goldie ist der erste wirkliche Star, den Jungle hervorgebracht hat Dazu eignet er sich als Figur und Musiker-IdeaL Geboren wurde er in der Kleinstadt Wolverhampton, aber sein Lebensweg machte die provinzielle Herkunft bald wett. Mitte der 80er Jahre pilgerte Goldie nach New York und wurde ein gefragter Graffiti-Künstler. Er hatte verschiedenste Jobs, zwischendurch handelte er auch mal mit Goldzähnen. Anfang der 90er Jahre begann er sich im Dance-Underground von London einen Namen als DJ zu machen. Heute wird Goldie in seinen Kreisen bereits als Klassiker gefeiert – die Fristen für solche Titel werden immer kürzer.

Der 20-Minuten-Track „Timeless“ sorgte schon für Geraune, bevor man ihn überhaupt gehört hatte. Jetzt bildet er das Herzstück dieses vor Kreativität und Ideen fast platzenden Albums. Der musikalische Fluß, den Goldie produziert, hat die Ufer des Jungle längst übertreten. Ähnlich wie seinem Ambient-Kollegen Aphex Twin gelingt ihm die Übertragung eines musikalischen Modells auf andere Bereiche. Das rhydimische Grundmuster wird durch die Breakbeats bestimmt. Es bleibt aber nicht statisch, sondern wird ständig variiert. Goldie schickt seine Beats nicht nur weit über die Grenzen des Tanzbaren heraus, sondern treibt sie in ätherische Bereiche, wo sie gar nicht mehr als „Rhythmus“ wahrgenommen werden, sondern als Melodie und Klang und Ohren-Reise.

Und alles andere ist ebenso „free“. Diane Charlemanges warmer Soul-Gesang rückt die Musik manchmal in die Nähe von Soul II Soul und Massive Attack. In „Sea Of Tears“ kommen Hörspiel-Elemente zum Einsatz: Meeresrauschen und Stimmen. Dazu spielt eine Jazz-Gitarre. Oft hängt ein schwerer Keyboard-Klang im Raum, manchmal läßt er auch seine Breakbeats donnern wie zu seinen Hardcore-Zeiten. Aber Goldie verfolgt eine Idee, und deshalb wirken auch die langen Stücke selten beliebig: Für den Film seines Lebens soll ein Soundtrack entstehen, der wenig Grenzen kennt. Dabei geht es aber nicht nur um Seelenzustände und innere Bilder, sondern auch um den Kampf in den Städten, um „inner city Life, inner city pressure“, wie es in „Timeless“ heißt. Ganz schön anmaßender Titel übrigens. Geht aber dann doch in Ordnung.

Ralf Schlüter

Levellers WKA Vielleicht kann Levellers-Musik allein vor dem morbiden Charme eines langsam vor sich hingammelnden englischen Seebades wie ßrighton entstehen. An solchen Orten ist Geschichte, wenn auch nur in ihrem Verfall, präsent. Und an solchen Orten entwickelt man den Anspruch, mit seiner Musik etwas Grundsätzliches zu sagen – so wie es den Levellers auf ihrem ersten Album „A Weapon Caüed The World“ und jetzt auf dem vierten namens „Zeitgeist“ anzuhören ist.

Voller Absicht haben die Musiker diesmal ganz oben ins Regal gegriffen und eine Platte abgeliefert, die die gesamte Pop-Geschichte und ausgewählte christliche Kultur-Epochen streift. Nachdem in den letzten 30 Jahren Geschichte fiir beendet erklärt wurden, behauptet die Band mit jeder Note: Traditionsbewußtsein ist wichtig. So provoziert man in den 90er Jahren; anscheinend spüren das die Levellers. Und während das Popmusik-Marketing eifrig Zielgruppen und Sparten definiert, legten sie ihren Klang-Garten an aus Folk und Punk, Groove und den verschleppten Brachial-Akzenten, die im „Metal“ zu dem Eindruck führten, alle Rhythmen dieser Welt ließen sich in einem Baßtrommelschlag zusammenfassen.

Das Ergebnis ist ein komprimiertes, sich selbst genügendes Konzept-Album, das populär klingt, ohne daß man das Gefühl hat, darin erschöpfe sich der Zweck der Musik. Überhaupt verdient eine Band Respekt, die Songs wie das breite „P.C. Keen“ und das kokette „Just The One“ eiskalt hintereinanderstellt. Einerseits sind die Levellers bemüht, sich historisch-chronologisch einzuordnen: „Leveller“ bezieht sich auf den Republikaner Oliver Cromwell, der 1649 die Hinrichtung des Königs veranlaßte. Andererseits musizieren die Brightoner antizyklisch, sind gleichzeitig eine Top-20-taugliche und eine anarchistische Band ohne Scheu vor „Aha“-Chören. So geistreich ist Geschichte jederzeit ganz gut zu ertragen.

