Soldatin, Schamanin, Stillsitzerin

Die Dokumentation „The Artist Is Present“ zeigt wie Marina Abramoviæ zum ersten großen Popstar der Performance-Kunst wurde

Klaus biesenbach, Chefkurator am Museum of Modern Art (MoMA) in New York, ist sichtlich besorgt. Im Atrium seines Hauses sitzt die Künstlerin Marina Abramovic, 63 Jahre alt, bewegungslos und schweigend an einem Tisch. Schon seit 20 Tagen, jeden Tag mindestens sieben Stunden. Ihr gegenüber steht ein zweiter Stuhl, auf dem Besucher Platz nehmen, ihr in die Augen sehen, über Blicke kommunizieren können. Viele sind tief berührt, sprechen von einer quasi-religiösen Erfahrung. 75 Tage oder genau 716 Stunden und 30 Minuten will Abramovic durchhalten. Doch im Augenblick hat sie unvorstellbare Schmerzen.

„Die Wärter sind zu mir gekommen und haben gesagt, sie machen sich große Sorgen um Marina. Ich habe mit ihr gesprochen und ihr angeboten, die Performance abzubrechen, wenn sie glaubt, dass es zu gefährlich für ihre Gesundheit werden würde“, erzählt Biesenbach im aktuellen Dokumentarfilm „The Artist Is Present“, der die Künstlerin bei der Vorbereitung und Durchführung der gleichnamigen MoMA-Aktion im Frühjahr 2010 begleitet. „Doch sie sagte sofort nein, daran sei überhaupt nicht zu denken, das wäre für sie absolut keine Option.“ Ein leichtes Befremden, aber vor allem tiefer Respekt liegen in seinem Blick.

Abramovic hält durch. Die Sitz-Aktion, eigentlich „nur“ das Herzstück einer groß angelegten Retrospektive ihrer umfangreichen Arbeit als Performance-Künstlerin, wird ein gigantischer Erfolg. 850.000 Besucher haben am Ende sie und ihre Arbeiten der letzten 40 Jahre teils als Videoprojektionen, teils von jungen Performern wiederaufgeführt, gesehen. Weit über 1.000 Menschen saßen tatsächlich vor ihr, viele warteten tagelang auf einen Platz am Tisch, duldsam und ausdauernd. „The Artist Is Present“, so schreiben viele Kritiker, hat Marina Abramovic zum Star gemacht und der Performancekunst zum Einzug in den Kanon der Popkultur verholfen.

Anfang der Siebziger, als Abramovic, junge Absolventin der Akademie der Bildenden Künste Belgrad, im kommunistischen Jugoslawien anfing, ihre ersten Body-Art-Aktionen durchzuführen, hätte das sicher niemand für möglich gehalten. Damals schlugen ihr vor allem Unverständnis und Missachtung entgegen. Was angesichts der bis dato ungesehenen Drastik ihrer Performances vielleicht auch kein Wunder war. Die junge Künstlerin kämmte sich, bis die Kopfhaut blutete, schrie, bis ihr die Stimme versagte, tanzte, bis sie zusammenbrach. 1974 stellte sie sich in eine Galerie in Neapel, vor sich ein Tisch mit diversen Alltagsgegenständen und einem geladenen Revolver. Sechs Stunden lang sollte das Publikum mit ihr machen dürfen, was es will. Bereits nach der Hälfte der Zeit drohte die Situation zu eskalieren, als ihr jemand tatsächlich die Pistole an den Kopf hielt.

Abramovic überlebte all die selbst auferlegten Martern und entwickelte, basierend auf ihren körperlichen Extremerfahrungen, eine Art esoterische Privatmythologie, in deren Zentrum das öffentliche Ausstellen von Schmerz und dessen Überwindung stehen. Ziel der Leidens-Shows soll es sein, so beschreibt sie das immer wieder in Interviews, den Zuschauer emotional zu binden und einem anderen, konzentrierteren, irgendwie gegenwärtigeren Bewusstseinszustand nahezubringen. Militärische Strenge und Esoterik – aus dieser Kombination bastelt sich die Körper-Künstlerin, die übrigens nicht nur in Leidensposen, sondern auch in Designerkleidern sehr konsequent performt, über die Jahre das Image einer anti-intellektuellen Kunstschamanin, einer weisen Künstlerseele, einer sich für das Wohl der Menschen aufopfernden Kunstheiligen. Selbst ihre bizarre Kindheit unter der Fuchtel überstrenger Eltern scheint dabei perfekt ins Bild zu passen. Ihre Mutter, eine Kriegsheldin, erzog sie wohl so streng, dass sie nachts geweckt und bestraft wurde, wenn das Bett zu zerwühlt aussah. „Ich wuchs wie eine Soldatin auf“, sagt Abramovic in „The Artist Is Present“. Eine Grundausbildung für das, was schließlich den Mythos der „härtesten Künstlerin der Welt“ begründete.

Komplett wird das Abramovic-Bild doch erst durch die besondere Arbeits- und Liebesbeziehung zu ihrem Künstlerkollegen Uwe Laysiepen, genannt Ulay, mit dem sie zwölf Jahre lebte und performte: Er pflegt ihre Wunden, als sie sich mit einer Rasierklinge stundenlang einen Davidstern in den Bauch ritzt, sie verlieben sich unsterblich, treiben sich in gemeinsamen Aktionen an ihre Grenzen, und wandern schließlich 2.000 Kilometer auf der chinesischen Mauer aufeinander zu, um sich bei der Begegnung endgültig zu trennen. Man muss sich wirklich zusammenreißen, um von so viel tiefer Leidenschaft nicht bewegt zu sein.

Klaus Lüber

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