Saitenbiegen, furios bis fahrig

Bei der Deutschland-Tour 1969 beeindruckte Jimi Hendrix mit sublimem Lärm. Schon 1970, auf der Isle Of Wight, schien sein Feuer erloschen. Erinnerungen von Wolfgang Doebeling

Die Gitarre über Kopf und hinterm Rücken, Saitenbiegen einhändig oder – seht her! – freihändig mittels Zunge, und zum krönenden Abschluss der Spritzer mit Feuerzeugbenzin und das Knien vor der brennenden Geliebten. Ich war 18 und zu alt für solchen Mumpitz. Alt genug, um den livrierten Methusalem, der die Pforte der Stuttgarter Liederhalle bewachte, glauben zu machen, ich gehörte zur Band. Und so war ich mit meinem Freund Peter schon Stunden vor dem ersten von zwei anberaumten Auftritten der Jimi Hendrix Experience hinter der Bühne herumstolziert, in den Gängen und Garderoben. Niemand hatte Notiz von uns genommen, es herrschte eine Atmosphäre unbeschwerter Arglosigkeit.

Hätte uns jemand eines Blickes gewürdigt, wären wir vermutlich schnell aufgeflogen. Meine Bemühungen, mir nicht anmerken zu lassen, wie aufgeregt ich war und wie ungestüm mir das Herz bis zum Hals pochte, bestanden vornehmlich darin, betont lässig Kaugummi kauend im mitgebrachten „Melody Maker“ zu blättern, und so zu tun, als wäre es mir völlig schnuppe, dass der gelockte Lulatsch, der direkt neben mir mit einem langmähnigen Mädchen turtelte, Noel Redding war. Und dass dort in der Ecke Jimi Hendrix lümmelte, um ihn herum mehr kichernde Mädchen, während Mitch Mitchell nervös mit den Fingern auf dem Tisch herumklopfte, als müsse er sich seines Trommlerdaseins vergewissern. Es wurde leise gesprochen, Jimi flüsterte fast, was ich als ärgerlich empfand, weil mir so entging, was er zu sagen hatte. Erst recht, weil hin und wieder sein Gelächter zu mir herüberdrang, was meine Neugier auf den Gesprächsinhalt nicht gerade dämpfte.

Der Gedanke, hinüberzuschlendern und ihn anzusprechen, kam mir durchaus, wurde aber flugs wieder verworfen. Zum einen, weil akute Gefahr bestanden hätte, als schnöder Fan enttarnt und des Backstage-Paradieses verwiesen zu werden. Und zum anderen, weil mir nichts wirklich Bedeutsames einfiel, was ich ihm hätte mitteilen können. Man stelle sich sein dankbares Staunen vor, hätte ich ihm stolz erzählt, dass nur von den Stones und den Walker Brothers mehr Bilder die Wände meines Zimmers zierten als von ihm und seiner Band. Lachhaft!

Ich hätte ihm gern gesagt, wie ungeheuer viel mir seine Musik, mehr noch: seine Platten bedeuteten, seit mir das geniale Kugelblitz-Intro von „Hey Joe“ unter das Kopfkissen gefahren war, courtesy of Radio Caroline, kurz nach Weihnachten ’66. Gegähnt hätte Jimi Hendrix da, ganz gewiss.

Mit den wenigen Enttäuschungen, die er mir bis dahin bereitet hatte, konnte ich ihn schon gar nicht konfrontieren. Etwa mit dem Auftritt, den ich im Sommer ’67 in London gesehen hatte, im Fernsehen, bei „Top Of The Pops“. Begeisternd perfekt spielte die Band, doch war der Gesang schludrig. Unwahrscheinlich, dass Jimi den guten Willen und die Geduld aufgebracht hätte, mir Grünschnabel zu erklären, was Halb-Playback ist.

Nur gut also, dass mir ohnehin der Mut fehlte. Gut auch, dass Peter, die ganze Zeit über schon Papier und Kuli in den verschwitzten Fingern, mit seinem Ansinnen wartete, bis die Band schließlich an uns vorbei in Richtung Bühne des Beethovensaals defilierte. „Jimi“, so sprach er den Gitarrengott beherzt an, „perhaps you can give me an autograph.“ „Perhaps“, gab dieser spöttisch grinsend zurück und tauchte ein in den frenetischen Jubel des Publikums.

Keine Bange, werter Leser, Peter sollte hernach sein Autogramm noch bekommen. Vorher aber wurden wir Zeugen einer guten halben Stunde überwältigenden, sublimen Lärms, live noch stupender als auf Platte. „Fire“ loderte, „Hey Joe“ fraß sich in die Eingeweide, nachdem das quecksilbrige Neun-Sekunden-Intro die Bauchdecke durchbohrt hatte, „Red House“ setzte mit lyrischem Blues in Verzücken, „Purple Haze“ zerfetzte die amerikanische Hymne, von Hendrix maliziös angestimmt, und „Voodoo Chile“ verdichtete sich trotz Längen noch zu einem Finale furioso. Der Stuttgarter Musentempel wurde in seinen Grundfesten erschüttert.