Bedeutungsvoll zitieren sie im Album-Titel das Code-Wbrt, das die 80er Jahre und die idealistische Geschichts-Philosophie so seltsam verbindet und ausdrückt, wie sich Materie in Nichtmateriellem äußert – eben das dahingammelnde Brighton in der Levellers-Musik. Christa Thelen 3,5 IE1 IMUI1EI HIN Chris Cacavas Normal/Indigo Akkorde zerbröseln aufreizend langsam. Dann eine Stimme, hoch und ein bißchen gönnerhaft: ,,Is‘ das Deine Knarre? Oder Dein Schwanz?“ „Dick“ reimt sich dann natürlich wunderbar auf „sick“. Und schließlich bricht doch noch das kontrollierte Gitarren-Inferno los. Gewehre sind Unkraut, meint Chris Cacavas, und nimmt dabei im Titel („Guns ‚R‘ Weeds“) en passant eine nicht ganz unbekannte Rock-Combo aufs Korn. Bei Neil bung hieß das „Throw Your Hatred Down“, getrieben von einem unerschütterlichen Glauben an das Gute, der einen wider besseres Wissen zum Mitwippen (wenn nicht gar Fäusterecken!) zwang.

Cacavas bildet Häßliches auch (einigermaßen) häßlich ab. Prinzip Hoffnung zwar, aber die Hymne verkneift er sich dann doch oder fährt sie maximal mit halber Kraft. Und rotzt später hinterher: „Kill You, T.V.“ Damit dürfte er (auch) Youngs Sympathien haben. Und damit schließt sich auch die Schublade mit der Aufschrift „Vergleiche“.

Dies alles hier klingt plötzlich so vertraut: Die traurige Loner-Ode („Freak“ bleibt hier schon die einzige), die quälende Slow-Motion-Paranoia („Flying“), das wohldosierte, raumgreifende Wsgen, Tosen und Square-Dancing („Flamethrower“) der Gitarren. Nicht, daß nicht gleich beim Cacavas-Debüt klargeworden wäre, wo dieser Mann steht, wo er herkommt, wo er hin will. Aber bei Album Nummer vier ist der ehemalige Key-boarder von Green On Red nach der doch überraschenden Häutung zum Songwriter par exellence längst an einem Punkt angelangt, wo er sich vor allem auf sich selbst bezieht. Man darf das auch Stil nennen.

Cacavas weiß darum, weshalb er schon bei Titel und Cover kokettierend auftritt. Vermutlich die einzige Möglichkeit, um immer weiterzumachen mit bitteren Abschiedsbriefen („Heart Of Sand“, „Lullaby“), mit dem Affen Amore („Cupid“), mit dem täglichen Wahnsinn („Bellyful Of Bullets“, „Weight Around“) und den selten wohlschmeckenden Früchten vom Baum der (Selbst-)Erkenntnis („Divining Road“, „Set It Right“). Chris Cacavas malt im Prinzip immer wieder dasselbe Bild. Nur ein paar Farben werden gelegentlich ausgetauscht. Anders formuliert: Selbstplagiat muß kein Schimpfwort sein, wenn es auf diesem Niveau exekutiert wird. Old improved Cacavas. Jörg Feyer

4,5 TIE DUTT TIIEE

The Dirty Three Big Cat/RTD Country wurde nicht in Australien erfunden. Aber hier haben Musiker das Genre in den letzten Jahren verfeinert und mit neuen Elementen versetzt wie nicht einmal in seinem Heimatland. Die Triffids und Blackeyed Susans etwa haben es unter Führung von David McComb zu opulenten Melodramen aufgeblasen, Tex Perkins und Kim Salmon spielten den Country-Blues mit ihren Beasts Of Bourbon so teuflisch erhitzt, als brenne unter ihren Ärschen das Fegefeuer, und Nick Cave schließlich, als letztes Beispiel einer langen Reihe von Namen, ließ sich zu sinistren Balladen inspirieren.

