Schnelles Tanzbein plus klarer Verstand

Claudia Roth, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/ Die Grünen, über ihren Musik-Tipp fürs neue Jahrzehnt

Mein heißer Tipp für alle Freunde des Elektro-Punk-Hop-Protestsongs ist Rainer von Vielen und Band, vier Allgäuer Buben, die für das Anarchisch-Emotionale des Landstrichs stehen, aus dem auch ich komme, und die absolut Bayern sind, mit einem ganz neuen „Heimat“-Sound. Kennengelernt habe ich sie beim Brecht-abc-Festival in Augsburg. Dort schufen sie den Soundtrack für das hochkarätige Literaturfestival. Seither bin ich eingeschworener Fan und gehe in die Konzerte, wann immer ich kann.

Das wichtigste Stilmittel der Band ist Rainer von Vielens tieftöniger Kehlgesang, der einem die Bauchdecke vibrieren lässt. Dazu kommen ein bezaubernd offensiver Michi („Mitsch Oko“) Schönmetzer an der Gitarre, ein verschlossen intensiver Dan le Tard am Bass, und Niko Lai, der mit hartem und präzisem Schlagzeugspiel die Band nach vorne treibt.

Die reale Reizflut der Welt in die Musik hineinzunehmen, um daraus ein widerständiges musikalisches Ganzes zu machen, das ist ein Grundkonzept von Rainer von Vielen, der nicht zufällig auch den Protestsong-Contest des österreichischen Radiosenders FM4 gewonnen hat. Gut deutlich wird dieses Konzept im genialen Song „Innen an Außen“ von der ersten, noch selbst produzierten CD. Oder auch in „Asche zu Asche“, dem für mich besten Stück der neuen „Milch und Honig“-CD: „Asche zu Asche, über mein Haupt, Asche zu Asche – zu Staub“ – das sind wahre Aschermittwochs-Exerzitien des Punk-Hops!

Umgehauen haben mich Textstellen wie aus „Der Abstand“ von ihrer zweiten CD „Kauz“: „Freiheit ist der Abstand von Jäger und Gejagtem!“ – ein Satz des chinesischen Dichters Bei Dao, der nach dem Massaker auf dem Tien-An-Men-Platz China verlassen musste. Immer wieder geht es um Freiheit in einer durchgecheckten Welt.

Rainer von Vielen – das ist Intensität pur: Abrocken, Mitsingen – vom ersten Ton an. Aber es gibt auch eindringliche Momente der Ruhe, vor allem beim Superhit: „Summ, summ, summ“, ein Stück für Stimme und Akkordeonsolo – ein Mutmach-Lied hart am Rande der Verzweiflung. Rainer von Vielen und Band sind für mich der heiße Musik-Tipp für die 2010er-Jahre – schnelles Tanzbein plus klarer Verstand!

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