Silbermond und Sterne

Berliner Selbstverständnis und Mannheimer Söhne, Hamburger Schule und Weilheimer Kunststücke: Seit den Neunzigern ist die heimische Szene vielfältiger denn je. Und alle freuen sich - bis auf die Popgelehrten, die mit ihren Erklärungsmustern längst ins Schleudern gekommen sind.

Irgendwie hat es sich in den Köpfen festgesetzt, dass eine deutsche Rockgruppe gefälligst auch den Soundtrack zum Deutschen Herbst von 1989 geliefert haben soll. Seitdem sind im kollektiven Gedächtnis der historische Mauerfall und die sentimentale Schunkelnummer „Wind Of Change“ von den Scorpions fest miteinandner verschweißt. Und fälschlich, denn veröffentlicht wurde die Ballade erst 1990, zum Hit sogar erst 1991. Und die andere halboffizielle Hymne zur Wende, Westernhagens nicht minder gefühlsduseliger Feuerzeugschwenker „Freiheit“? Auch ein Missverständnis, und eines von 1987 noch dazu. Für beide, die Scorpions wie den Westernhagen, bedeutete der richtige Song zur ungefähr richtigen Zeit einen warmen Spätsommer eigentlich abgeschlossener Karrieren. Die Realität der deutschen Top Ten sah im November 1989 allerdings ganz anders und wesentlich banaler aus. Platz 1: „Lambada“ von Kaoma, Platz 2: „Girl I’m Gonna Miss You“ von Milli Vanilli, und unter „ferner“ liefen Gestalten wie Phil Collins („Another Day In Paradise“), Billy Joel („We Didn’t Start The Fire“) und Tina Turner („The Best“).

An der Qualität der Charts indes hat sich bis auf den heutigen Tag kaum etwas geändert. Pumpende Animier- (z.B. Scooter) oder solide Gebrauchsmusiken (z.B. Pur) dominieren nicht nur seit 20 Jahren, sondern von je her und überall den Markt, denn solches liegt in seiner Natur. Dass sich dort derzeit auch ein Jan Delay findet, steht allerdings zeichenhaft für eine nicht unwesentliche Veränderung in Produktion und Rezeption deutscher Pop- und Rockmusik. Ungeachtet der ungebrochenen Produktion von dümmlichem Sondermüll nämlich haben sich im musikalischen Sektor ganz deutlich Anspruch und Output erhöht. Es ist etwas passiert. Wann? Warum? Und wo?

In Berlin jedenfalls nicht. Heute gefeiert und bewundert als weltbürgerlicher Schmelztiegel und „Aushängeschild“ modern-urbaner Clubkultur, war die Stadt noch zu Beginn der neunziger Jahre wie benommen vom plötzlichen Zusammenwachsen zweier Welten, die nicht wirklich zusammengehörten. Was damals und in den unmittelbar folgenden Jahren aus Berlin kam, davor musste man wegen seiner experimentellen Radikalität (Einstürzenden Neubauten) oder ungebrochenen Popularität (Die Ärzte) schlicht Respekt haben – oder es mit der Lupe suchen (wie eine wegen ihrer Erfolglosigkeit schon legendäre Band namens Mutter).

