Rock ’n‘ Roll Part II: Vom Ende der Kommunikation im Zeitalter des Schoko-Riegels

Ein Essay von Romme

Lassen wir die letzten zehn Jahre Revue passieren – die verlängerten 80er also, dieses merkwürdig-belanglose Jahrzehnt, das uns jedoch lehrte, wie die Wirklichkeit die Phantasie erschlägt. Zeitlich wird die Spanne dieses Textes in etwa durch den Beginn der Kanzlerschaft Kohls auf der einen – und die Abstimmung über die Maastrichter Verträge in Frankreich auf der anderen Seite umrissen. Oder durch die Nr. 1-Hits, Jack And Diane“ und „Friday Fm In Love“. 1982 waren die kommenden Jahre ein unüberblickbarer Zeitraum – eine Eigenschaft, die sich um die Mitte der Dekade im Schlagwort von der „Neuen Unübersichtlichkeit“ den Weg in die Zeitgeist-Gazetten und die Publikationen professoraler Zeitgenossen bahnte. Offenbar war der Lauf der Welt nicht mehr durchschaubar, und allem Anschein nach erzeugte das Unvermögen, die Gegenwart zu beschreiben, eben das gleiche Gefühl der Ohnmacht, das früher (ein Wort von rührender Antiquität, ich sehe die Postkutschen fahren) bei dem Versuch entstanden war, die Zukunft ins Auge fassen. Dem entspricht der Zustand der kollektiv-gesellschaftlichen Bewußtseinsspaltung, die immer deutlicher spürbar wurde und sich politisch beispielsweise durch Nachrüstung zur Friedenssicherung, durch Grenzwertfestsetzungen des Schadstoffgehalts in Lebensmitteln zur Gesundheitsvorsorge und durch mittelalterlichen Schlachtordnungen gleichende Polizei-Aufgebote zur friedlichen Nutzung der Kernenergie ausdrückte. Demgegenüber scheinen Ordnungskräfte heutzutage gerade noch als kontemplative Betrachter brennender Asylantenheime in die Nachrichten zu treten. Weiteres Anschauungsmaterial bietet die allmorgendliche Ansammlung immer PS-strotzenderer Automobile im bewegungsunfähigen Stau vor jedem beliebigen Autobahnkreuz dieser wiedervereinigten Republik – oder unsere Untätigkeit angesichts sich häufender Umwelt-Krisen, obwohl wir alle wissen, was wir tun sollten. Aberglaube allenthalben. Neben den Verfechtern der natürlichen Stupidität des Landlebens und des weltanschaulichen Schuhwerks mit ausgeprägtem Fußbert, neben den makrobiotischen Ideologen des links- und rechtsdrehenden und gegebenenfalls stillstehenden Joghurts, neben homöopathischen Wünschelrutengängern und im doppelten Wortsinn grünen Radfahrern auch diejenigen, denen der Tanz in die Prostitution der marktwirtschaftlichen Sachzwänge ganz selbstverständlich gelang und die sich nicht der Illusion hingaben, daß sie ein Körnerfrühstück vor ihren Auswirkungen bewahre. Jedoch wurden und werden all diese Gruppen (sollten Vertreter der ersteren noch existieren) durch eine fundamentale Entbehrung verbunden, nämlich dem Mangel an gesellschaftlicher (für die Freunde Björn Engholms könnte man schreiben: sozialer) Intelligenz. Was sich etwa darin äußert, daß der birkenstöckige Radfahrer ebenso zusammenzusinken drohte (als habe man sein Rückgrat durch Götterspeise ersetzt), wenn man ihn von seinem Fahrrad entblößte, wie der dynamische Manager, wenn man ihn seines Filofax‘ beraubte. Mit 50 hat jeder das Gesicht, das er verdient, sagte George Orwell, und starb mit 47, und vielleicht kann man die Misere politisch tatsächlich auf die Mechanismen demokratischer Willensbildung zurückfuhren, die nur denjenigen zu Amt und Macht