Schwere Pop-Epidemie vom Fischkutter

Als vor vierzig Jahren mit Radio Caroline der erste englische Piratensender den Betrieb aufnahm, begannen die Sixties erst richtig zu swingen

Als Ronan O’Rahilly l961 nach London kam, war er jung, vermögend, ehrgeizig, abenteuerlustig und musikverrückt, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Er stürzte sich in den Musikbetrieb, war Manager und Promoter, führte einen Club, gründete ein Label. Alles nicht ohne Erfolg, aber auch ohne den letzten Kick. Als Spross einer „Familie von Aufrührern“, so bezeichnete er seinen Clan nicht ohne Stolz, war das buchhalterische Tagesgeschäft nicht nach seinem Geschmack. Ronans Großvater, Rädelsführer des Oster-Aufstands, war 1916 in Dublin von den Engländern erschossen worden, und der Enkel fühlte sich berufen, die hehre Familientradition des Widerstands gegen Willkür und staatliche Gängelung fortzuführen. Was er dann auch tat, keineswegs zufällig an Ostern.

Während seiner Londoner Lehrjahre war Ronan O’Rahilly schmerzlich bewusst geworden, dass im Verwertungskreislauf der Ware Pop eine gewaltige Lücke klaffte. Sie kam im Radio kaum vor. Die alte Tante BBC hatte zwar gönnerhaft ein paar Sendeplätze für aktuelle Hits und Wunschprogramme reserviert, doch sorgten sogenannte „needletime restrictions“ dafür, dass nur ein gewisser Anteil der ausgestrahlten Musik von Platte kommen durfte. Die restliche Sendezeit wurde mit laschen Orchester-Versionen beliebter Popsongs bestritten, die eigens zu diesem Zweck im berühmten „Broadcasting House“ aufgenommen wurden. Eine so teure wie umständliche Regelung, über deren strikte Befolgung die mächtige Musicians Union wachte. Die Gewerkschaft fürchtete um die Jobs ihrer Mitglieder und stemmte sich vehement gegen den vermehrten Einsatz von Tonkonserven im staatlich kontrollierten Rundfunk. Und einen anderen gab es nicht.

Eine absurde Situation. Während die Beatles als Vorhut der „British Invasion“ den amerikanischen Kontinent mittels Schallplatten umkrempelten und sich der gesamte Globus 45-mal in der Minute zu drehen schien, schickte die „MU“ ein Memorandum an Unterhaus-Abgeordnete mit der Überschrift „Records Are Killing Music“. Nein, von dieser BBC war Pop nicht zu kriegen. Und Radio Luxembourg, das abends in englischer Sprache sendete, war nur schlecht zu empfangen. O’Rahilly war nicht der Einzige, der darunter litt, nur der Erste, der Abhilfe schuf. Begeistert vom lockeren Ton amerikanischer Radio-DJs und inspiriert durch das Beispiel des holländischen Radio Veronica, plante er seinen Coup. Und so wurden an Ostern 1964 ein paar Radiohörer eher zufällig Ohrenzeugen einer denkwürdigen Premiere. „Hello, and Happy Easter, to all of you“, meldete sich eine Stimme, „this is Radio Caroline on 199, your all day music Station. We are on the air every day from 6 to 6, and the first record is by the Rolling Stones…“

Die Stimme gehörte Chris Moore. Was die paar Hörer, aus deren Empfänger „Not Fade Away“ schepperte, nicht wussten: Moore und sein DJ-Kollege Simon Dee saßen nicht in einem warmen, geräumigen Studio, sondern in einer engen, zugigen Kajüte im Bauch eines Schiffes, das vier Meilen vor der Küste von Essex vor Anker lag. Ein umgebauter Fischkutter, dessen Sendemast doppelt so hoch aufragte wie der Schiffsrumpf lang war, und den sein Eigner Ronan O’Rahilly „MV Caroline“ getauft hatte.

Das Equipment war bescheiden. Plattenspieler, Tonbandgerät, Mischpult, eine Cartridge-Maschine für die Jingles, Mikrofone und spartanisches, aber stabiles Mobiliar, alles verteilt auf ein paar schwankende Quadratmeter. Von Piraten-Romantik keine Spur. Und doch ein durchschlagendes Erfolgsmodell. Radio Carolines Ankunft sprach sich herum wie ein Lauffeuer, die flotte Mischung aus brandneuen Beat-Singles und informierter Ansprache elektrisierte mehr als nur eine Generation. Wenige Tage nach Ostern bereits brachte das Versorgungsboot Postsäcke mit 20 000 Briefen von dankbaren Hörern.

Undenkbar, dass die forschen Klänge aus Liverpool und der ungestüme Rabatz aus London eine so grenzenlose Verbreitung gefunden, dass die britische Musikszene eine so irrlichternde Vielfalt an Stilen und Sounds hervorgebracht, und dass die popkulturelle Entwicklung in dieser aufregenden Ära ein so atemberaubendes Tempo vorgelegt hätte ohne die Pirate Stations. Plural. Denn das Beispiel machte schnell Schule. Mit Radio Caroline North machte eine Filiale in der Irischen See auf, südlich von Radio Scotland. Von ihren Schiffen vor der Themse-Mündung konkurrierten Radio England, Radio London, Radio 390, Radio City und Radio Essex. Außerhalb der Vier-Meilen-Zone, mithin sicher vor staatlichem Zugriff, in internationalen Gewässern.

Die Plattenfirmen glaubten sich im Paradies und belieferten die Piraten mit Platten ohne Ende, in England allein stieg die Zahl tragbarer Radios in drei Jahren von rund zwei Millionen auf mehr als 20 Millionen, die „Times“ diagnosizierte eine grassierende „Pop-Epidemie“. Fans in halb Europa klebten nächtens an ihren Transistorgeräten. Und lauschten mit Hingabe ihren Lieblings-DJs: Emperor Rosko, Kenny Everett, Tony Blackburn und Johnnie Walker auf Radio Caroline. Oder Dave Lee Travis, der sich später allerdings als TV-Kasper beim „Beat-Club“ blamierte. Auf der Frequenz von Radio London lauschte man Dave Cash oder John Peel, jeder DJ eine Persönlichkeit mit eigenem musikalischem Profil. Die Auswahl war enorm, alles schien hunky dory.

Doch in Wahrheit hatten sich längst dunkle Wolken über den Piraten-Schiffen zusammengebraut. Nicht von der Sorte, die hin und wieder im Schlepptau eines Sturms über sie hinwegzogen, die See aufwühlten und die Schiffe gefährlich schlingern ließen. Nein, die britische Labour-Regierung holte zum entscheidenden Schlag gegen die Störenfriede aus. Mit der Verabschiedung des „Marine Offences Act“ im August 1967 ließen sich nun drakonische Strafen verhängen. Die öffentliche Entrüstung war groß, es gab Demonstrationen und Petitionen, ohne Erfolg indes. Die Piraten stellten den Sendebetrieb ein. Nur einer nicht Ronan O’Rahilly hielt das Free-Radio-Banner hoch und ging konsequent in die Illegalität, Radio Caroline blieb auf Sendung, viele Jahre noch. Derweil die BBC zur Befriedung der Pop-Fans mit Radio One ihre eigene Musikwelle installierte, am Mikro die ehemaligen Pirate-DJs. If you can ‚t beat ‚em,join ‚em.

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