Die Mitglieder der Dirty Three haben in der einen oder anderen Weise mit den oben genannten Künstlern zusammengearbeitet, jetzt spielen sie in ungehört ausladender Form Country im weitesten Sinne. Der Song mit seinen klassischen strukturellen Vorgaben existiert für die drei, in ihrer Heimat inzwischen Stars, nur noch als lockere Orientierungshilfe. Mit denkbar einfacher Instrumentierung aus Geige, Gitarre und Schlagzeug schaffen sie Soundscapes von panoramaartigen Ausmaßen.

Dabei stiftet die Melodie durchaus Zusammenhalt. Interessanter aber ist, was dazwischen passiert. Für dieses Ausloten der Zwischenräume lassen sich die Dirty Three viel Zeit. Kaum ein Stück ist unter sechs Minuten lang, in ihren besten Momenten kommen sie fast auf eine Viertelstunde. Die dreckigen Drei, Prototypen von Drifters, sind fast ständig auf Tour, haben auch schon hierzulande unter Ausschluß der Öffentlichkeit in Bars gegen ein paar Bier gespielt und verfügen dank dieses Trainings über eine traumwandlerische Sicherheit.

Das wichtigste Stück steht am Anfang des Albums. „Indian Love Song“ ist ein stetig an- und abschwellendes Kreisen aus Rhythmus und Geräusch – als stände der Hörer auf einem Felsen im Monument Valley und beobachtete den irreal schnellen Wechsel von Sonne und Mond.

Die Dirty Three arbeiten vor allem mit Höhentönen und verzichten gänzlich auf dunkle Beben eines Basses, so flirren ihre Stücke zuweilen wie Hitze über dem Wüstensand. Wenn die Band nach stimmlicher Unterstützung für ihre Intrumentals Ausschau hielte, würde sie gewiß keinen „blue yodler“ engagieren – eher würde sie auf die gespenstischen Gesänge der Schamanen zurückgreifen.

Die Songs sind in einem wunderbaren Schwebezustand gehalten. Ländlichkeit und Urbanität, Archaismus und Avantgarde gehen hier gut zusammen, Country wird mit verschiedenen Formen experimenteller Pop-Musik versöhnt. Warren Ellis spielt Geige wie John Cale zu „Zeiten von Velvet Underground – elektrisch verzerrt und ungestüm. Gitarrist Mick Turner kennt die ausholende Spielweise von Television genauso wie die Sound-Architektur von Sonic Youth.

Trotzdem erinnert die Musik der Dirty Three an eine Überlandfahrt von El Paso nach Austin. Oder, mir auch recht, wie eine von Perth nach Brisbane.

Christian Buss 3,5 TITALLT CIISIED OUT That Dog MCA Der Teenage-Pop von That Dog ist harter Stoff. Er ist gefiihlig und zugleich geometrisch kühn konstruiert, ungestüme Ausbrüche und extreme Bedachtsamkeit gehen Hand in Hand. Die Kalifornier – drei sehr ernsthafte junge Frauen und ein Schlagzeuger, der auch schon mal einen Witz reißt – singen von den Dingen, denen sich der normale Ami auf dem College widmet: dem Daten, der Eifersucht und dem Reden darüber.

Erstaunlich jedoch, daß diese Themen nie in stereotype Schwätzerei ausarten. Dadurch, daß That Dog jeder Gefühlsregung die Dringlichkeit einer mittelschweren Staatsaffare zukommen lassen, verteidigen sie ihren Teenage-Biotop gegen joviale Beschwichtigungsversuche seitens der Erwachsenen oder solcher Menschen, die sich dafür halten. Der Zynismus des Arrivierten hat in ihrer Welt keinen Zutritt.

Auf ihrem Debüt-Album, hierzulande noch beim 4AD-Ableger Guernica erschienen, war ihnen ein Thema wie die Umstrukturierung des Vorwahlsystems von Los Angeles einen ganzen Song wert. Mit ähnlichem Blick für die kleinen Details stürzen sie sich jetzt für „Totally Crushed Out“, weltweit von dem Major-Label Geffen veröffentlicht, auf ihr Beziehungsleben – oder das ihrer Freunde.

So genau die Beobachtungen, so akkurat die Arrangements. „Kammer-Punk“ wurde die Musik von That Dog einmal genannt ein treffliches Etikett. Die drei weiblichen Stimmen verflechten sich, immer ausgeklügelten Kompositionsprinzipien folgend, zu einem wunderbaren Singsang.

Und wenn die vier Stakkati spielen, fühlt man sich eher an den kontrollierten Art-Core von John Zorn denn an den ausgelassenen Neo-Punk ihrer Altersgenossen erinnert. Auch wenn hier nur vom Küssen die Rede ist: harter Stoff. Christian Buss

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