verhelfen, auf die sich die Mehrheit einigen kann. Und worauf sich die Mehrheit einigen kann, wird immer und in jeder Hinsicht das Durchschnittliche sein. Der Mangel an Persönlichkeit als Ausdruck der Gruppenzugehörigkeit, die vielem erst die Identität verleiht: Wir wissen uns mit all den anderen Ratlosen in der gleichen Konfusion vereinigt. Wir sind die Walkman-Generation, gleichviel, ob wir die Ohrstöpsel nun tatsächlich tragen oder nicht: Wir laufen noch, aber wir hören nicht mehr, dem Geräusch in unseren Kopfhörern zum Trotz. Ich bin nicht der Ansicht, daß diese gesamtgesellschaftliche Verwirrnis auf den eher öffentlichen Teil des täglichen Lebens beschränkt blieb.Vielmehr spricht alles dafür – Hand aufs Herz, schaut Euch um! -, daß sie längst in die Domäne des Privaten eingesickert ist und sich hier als Kommunikationsproblem manifestiert: Gemeint ist der Bereich der Liebesbeziehungen im weitesten, auch eventuell nicht mehr mit Liebe zu assoziierenden Sinne (der one night stand eingeschlossen), in dem es kaum noch möglich erscheint, sich verbal in einer Weise zu verständigen, die eine Perspektive (welche auch immer) erschlösse. Was zumindest in meiner Vorstellung ehedem eine Funktion von Sprache war. Die Rolle des Verständigungsmittels hat zum größten Teil das Verhalten innerhalb der Beziehung (ein Wort, das ich nicht mag) übernommen oder, anders gewendet, die Konfrontation damit, wodurch die Kontrahenten auf den Status einer eindimensionalen Black Box reduziert werden. Überflüssig zu sagen, daß sich der/die Konfrontierte durch eine derartige nicht-verbale Mitteilung hintergangen fühlt; unnötig zu sagen, daß der/die Agierende bei auch nur minimaler Bewußtheit sich unwahrhaftig vorkommen muß. Unnötig zu sagen, daß damit ein Verlust an Sprachfähigkeit beschrieben ist (der sich in der Vergangenheit ereignet hat und sich immer weiter ereignet), zu dem das Anschwellen der diskurstheoretischen Literatur in umgekehrt proportionalem Verhältnis steht. Dieser Verlust wirft uns auf unsere verbliebenen Sinne zurück und macht uns – zumindest in der Tendenz – zu Voyeuren, was Michael Rutschky im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts auf das treffende Bild des Zwanges brachte, in ein erleuchtetes Fenster zu schauen, um zu sehen, was hinter der Scheibe vorgehe. Vielleicht Geschlechtsverkehr? Ich wollte nicht so sein, wie andere Männer (das heißt: Väter) waren. Erst neulich habe ich die Sinnlosigkeit dieser Verallgemeinerung bemerkt, denn sie trifft auf niemanden zu. Mein Lieblings-Song war zu jener Zeit ,J’m Eighteen“ von Alice Cooper, weil er meine Orientierungslosigkeit auf den Punkt brachte. Johanna hatte gerade entdeckt, daß sie durch das bloße Vorzeigen ihres Körpers bei Männern mehr erreichen konnte, als sie durch Worte je vermocht hätte. Zehn Jahre später lernten wir uns kennen und beschlossen, es aneinander zu versuchen. Was Johannas Entdeckung an und mit ihr verursacht hatte, vermag ich nicht zu sagen, aber als wir uns trafen, vermittelte sie den Eindruck beständiger Langeweile. Ich konnte mit damals nicht damit schmeicheln, daß sich dieser Eindruck unter dem Gewicht meiner Anwesenheit verflüchtigt hätte. (Viel später sagte mir Johanna bei einem unserer Gespräche, mit denen wir unsere Partnerschaft auflösten, daß es schon ein Verdienst sei, ihre Langeweile nicht