Die restlichen zehn Minuten der Show gehörten dem bereits beklagten Schamanenunfug nebst Taschenspielertricks. Die umso saurer aufstießen, als dieses fulminante Trio keinerlei Blendwerk nötig hatte. Das ach so laszive Saitenliebkosen qua Züngeln war ja nicht einmal gefühlsecht. Zwar fuhr Jimi seine Zunge in beträchtlichem Umfang aus, doch berührte sie die Saiten nicht. Weshalb sich der Illusionist solange mit dem Rücken zum Auditorium positionierte. Schlimmer freilich fand ich, dass mit „Sunshine Of Your Love“ ein ungeliebter Song der von mir ohnehin wenig geschätzten Konkurrenzgruppe Cream zur Aufführung kam, wenn ich mich recht entsinne. Oder war es „White Room“? Gleichviel, es war ein Lapsus, auch wenn die Experience-Version von erbaulicher Brachialität war. Um wieviel mehr hätte mich indes „The Wind Cries Mary“ erfreut, „Stone Free“ oder „3rd Stone From The Sun“. No such luck.

Fast forward. Mein letztes Hendrix-Konzert erlebte ich keine zwei Jahre später, auf der Isle Of Wight. Ein gigantisches Festival, sowohl was die Zuschauermassen als auch den Auftrieb an Künstlern betraf. The Jimi Hendrix Experience gab es nicht mehr, Redding war ausgestiegen, man war im Unfrieden geschieden. Dennoch prangte der verheißungsvolle Band-Moniker noch auf Plakaten an den Zufahrtsstraßen. Kein gutes Omen.

Ein Etikettenschwindel, der dann beim Auftritt wenig schmeichelhafte Vergleiche nach sich zog. Mit gehörigem Understatement als „the man with the guitar“ angekündigt, fiel Jimis Darbietung mitten in die Nacht, so wie jene der Doors. Und wie der Auftritt letzterer geriet auch seiner eher uninspiriert, halbgar, torpid.

Hendrix spielte fahrig, zuweilen wie geistig abwesend, seinem Ruf als Virtuose und Show-Dynamo nicht ansatzweise gerecht werdend. Eine Jam-Session nur über weite Strecken, samt Schlagzeugsolo und Missachtung des Publikums. Das schlief mittlerweile mehrheitlich, der Rest war müde und zeigte sich vielleicht auch deshalb wenig beeindruckt. Ich war hellwach, saß keine 20 Meter von der Bühne entfernt, wusste aber nicht so recht, ob ich mich über den anämischen Bass von Billy Cox mehr ärgern sollte als über das schläfrige Desinteresse der Umliegenden, ob das Anrufen von Unteroffizier Pepper und seiner herzigen Vereinskapelle meine Sympathie für Hendrix nachhaltig beeinträchtigen würde, ob mir „Machine Gun“ nur so überhaupt nicht zusagte, weil es eben so hieß, und ob ich nicht besser meine exorbitanten Erwartungen in die für Herbst angekündigte Solo-LP gewaltig drosseln sollte, um schlimmen Enttäuschungen vorzubeugen.

Immerhin war ich noch lange nicht damit fertig, eine eben erst erlebte üble Überraschung zu verdauen. Als Festival-Sensation angekündigt und auch von mir als langjährigem Bewunderer von The Nice mit Spannung erwartet, sollte eine medial bereits mit tonnenweise Vorschusslorbeeren überhäufte Supergruppe Weltpremiere feiern: Emerson, Lake & Palmer. Man hatte sie eigens zur Primetime ins Programm eingebaut und Fanfaren und Kanonendonner (no kidding!) aufgeboten. Kurzum, das Festival kreißte hysterisch und gebar ein Monstrum.

Eingedenk dessen erschien mir Jimis unspektakulärer, bisweilen spröd-zersplitterter Blues-Rock viel weniger langweilig, als er es wohl tatsächlich war. Er war um Haltung bemüht, das imponierte mir. Der Gitarrist nahm sich zurück, improvisierte streckenweise lustlos, straffte sich dann aber wieder und ließ hier und da sein Genie aufblitzen, viel zu selten zwar und nicht annähernd so vereinnahmend wie er es bei größerer Konzentration fraglos gekonnt hätte, aber die Fähigkeit dazu hatte ihm längst geraubt, was damals noch Rauschgift genannt wurde, im heutigen Sprachgebrauch indes so klingt, als kaufte man es in der Drogerie. Jimi Hendrix verließ die Bühne, so nahm ich das seinerzeit wahr, in Würde, winkend.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates