Spiel mir das Lied vom Tod

November 2008 Für „Palermo Shooting“ kehrte Wim Wenders nach 15 Jahren für einen Spielfilm nach Europa zurück. In Sizilien und seiner Geburtsstadt Düsseldorf drehte er mit dem Tote-Hosen-Sänger Campino und Dennis Hopper einen sehr persönlichen Film.

Diese Geräuschlosigkeit, wenn die DVD im Player verschwindet. Irgendetwas ist falsch daran. Mir fehlt das Surren des Filmprojektors, das ich immer noch im Kopf habe, wenn ich das Wort „Kino“ höre. Und das meine Erinnerung sofort zu Bruno führt, dem von Rüdiger Vogler gespielten schnauzbärtigen Sensibilisten in der Latzhose aus dem Film „Im Lauf der Zeit“. Ich sehe vor mir, wie er im Vorführraum an einem alten Projektor herumschraubt und sich von einem noch viel älteren Stummfilmmusiker von den Anfängen des Kinos erzählen lässt.

Meine Erinnerung wirft noch weitere Szenen aus diesem wunderbar sentimentalen homoerotischen Abenteuer an die weiße Wand. Robert (gespielt von Hanns Zischler), der mit seinem VW Käfer in die Elbe brettert, durchs Schiebedach aussteigt und schließlich klatschnass vor dem erstaunten Bruno steht, der dem Schauspiel zugesehen hatte, während er sich in der Kabine seines Möbelwagens rasierte. Keiner sagt ein Wort, beide giggeln irr.

Die Schüler, die ungeduldig im Kinosaal sitzen und darauf warten, dass der defekte Lautsprecher ausgetauscht wird, damit sie endlich den versprochenen Film schauen können. Und der nervöse Lehrer. Frank und Bruno, die mit ihren slapstickhaften Schattenspielen die Zeit überbrücken, als wollten sie sagen: Wer braucht schon Ton, wenn es Bilder gibt?

Der Aushilfsvorführer in einem Provinzkino, der sich bei einem Sexfilmchen einen runterholt, während das Zelluloid auf den Boden rinnt. Bruno, der sich beschwert: „Das Bild ist unscharf.“ – Und der ertappte Onanist: „Der Film ist doch scharf genug.“

All das sind Erinnerungen an ein Kino, das es schon lange nicht mehr gibt. Auch bei Wim Wenders nicht, der „Im Lauf der Zeit“ 1976 drehte.

Ich habe mir den Film noch einmal angesehen – und all die anderen Wenders-Werke auch. Es dürften um die 20 sein. Lange Abende waren das, an denen meist nicht viel passierte. Landschaften und Städte zogen auf dem Fernsehschirm vorbei, Männer schauten aus Fenstern und Windschutzscheiben, schwiegen oder packten ihre tiefsinnigen Gedanken in seltsam ungelenke Sätze, suchten nach irgendwas – und wenn sie es fanden, dann nicht in der Welt, in die sie ausgezogen waren, sondern in sich selbst.

Nach einer Woche tat mir mein Rücken weh vom vielen Auf-dem-Sofa-Sitzen. Aber ich konnte nicht mehr aufhören. Ich war süchtig nach Wenders. Nach der Stille, der Langsamkeit, den Bildern. Ich träumte von dem verwirrten Mann mit der roten Schirmmütze in der texanischen Wüste, dem amerikanischen Freund mit dem Cowboyhut, dem todkranken Rahmenmacher Jonathan in seinem Laden, der kleinen Alice und ihrem genervten Begleiter, von den Engeln auf der Siegessäule, die auf in Peter-Handke-Sätzen denkende Menschen herabschauen. Ich verliebte mich noch einmal in Nastassja Kinski, und nach viereinhalb Stunden „Bis ans Ende der Welt“ konnte ich nur noch an Solveig Dommartin denken. Als ich wenig später las, sie sei Anfang 2007 gestorben, verpasste mein Herz für einen ewig währenden Augenblick seinen Einsatz, und ich spürte die Hand des Engels Cassiel auf meiner Schulter.

Die heimischen Filmvorführungen wurden zu einem abendlichen Ritual, verlangsamten den auslaufenden Tag. „Langeweile“, hat Walter Benjamin einmal geschrieben, „ist ein warmes graues Tuch, das innen mit dem glühendsten, farbigsten Seidenfutter ausgeschlagen ist.“ Wim Wenders muss diesen Satz kennen, denn es gibt kaum jemanden, der den edlen Stoff im Licht des Projektors – denn mit einem solchen gehören Wenders-Filme natürlich eigentlich vorgeführt – prächtiger schimmern lässt.