vergrößert zu haben.) Ich wußte nicht, woran sich eine gute Beziehung erwies: Daran, daß sie hielt, bis der Tod sie schied – oder daran, daß sie sich erfüllte und deshalb endete. Genaueres weiß ich bis heute nicht, aber mit gefällt der Gedanke, daß die Erfüllung ein Endigungsgrund sein könnte und nicht etwa Anlaß weiterzumachen. Obwohl ich also mit Johanna in dieser Hinsicht nichts lernte, erfuhr ich anderes, nämlich den Abschied von kunstvoll zurechtgelegten Idealvorstellungen (die – wie immer – der Realität nicht standhielten). Natürlich hatte ich mir ein Bild davon zurechtgelegt, wie eine Partnerschaft aussehen sollte; natürlich war ich mir sicher, wie mein Betragen in einer Partnerschaft sein würde. In einer diffusen Naivität war ich davon ausgegangen, Aufrichtigkeit oder Echtheit sei der Schlüssel zur persönlichen Integrität (zumal in einer Beziehung), und beides sei ausschließlich mit Sprache verknüpft. Die Relativität dieser Wertung kam mir nicht in den Sinn, und auch nicht die Tatsache, daß sie ebensowenig wie jede andere begründbar war und folglich so lange auf schwachen Füßen stand, als die fehlende Begründung nicht durch einen Kompromiß (diesem fragwürdigsten aller moralischen Stillhalte-Abkommen) ersetztwerden konnte. Außerdem hat Sprache mit Mitteilung zu tun, und die Erkenntnis der eigenen Abweichungen von ehemals für richtig gehaltenem Verhalten bedeutet noch lange nicht, daß man sie gesprächsweise artikulieren kann. Zumal sich das Verhalten aus dem eher verschwommenen Gefühl speist, zur richtigen Zeit mit der richtigen Person am richtigen Ort zu sein. Oder zur falschen Zeit mit der falschen Person am falschen Ort. Die mathematisch Beschlagenen wissen sicher die Zahl der weiteren Kombinationsmöglichkeiten, aber es geht hier nun mal nicht um Mathematik. Wann habt Ihr Euch, Ihr da draußen, zuletzt zur richtigen Zeit am richtigen Ort gefühlt? Na? Und was, glaubt Ihr, resultiert aus diesem emotionalen Morast? Ehrlichkeit etwa? Und wie habt Ihr Euch Eure Biographie vor dem derzeitigen Stand ihrer Vollendung vorgestellt, gleichsam im Sandkasten sitzend? Und wie geht Ihr mit dieser Diskrepanz in Euren Ideen um, nun, da Ihr dem Sandkasten entstiegen seid? Worauf es ankäme, wäre, sprachlich die Kluft zu überbrücken, die sich durch den Einbruch einfacher (aber unvorhergesehener) Tatsachen in unsere Vorstellungswelt auftut (was zugegebenermaßen die Eigenschaft voraussetzt, nicht bereits derart verhärtet zu sein, daß man nicht einmal mehr diese Kluft wahrzunehmen in der Lage ist). In aller Regel versagen wir und die Hilfe der Sprache zu diesem existentiellen Brückenschlag; mit der gleichen Berechtigung könnte ich schreiben, daß uns heutzutage die Hilfe der Sprache dazu einfach nicht mehr zu Gebote steht. Zusätzlich treiben wir die eigentlich zusammengehörenden Ufer dadurch noch weiter auseinander, daß wir im Angesicht abweichender Erfahrungen noch immer verbissen an unserem Bild vom Lauf der Dinge festhalten, bis uns der Riß in uns selbst diejenigen konkreten Rätsel aufgibt, die wir uns Jahre zuvor erst rein fiktiv stellen konnten. Deshalb werden wir schon bald nicht mehr wissen, wie es wirklich war. Wir werden weiterleben und uns zufällig in Bäckereien oder Einrichtungshäusern mit erschreckend talentfreier Hintergrundmusik treffen. Wir werden uns in stöhnender Komplizenschaft