Die Wiedergeburt (oder besser: Geburt) intelligenter deutscher Rock- und Popmusik fand unterdessen anderswo, nämlich in Hamburg statt. Nicht unerklärlicherweise, aber doch eher zufällig brach dort das Goldene Zeitalter an – und nicht in Berlin oder Köln oder München. Grund war die Gründung des Labels „L’Age d’Or“ durch Carol von Rautenkranz und Pascal Fuhlbrügge, der damals bei der Kolossalen Jugend noch Gitarre spielte. Zusammen mit Cpt. Kirk und Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs bildete diese Band die Keimzelle dessen, was der taz-Journalist Thomas Groß programmatisch und unter Anspielung auf die „Frankfurter Schule“ der Philosophie die „Hamburger Schule“ nennen sollte. Und jetzt wird’s kompliziert. Weniger wegen Texten wie „Nacht kommt ‚ran / Nachtgang für mich / Und hin und her einen auf Ende / Kraft, redet nicht / Zur Party, Musik für mich / Blutjunge hört Feier in Hamburg / Nacht für mich / Zur Party, wachhalten, weitersehen / Wachmachen, wachhalten“ (usw, aus: „Grüße und Lügen“ von Kolossale Jugend, 1990). Sondern weil, wie es sich schon fast gehört für „legendäre Bands“, eigentlich kaum jemand die Kolossale Jugend, Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs, Cpt. Kirk, Huah! oder die politisch motivierten Diskurs- und Artpunks von Die Goldenen Zitronen wirklich jemals … gehört hat, damals. Geschweige denn gekauft. Auch heute existiert im Netz nicht einmal eine einzige freie MP3-Datei dieser „Begründer der deutschen Indie-Szene“. Woraus sich der seltsame Schluss ableiten lässt, dass die Erneuerer des hiesigen Pop alles andere waren als populär.

Zunächst war es also nicht die Masse, sondern ein kleiner Zirkel aus „Spezialisten“, der hier etwas Neues witterte – es schlug die Stunde der akademisch geschulten Geschmackspolizisten, auch dies ein speziell deutsches Phänomen. Plötzlich schrieben hier also Leute über Musik, die bei Fatboy Slim angeblich nicht ans Tanzen, sondern „an Martin Kippenberger“ („Spex“) und bei Blumfeld, warum auch immer, an den marxistischen Philosophen Antonio Gramsci („Der Freitag“) denken mussten. Es begann also zeitgleich mit der Hamburger Schule, als deren wichtigste (und, wie sich herausstellen sollte, einzige) Übung sich das mühsame Zurechtschwurbeln spätsozialistischer oder gleich kryptomarxistischer Begründungen dafür etablierte, warum eine Platte nun gut und eher nicht so gut sein sollte. Man könnte auch sagen: Aus Furcht vor der schnöden Empfehlung flüchtete sich hier eine ganze Generation ambitionierter Kritiker (und verhinderter Soziologen) vorwärts auf das dünne Eis einer Gesellschaftskritik, die allerdings nicht von diesen Kritikern selbst, sondern von der Popmusik zu leisten sei. Lieb‘ Vaterland, magst ruhig sein, fest steht und treu die Stilwacht an der Weser. Es gibt weltweit kaum unüberwindlichere und verwirrendere Grenzen als die in Deutschland zwischen Musik, bei der „was geht“ – die also gleichsam eine geschmackspolizeiliche Aufenthaltserlaubnis für die Charts vorweisen kann – und solcher, die „gar nicht geht“.

Musik hören ist Konsum – also böse, böse

Ein wichtiges Werkzeug, mit dem vor allem Popschreiber wie mit einem geschliffenen Stahlkeil permanent jedes Genre in immer kleinere Sub-, Subsub- und Subsubsubgenres unterteilen, ist das der „Distinktion“. Wer unterscheidet, etwa zwischen „diskutabel“ (Blumfeld) und „indiskutabel“ (Münchener Freiheit), der verrät damit in erster Linie etwas über seinen Willen zur Abgrenzung. Und dieser Wille scheint, nach Pierre Bordieu, eine der wichtigsten Motivationen überhaupt zu sein, seine Geschmacksvorlieben zu artikulieren. Ganz gleich, ob es nun um Möbel, Turnschuhe, Speisen, Filme oder eben Musik geht. So erzbürgerlich diese Einstellung also auch sein mag, so progressiv gaben sich ihre Protagonisten. Als hätten sie sich beim Musikhören dabei ertappt, dass das Hören von Musik ja auch eine Form von Konsum ist – und also böse, böse. Wie überhaupt jedes private Vergnügen, das sich nicht sogleich in politische Großzusammenhänge stellen lässt, als reaktionär zu gelten hat. Bemüht war diese radikale Haltung schon immer, regelrecht grotesk wurden die theoretischen Verrenkungen, als ausgerechnet die Vorzeige-Nachdenk-Gruppe Blumfeld plötzlich musizierte wie die Münchener Freiheit und textete wie Reinhard Mey. Da war dann von irgendwelchen „antihegelianischen Impulsen“ die Rede und von der „Dialektik der Verweigerung“, und am liebsten hätte man diese selbstgerechten Geschmacksjakobiner geschüttelt und gerufen: „Hey, es ist doch, mit Verlaub, nur Musik!“

Apropos Musik: Rein musikalisch konnten sich Mitte der neunziger Jahre doch noch Künstler durchsetzen, die’s verdient hatten – wie Blumfeld, die Sterne oderTocotronic. Ganz ohne theoretischen Überbau und geplagt eher von der Sorge, seitens der deutschtümelnden Quotenforderer einvernommen zu werden. Was sich zu diesem Zeitpunkt leider längst eingebürgert hatte, war der streberhafte Genre-Begriff „Diskursrock“, weil die Texte nicht ganz so tralala und schubidu waren wie sonst in dieser Branche üblich. Aber „Diskurs“, das stinkt auch schon wieder nach Proseminar und falsch verstandenem Michel Foucault, denn: Wann bitteschön ist ein Popsong ein „erörternder Vortrag“? Und vor wem? Worüber? Was hat Pop mit Jürgen Habermas zu tun? Muss ich den Poststrukturalismus verstehen, damit mir „Die Kapitulation“ von Tocotronic gefallen kann? Von diesem Ballast befreit musizieren Bands der „zweiten Welle“ der Hamburger Schule, Tomte, Kettcar oder Kante. Hier wird weit weniger verschlüsselt und kaum noch „politisch“ aufgetreten, im Mittelpunkt stehen zwischenmenschliche Beobachtungen. Ästhetisch gesehen nährt und unterhält dieses musikalische Studentenfutter freilich nur mäßig.

Tatsächlich trat damals einfach nur die deutsche Sprache in ihr Recht – und mit ihr junge Musiker, die anstelle des hundertfach Runtergeträllerten das Poetische, das Unerwartete, das Nachdenkliche setzen wollten und setzten. Das Fundament für diese deutschen Texten war übrigens in einem ganz anderen Genre gelegt worden, dem HipHop, der mit „Die da!?“ 1992 aus seinem Ghetto ausbrach und eine neue Selbstverständlichkeit im Umgang mit der Muttersprache mit sich brachte – und zugleich das schleichende Ende des sich selbst bestätigenden Phantasmas von der großen, stilprägenden Metropole einläutete. Wenn auch nicht immer wortgewaltig, so doch meistens wortwitzig wurde gerappt in Stuttgart (Die Fantastischen Vier), Hamburg-Eimsbüttel (Absolute Beginner), Pinneberg es sich schon fast gehört für „legendäre Bands“, eigentlich kaum jemand die Kolossale Jugend, Ostzonensuppenwürfel-(Fettes Brot) oder Frankfurt-Rödelheim (Rödelheim Hartreim Projekt). Rückblickend erscheint da sogar der religiöse Übereifer, mit dem Soulsänger Xavier Naidoo seine eher provinzielle Heimatstadt Mannheim zum „neuen Jerusalem“ verklärte, nachgerade prophetisch. Die erfolgreichste Musik, die heute von Jugendlichen für Jugendliche gemacht wird, kommt aus Städten wie Gießen (Juli), Bautzen (Silbermond) und Magdeburg (Tokio Hotel). Und die wichtigste Metal-Kapelle des Landes ist zugleich ihre wertkonservativste und kommt aus der alten Stahlschmiede Essen (Kreator).