Also machte ich mich auf den Weg zum Kino – zurück zu den surrenden Projektoren -, um mir das neueste Wenders-Werk „Palermo Shooting“ anzuschauen. Eine erste, für das Festival in Cannes eiligst zusammengeschnittene Fassung des Films erhielt vom Publikum standing ovations, fiel bei der Kritik aber durch. Dennis Hopper sollte mir später berichten, er habe sich während der Vorführung gelangweilt. Hatte er das schimmernde Seidenfutter nicht gesehen? „Die Idee hat einen so langen Film einfach nicht getragen“, meinte er. Aber selbst Wenders war anscheinend mit der ersten Version seines Films unzufrieden und schnitt noch einmal um. Die Fassung, die ich schließlich sah, ist etwa eine Viertelstunde kürzer als die in Cannes gezeigte.

„Palermo Shooting“ erzählt die Geschichte des erfolgreichen Düsseldorfer Fotografen Finn (gespielt von Campino, dem Sänger der Toten Hosen), dessen hektisches Leben aus den Fugen gerät, nachdem er Bekanntschaft mit dem Tod (Dennis Hopper) machte. Er beginnt, an seiner Kunst, der Faszination der digital manipulierten Oberflächen, zu zweifeln und begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit dahinter. Er flieht aus der schlaflosen Modemetropole, in der die Tage wie die Nächte sind und die Nächte wie die Tage, an einen Ort des Träumens und Erwachens: nach Palermo (was übersetzt so viel heißt wie All-Hafen). Schließlich lernt Finn die Malerin Flavia (Giovanna Mezzogiorno) kennen, die gerade ein altes Fresko restauriert, und eine Liebesgeschichte bahnt sich an. Doch der Tod verfolgt ihn weiter, schießt Pfeile auf ihn ab, wie ein heimtückischer Attentäter.

Man könnte sagen, „Palermo Shooting“ ist ein metaphysischer Thriller. Zugleich aber ein philosophischer Versuch über die Fotografie, die Wahrnehmung der Zeit und die seherische Kraft der Songs, die Finn während seiner Reise auf dem MP3-Player hört. Für Wenders ist die Musik ein Lebensthema. Immer wieder beschwor sie in seinem Werk einen imaginären Sehnsuchtsort, der zugleich ein Fluchtpunkt vor der deutschen Vergangenheit war. Wenders versuchte, das Misstrauen gegenüber deutschen Geschichten und Mythen in der Nachkriegszeit und den Bruch in der deutschen Filmtradition zu kompensieren, indem er sich amerikanischen Erzählweisen wie Songs und Road Movies zuwandte. Seine frühen Filme waren Reisen, romantische Abenteuer, Fahrten durch Seelenlandschaften – Bewegung und innere Bewegtheit wurden eins. „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg“, schrieb einst Novalis.

Als ästhetische Referenzpunkte dienten Wenders ebenfalls amerikanische Vorbilder wie etwa die Gemälde von Edward Hopper in „Der amerikanische Freund“ oder Walker Evans‘ Fotografien aus der amerikanischen Depressionszeit, die er in „Im Lauf der Zeit“ auf die Straßen seines Heimatlandes projizierte. Wenn man nachvollziehen will, wie sich die bundesdeutsche Landschaft im Lauf der 70er-Jahre verändert hat, wird man keinen besseren Chronisten finden als Wenders. Als er Ende der Siebziger in die USA ging, um dort Filme zu machen, war das für ihn wohl eher ein Schock als eine Erfüllung seiner Sehnsüchte. Die Dreharbeiten zu seiner ersten US-Produktion „Hammett“ waren eine Katastrophe, die er in dem großenteils in Europa gedrehten „Stand der Dinge“ verarbeitete, und schon sein zweiter amerikanischer Film kreiste wieder um einen mit Sehnsucht aufgeladenen Nicht-Ort: „Paris, Texas“. Der Gitarrist Ry Cooder spielte dazu Harmonien aus einer fernen Zeit.