zunicken und lächeln und vorgeben, daß wir alles gut verkraftet haben. Wir werden wissen, daß wir weit hinter unseren Möglichkeiten blieben – und wir werden es uns nicht eingestehen. Unsere Träume werden nach und nach die Kraft verlieren, unser Herz schlagen zu lassen, und der Schnaps unter den Kopfkissen unserer Einzelbetten wird uns nicht mehr beim Einschlafen helfen. Wie wir gekämpft haben, so werden wir sterben am Ende. Die Ideale waren zu groß, als daß wir sie hätten verwirklichen können, und zu mächtig, als daß wir je imstande sein werden, sie hinter uns zu lassen. Das sind die Folgen von Wahlmöglichkeiten, um die wir niemals gebeten haben. Meine Erinnerung ist nur bruchstückhaft, aber an einer Szene gibt es nichts zu deuteln: Zu der Zeit, in der ich mit Johanna zusammen war, begab es sich, daß Jenny, für die ich mehr als nur freundschaftliche Gefühle hegte und mit der ich mir mehr als nur eine platonische Beziehung wünschte, während eines gemeinsamen Mittagessens ihre Bluse mit Tomatenketchup befleckte. Johanna war nicht in unserer-Wohnung. Deshalb machte ich den Vorschlag, rasch zu mir zu fahren und dort die Bluse auszuwaschen. Das – so hoffte ich – gäbe mir zumindest die Gelegenheit, Jenny leichter bekleidet als üblich (und ob der Situation auch geneigter als bisher) zu erleben. Zu meiner großen Überraschung, die alsbald in größere Erwartung überging, nahm sie mein Angebot an. Tragischerweise erwies sich meine mit einer anderen Frau geteilte Wohnung als jeglicher erotischer Situation abhold, und Jenny verschwand alsbald im Badezimmer, in das ich ihr nicht nachkommen durfte, wo sie mit dem von mir erbetenen Feinwaschmittel begann, die Folgen des mittäglichen Mißgeschicks zu beseitigen. Meine Hoffnungen flammten noch einmal kurzzeitig auf, als sie aus dem Badezimmer um einen Kleiderbügel und einen Pullover nachsuchte; jedoch erspähte ich, als ich ihr beides eilfertig brachte, lediglich ihren zwar nackten Arm, aber wegen der herrschenden Perspektive der nur einen spaltbreit geöffneten Badezimmertüre erstarben meine Wallungen alsbald zu freundlichem Interesse, und wir verbrachten die Trockenzeit der Bluse als netten Nachmittag bei Tee und Konfekt, angeregt über die Signifikanz der Luhmann’schen Systemtheorie plaudernd, während Led Zeppelin zwar hart, aber passend im Hintergrund musizierten („Squeeze me, baby, tillthejuice runs down my leg“). Die eigentliche Erregung kam erst anderntags, ab Johanna und ich einige Freunde zum Abendessen bewirteten und ich den Pullover trug, den ich kaum 24 Stunden zuvor Jenny geliehen hatte. All meine scheinbar liebevollen Gesten dieses Abends trafen zwar Johanna, galten aber Jenny, deren dem Pullover entströmender Geruch präzise meine Körpermitte traf. Es wurde mir bewußt, daß Lüge keine Worte brauchte, und wie vormalige Ideale durch schlichten Zeitablauf mühelos in ein Gespinst von Rationalisierungen und Rechtfertigungen ihres Zerfalls verwandelt werden und gerade auf diese Weise ihre fortwirkende Kraft bewahren. Ich will nicht sagen, daß man sich mühelos von seinen Leitgedanken trennen solle. Es sollte jedoch möglich sein, sie müheloser einer Überprüfung zu unterziehen, als es allem Anschein nach möglich ist. Der einzige Weg wäre wohl gewesen, mit Johanna darüber zu reden, wie sich unser Umgang verändert hatte, nur: Was hätte ich