Originär einheimisch ist gar nichts mehr

Vielleicht ist das auch deswegen so, weil, wer geliebt werden will, nicht cleverer und ambitionierter erscheinen darf als jene, die er erreichen will. Der enorme Erfolg von Gestalten wie Pur oder Grönemeyer, aber auch von Westernhagen, Wolfgang Petry oder Christina Stürmer lässt sich zu einem guten Teil auf ein Merkmal zurückführen – da singt jemand über Sachen, die wir kennen, in einer Sprache, die wir verstehen. Deshalb beschränkt sich auch der andernorts neu aufblühende progressive Rock, so er teutonischer Provenienz ist, auf das zutiefst lahme und sklavische Nachspielen alter Genesis-Konzeptalben – man will den Hörer ja nicht überfordern. Zeichnet sich eine Gruppe wie Wir Sind Helden, Begründer dieser Allerneuesten Deutschen Welle, noch durch Wortwitz und poetischen Wagemut aus, beschränken sich sämtliche ihrer Nachfolger auf reichlich leichtverdauliche Texte, die manchmal wirklich besser in einer ihren Sinn verhüllenden Fremdsprache aufgehoben wären. Plattitüden sind eben von je her wesentlich leichter zu schlucken, wenn sie in englischer Sprache serviert werden. So musste sich etwa die französiche Popgruppe Phoenix jahrelang den Vorwurf der Arroganz gefallen lassen, weil sie sich mit Blick auf einen globalisierten Musikmarkt bewusst der Muttersprache verweigerte.

Ob wir hierzulande nun von HipHop, Indie oder dem eingedeutschten Chanson einer Annett Louisan sprechen – originär einheimisch ist daran gar nichts mehr. Selbst Rammstein, die auch wegen ihres gewagten Spiels mit faschistischer Ästhetik international erfolgreichste Band aus deutschen Landen, nennt etwas großspurig „Neue Deutsche Härte“, was eigentlich nur notdürftig eingedeutscher Industrial ist. Und Tokio Hotel treffen den Nerv einer globalisierten Jugend nicht weil sie deutsch, sondern weil sie selbst mit ihrem Mix aus fernöstlichen (Manga) und anderen subkulturellen Zeichen (Gothic) dermaßen überfrachtet sind, dass ihr betuliches Spiel in aller Welt verstanden wird. Wer wirklich an echte deutsche Traditionen der Unterhaltungsmusik anknüpfen wollte, der müsste sich schon an die „Dreigroschenoper“ (wie Slut aus Ingolstadt), die Gassenhauer der Goldenen Zwanziger (wie der fürchterliche Max Raabe), den Krautrock (wie das zergrübelte Indie-Kollektiv The Notwist aus dem bayerischen Weilheim) oder die Elektronik halten – womit wir dann doch wieder in Berlin und der dortigen Clubszene wären.

Niemand, der dem modernen Pop die Pleite bescheinigen wollte, würde dafür ausgerechnet und ernsthaft die „Aufnahmetechnik“ als Beispiel heranziehen. Dennoch ist es ziemlich genau zehn Jahre her, dass eine findige Softwarefirma ein Programm entwickelt hat, mit dem allen, die im Studio keinen Ton zu treffen imstande sind, geholfen werden kann. Seitdem dominieren nicht mehr in erster Linie die Musiker, sondern Applikationen wie „Autotune“ die Charts. Der Schriftsteller Max Goldt notierte neulich, „dass kommerzielle Popmusik von heute im großen und ganzen genauso klingt wie die vor zehn Jahren. Nie zuvor hat sich die Aufnahmetechnik so wenig weiterentwickelt wie im letzten Jahrzehnt. Es spricht einiges, jedoch nicht alles dafür, dass Popmusik ein weitgehend abgeschlossenes Kapitel ist“. Im Lichte dieser Erkenntnis: Kann es sein, dass das Angebot an qualitativ Hochwertigem derzeit höher ist denn jemals zuvor? Gibt es also die richtige Musik in der falschen Zeit?

Halten wir es vorsichtshalber mit Arthur Schopenhauer, der schon vor mehr als 150 Jahren über die Musik sagte: „In dieser Sphäre finden Beweise nicht statt“.

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