sagen können? So ließ ich mich allein mit meinen Zweifeln darüber, was passiert war, und es war etwas passiert, das nach all meinen Vorstellungen gar nicht geschehen konnte. Schließlich war ich mit Johanna zusammen, und dies schloß es aus, daß eine andere Frau auch nur entfernt in den Rang eines Problems aufrücken konnte. Johanna bemerkte wohl, daß etwas vorging nur was sie bemerkte, wußte ich nicht. Ihre Agressionen wuchsen, was kein Wunder war. Wenn ich heute darüber nachdenke, nach ähnlichen Erfahrungen in umgekehrter Richtung, bemerkte sie die Verdünnung meiner Zuwendung, die mit meinem Engagement für Jenny zwangsläufig einhergehen mußte. Es ging nicht darum, ob ich mit Jenny im Bett war – um dergleichen geht es eigentlich fast nie. Es geht um das Sehen der anderen und Johanna bemerkte, wie sie mir langsam aus den Augen kam. Der Glanz meines Gesichtes galt nicht ihr, was ihr zu dieser Zeit wie eine Lüge vorkommen mußte, denn all dies spielte sich jenseits der Worte ab, die wir uns einmal gesagt hatten. Und da ich keine neuen Worte suchte und fand, blieb nur Johannas Verkleinerung in diesem Spiel um Unwahrhaftigkeit und natürlich meine eigene. Die Frauen, mit denen ich über diese Geschichte spreche, sagen alle das Gleiche: Manmüsse die Grenzen einhalten. Das kommt mir so falsch vor, wie es die Wahrscheinlichkeitstheorie gerade noch zuläßt. Geht es nicht eher darum, Mut zu benötigen und ihn nicht zu besitzen? Deshalb erscheint mir auch die Versicherung (meist von fraulicher Seite kommend), mehrere zur gleichen Zeit lieben zu können, eher als Ausdruck der Feigheit denn als solcher emotionaler Größe, für die sie regelmäßig in Anspruch genommen wird. Mein Lieblingssong wurde „All Shook Down“ von den Replacements, weil er in 3:16 Minuten 30 Jahre Rock’n’Roll (das heißt das Scheitern der mit ihm verbundenen Hoffnungen) umspannte und für die 90er Jahre als ebenso definitives Statement gelten muß, wie Elvis‘ „All Shook Up“ als definitives Statement für die 50er gelten mag. Von „All Shook Down“ führt eine direkte Verbindungslinie zu „All Shook Up“, und man muß nur aufmerksam zuhören, um das Ausmaß der Desillusionierung zu erkennen, die in den 30 Jahren stattfand, die zwischen den Veröffentlichungen beider Songs liegen. Kurioserweise steht die Musik der Replacements in ihrer Kraft in keiner Weise Presleys Vortrag nach, obwohl der Text von Paul Westerberg nur geflüstert zu Gehör gebracht wird, und obwohl der Sound durch einen klaustrophobischen Überdruck gekennzeichnet ist, der Presleys naiv-optimistische Aufbruchstimmung quasi en passant zum depressiven Nichts zerbröselt. Inzwischen war klar, daß kein Enthusiasmus lange vorhalten würde. Wir hatten gehört, wie „Layla“ für Opel herhalten mußte und „(I Can’t Get No) Satisfaction“ für einen Schoko-Riegel, weshalb uns die Verbindung von Genesis und Volkswagen ebensowenig zu erstaunen vermochte wie die Tatsache, daß sich Levi’s durch die clevere Vermarktung alter Hits (zugegebenermaßen Klassiker) aus dem Strudel rückläufiger Umsatzzahlen befreien und wieder zum meistgetragenen Beinkleid avancieren konnte. Wir hatten gesehen, wie das Chaos und die Anarchie, die der Punk-Rock auf seine Banner geschrieben (aber schwerlich initiiert) hatte, vor Ablauf des nächsten Tages perfekt in die Marketingstrategien von Thorn/EMI und CBS („The Clash On Broadway“) eingepaßt worden waren. Nichts erinnert mehr an den Skandal, den das erste Interview der Sex Pistols in der britischen Öffentlichkeit entfacht hatte, nachdem es Johnny Rotten gelungen war, das Wort FUCK in die bereitstehenden Mikrofone zu ejakulieren (zu schweigen von Elvis‘ erotischen Beckenbewegungen, die seine Darbietungen anfanglich untermalt hatten, was dazu führte, daß er bei Fernsehauftritten nur noch vom Nabel aufwärts ins Bild genommen wurde) – und allmählich machte sich der Verdacht breit, daß der Rock’n’Roll trotz oder vielleicht gerade wegen seiner anarchischen Attitüde das makelloseste Beispiel von Laisser-faire-Kapitalismus darstellte, seit ihn das Manchestertum erstmals erfolgreich durchgespielt hatte. Was diese Einsicht anfangs möglicherweise verdunkeln konnte, war die Subjektivität der Musik, die mit einem Hüftschwung die Grenzen gesellschaftlicher Moralkodizes erkundete und sie zugleich sprengte. Hinzu kam, daß der Rock’n’Roll zunächst nicht die Mißgestaltetheit anderer Waren teilte: Wie diese konnte er reden, aber er war nicht dumm. Die Objektivität des Marktes holte die Musik jedoch schnell ein und brachte sie auf das Niveau der sprichwörtlichen Katzen, die nachts alle grau sind. Und auf dem Markt ist es immer Nacht. Sie wie Johnny Rotten zu erhellen, gelingt nur noch selten – und wenn es gelingt, dauert es nur so kurze Zeit, daß uns unsere durch die Helle geblendeten Augen gerade noch den Traum des Tageslichts zu vermelden vermögen (das wäre eine schöne Zeile für einen Song: „Daylight is a dream if you live with your eyes dosed“, aber ich mache mir nicht die Illusion, damit in die Top 100 zu kommen). Ein Johnny Rotten Gleichgesinnter war Jim Morrison, aber augenscheinlich trieb er die Nichtachtung des Marktes zu weit, weshalb ich manchmal dazu neige, seine Geschichte als Mißerfolg zu deuten. Neben der legendären, auf Pere-Lachaise zur Ruhe gebetteten Gestalt könnte man in der Person gerade auch einen Knaben sehen, der es nicht schaffte, weil ihm der Ruhm und das Geld und möglicherweise auch eine gewisse persönliche Mediokrität dazwischen kamen (ich weiß, daß letzteres den Rang seiner Produktion nicht unbedingt anfechten muß). Mag sein, es ist sogar noch schlimmer: „Vielleicht war er um 1965“, schrieb Timothy White, „einfach ein erschöpfter Schwätzer, der genug Fachliteratur gelesen hatte, um seine Depressionen zu beschreiben, der genügend halbherzige Abschiedsbriefe zu Papier gebracht hatte, um sich für einen Poeten zu halten, und der seinen Gedichten genügend Überdruß entgegenbrachte, um sie dem Geräusch einer Rockgruppe zu überantworten, um sie schlafen zu legen.“ Gleichwohl können die Rest-Doors ganz gut von alledem leben; wie man hört, werden doch Jahr für Jahr etwa eine Million ihrer Tonträger verkauft. Eigentlich eine success-story mit nur dem einen Schönheitsfehler, daß die Hauptperson in Paris neben jeder Menge Schnaps zum Saufen auch ihr frühes Ende fand. Aber andererseits auch: Was blieb noch zu sagen nach „People Are Strange“ – meines Wissens die einzige Äußerung der Doors, in der Morrison genau hinsieht und noch die Kraft findet, das Gesehene in angemessener (und das heißt: schöner) Sprache zu beschreiben? Wahrscheinlich hat Mick Jagger am schnellsten die Verwandtschaft zwischen Marktmechanismen und der Ware Rock’n’Roll erkannt und auch, daß es letztlich doch nur auf den Erfolg (sprich: die Verkaufszahlen) ankam. (Bono brachte das Ende der 80er Jahre resignativrealistisch auf den Punkt: „I don’t believe that Rock’n’Roll can reaUy change the world“) Jagger also änderte schnell den Text von „Let’s Spend The Night Together“ in „Let’s spend some time together“, bevor die Roliing Stones 1967 ihren zweiten Auftritt in der Ed Sullivan Show hatten – weil er völlig zu Recht befürchtete, daß die amerikanische Mayflower-Prüderie dem Verkauf einer unverschleiert sexuellen Botschaft ernstliche Hemmnisse bereiten würde. Wfenig später verkündete er sein Credo ungerührt aus unzähligen Radios rund um den Globus: „It’s only Rock’n’Roll but I likeit,“ Der Erfolg hat Jagger bestätigt, so daß er ein Vierteljahrhundert nach der denkwürdigen Sullivan-Show – inzwischen mit seiner Band selbst ein seltenes Gut besonderer Art – die Marktgesetze derart virtuos beherrscht, daß er für sich und seine Mitstreiter ungeahnte Garantiesummen für die jeweils letzte Konzerttour aushandeln und auf diese Weise die von Ray Davies in „Lola Versus Powerman And The Money-Go-Round“ erzählte Geschichte gleichsam ironisch widerlegen kann. Dergleichen hatte sich bereits zu Zeiten der Darbietung der entschärften Version von,,Let’s Spend The Night Together“ im amerikanischen Fernsehen angedeutet. Ed Sullivan hatte nämlich anläßlich des ersten Auftritts der Gruppe ob des Chaos in ihrem Schlepptau versichert, sie niemals wieder in seine Show zu bitten; aber auch Sullivan war sich bewußt, daß er vom Markt lebte, und das hieß in seinem Fall: von der Befriedigung der Nachfrage. Schließlich war er auf Einschaltquoten angewiesen, und aus diesem Blickwinkel betrachtet, gibt der zweite Auftritt der Stones nur ein Lehrstück für den Zusammenhang, den Ökonomen auf die einfache Formel „Seltenheit gleich wirtschaftliche Macht“ bringen. Daß das Musikgeschäft indessen wie jeder Umschlagplatz nicht auf Individuation beruht, sondern zur Ausradierung jener nicht systemkonformen Merkmale tendiert, die Einzelpersönlichkeit ausmachen, bis sich die Kontrahenten am Ende auf Marktfunktionen reduziert sehen, mußte Jagger allerdings bereits sechs Jahre vor der oben angesprochenen Tournee am eigenen Leibe erfahren. Dies auf eine Art, die den Betrachter teils verstört, weil sie den Zynismus beleuchtet, mit dem der Markt an der Gleichmachung aller arbeitet – teils erheitert, weil sie die Hohlheit des Startums aufdeckt, das unter dem herrschenden, mittlerweile von MTV dominierten Hitparaden-Diktat eher auf nichts denn auf Substanz gegründet ist. Nicht von ungefähr hat Keith Richards in den letzten 20 Jahren kein neues Riff gespielt. Nicht von ungefähr weigerten sich die Mitglieder von Nirvana, Autogramme zu geben. Ich halte das für einen Akt der Selbstachtung, erwarte allerdings weder, daß das Publikum Verständnis zeigt, noch etwa, daß „Der Spiegel“ diese Haltung für etwas anderes als Naivität nimmt. Doch genug der langen Vorrede: Mick Jagger befindet sich zwei Tage nach Weihnachten 1983 ab geladener Gast (VIP) hinter der Bühne eines Rock-Konzerts. Als er es müde wird, dem Geschehen aus den Kulissen zu folgen, begibt er sich in den Zuschauerraum; nachdem er einige Zeit in der Menge getanzt hat, versucht er, wieder hinter die Bühne zu kommen. Allein, mehrere schon durch ihre träge Masse beeindruckende Security Guards stellen sich diesem Ansinnen in den Weg. Als er versucht, sich an ihnen vorbeizustehlen, wird er mit einfacher körperlicher Gewalt zurückgehalten und ruppig darüber aufgeklärt, daß er dergleichen fürderhin besser unterlasse. Hinweise auf seine Identität werden Jagger nicht geglaubt, es nützt kein Fluchen, es nützt kein Argumentieren. Als es schließlich auch ihm klar wird, daß niemand ihn erkennt, zückt er in seiner Verzweiflung die „American Express“-Karte. Da glaubte ihm jeder. Das war Mick Jagger. Ohne Zweifel. Manchmal wünsche ich mir einen Ton. Ganz einfach, verstehen Sie? Vielleicht von einer Mundharmonika. In meiner Vorstellung ist er leicht und rund und bezeichnet einen Raum, in dem meine Unzulänglichkeiten verziehen sind. Oder ein Bild, in dem ich an einem warmen Tag in luftiger Kleidung mit dem Rücken an einem Baum lehne und vor einer sanften Anhöhe in ein weites Tal sehen kann. Nur: Es gibt diesen Ton nicht. „Alles ist furchtbar schiefgelaufen“, sagte Johnny Rotten Mitte der 80er Jahre, „ich habe meinen ganzen Haß verbraucht.“ Mache ich mich verständlich? Johannas Lieblings-Song war während unserer gemeinsamen Zeit „Die Seeräuber-Jenny“ von Bertolt Brecht. Gewöhnlich sang sie leise die vierte Strophe vor sich hin; ich kann nicht verhehlen, daß mir ihre Stimme unheimlich vorkam; es mag aber auch sein, daß es gerade die Kombination von Text und Sound war, die mir die Gänsehaut verursachte. Und an diesem Mittag wird es still sein am Hafen Wenn man fragt, wer wohl sterben muß. Und dann werden sie mich sagen hören: Alle, 1 Und wenn dann der Kopfpik, sag ich: Hoppla! Bisweilen – aus ‚Zügen und im Vorüberfahren – sehe ich Ehepaare in ihrem Garten sitzen, aneinander alt geworden, ihre Körper aus der Form geraten, die Haare grau und spärlich. Ich denke nicht an Philemon und Baucis bei solchen Bildern, aber ich erinnere mich, wie ich mir – ehe all das andere geschah – eine Paarschaft vorstellte: Der Garten ist etwas verwildert, aber schön, und der Schienenstrang der Bundesbahn stört auch nicht mehr so wie zu Anfang. Man gewöhnt sich. Manchmal, wenn die Züge im Vorüberfahren wegen Gleisarbeiten ihre Geschwindigkeit drosseln müssen, kann ich die Gesichter der Reisenden auf dem Gang der Waggons erkennen.* Ich will nicht mehr mit ihnen tauschen. Meine Frau sitzt stumm und etwas grantig neben mir auf einem der Gartenstühle, die wir vor über 20 Jahren auf einer Messe für Freizeitmöbel in Oldenburg erstanden. Ich lehne mich zu ihr hinüber und berühre sie leicht an ihrer Stelle zwischen Hals und Schulter, atme ihren Geruch und frage, ob ich ihr etwas von dem Selbstgebackenen aus der Küche holen soll, das uns unsere Älteste gestern bei einem ihrer seltenen Besuche mitgebracht hat. Sie sagt: Ja, Alter, mach mal“, und ich stehe auf, laufe über die Terrasse, durchs Wohnzimmer, in die Küche, finde die Schale mit Gebäck, komme zurück. Die Erotik zwischen uns wäre immer noch am Leben, trotz der Jahre, die verstrichen sind. Die Liebe? Vielleicht auch. Aber unterdessen ist der Zug schon vorbei, nur das Schmerzliche des Bildes bleibt und die Gewißheit, daß die Chance zu seiner Verwirklichung von vornherein ausgeschlossen war. Es gibt Dinge, die man nicht vergißt. Ich meine nicht den ersten Kuß.

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