The Searchers

Als Wim Wenders an einem Film für Martin Scorseses „The Blues“-Projekt arbeitete, suchte er jahrelang nach einem Foto von Blind Willie Johnson. Denn der sollte neben Skip James und J.B. Lenoir der dritte Protagonist seiner Hommage an die schwarze Musik werden. Schließlich fand er ein winziges, fast holzschnittartiges Abbild des blinden Sängers aus Brenham, Texas, auf dem jedoch so wenig zu erkennen war, dass er sich bei seiner Inszenierung ganz auf sein Gespür verlassen musste. Den Film nannte Wenders nach einem Johnson-Song „The Soul Of A Man“.

Als ich Wenders Ende August zum Interview in Berlin treffe, habe ich ihm die Reproduktion eines Flyers von Columbia Records mitgebracht, den ein Freund vor ein paar Jahren in einem alten Plattenladen in Harlem gefunden hatte. Dort sind die Bestellnummern einiger Johnson-Singles aufgelistet – jede kostete 75 Cent -, darüber sieht man ein großes Foto des Künstlers. Blind Willie Johnson sitzt auf einem Schemel, hinter ihm ein Flügel. Er trägt einen grauen Anzug, weißes Hemd und Krawatte. Seine Gitarre ruht halb in seinem Schoß, halb hängt sie an einer dünnen Schnur, die über seiner linken Schulter verschwindet. Zwischen den geschlossenen Lippen und der markanten Nase wächst ein kleiner Schnauzbart. Er hat die Lider gesenkt und greift einen Akkord.

Wenders nimmt den Flyer in die Hand, schaut mit Cowboy-Augen hinter seiner Brille hervor. „Nein, das kannte ich nicht, als wir den Film gemacht haben. Ich habe das Foto allerdings dann später mal gesehen. Allerdings nicht so groß.“ Er hält sich das Bild ganz nah vors Gesicht, als suche er irgendetwas, das sich zwischen den Bildpunkten verbirgt. „Aber rein optisch waren wir gar nicht so weit entfernt vom echten Blind Willie Johnson, wenn ich das jetzt hier so sehe. Wir hatten die Rolle ja mit einem Gitarristen besetzt, dem Chris Thomas King. Die Frisur ist ein bisschen struppiger …“

Wenders legt das Bild auf den Tisch vor sich und schaut an die weiße Decke. Auf der Suche nach einer Erinnerung. „Sein, Dark Was The Night (Cold Was The Ground)‘ habe ich auf meiner Arbeitskopie von ‚Paris, Texas‘ als Temp-Track benutzt. Das habe ich dann Ry Cooder vorgeführt, als ich ihn anturnen wollte, die Musik zu dem Film zu machen. Das war auch so ziemlich die einzige Musik, die ich da ausprobiert habe. Ry hat sich das angeschaut und gleich gemurmelt:, So muss es sein!‘ Und dann hat er den Song auch ziemlich ausgeschlachtet, als er auf der Bottleneck-Gitarre den Soundtrack eingespielt hat, der in seinen Harmonien voll auf, Dark Was The Night‘ beruht.“

Die Songs, die Blind Willie Johnson 1927 für das Columbia-Label aufnahm, begleiten den heute 63-jährigen Wenders schon seit den 60er-Jahren. Er entdeckte sie damals auf einer „höllisch knisternden“ LP. Immer wieder habe er diese alten Stücke gehört, wenn er zu Hause gesessen und mit einem neuen Drehbuch gekämpft habe. „Blind Willie hat fast ausschließlich Lieder mit spirituellem Hintergrund gesungen, geradezu transzendentale Songs. Er war einer, der wirklich versucht hat, die Welt zu verstehen und irgendwie zu einer Essenz durchzudringen, ein richtiger Suchender. Das berührt einen nach wie vor existenziell, was dieser blinde Mann da singt.“

Vielleicht ist der Existentialismus aus den knisternden Rillen der Johnson-Platte in die Drehbücher von Wim Wenders übergesprungen. Auch seine Filme handeln schließlich von Suchenden, die – im wörtlichen oder übertragenen Sinne – blind sind. Das Nicht-Sehen-Können spielt bei ihm eine große Rolle. Auch in seiner Biografie. „Meine Lieblingstante – die Schwester meines Vaters, bei der ich oft in Ferien war – war blind“, erzählt er. „Als Kind habe ich mir oft vorgestellt, wie das wohl ist, nicht sehen zu können. Wie lange kann ich mit geschlossenen Augen durch die Wohnung laufen? Aber länger als zehn Minuten habe ich das nie durchgehalten. Meine Tante hat ihren Haushalt versorgt, Kuchen gebacken und mir zum Geburtstag jedes Jahr einen maschinengeschriebenen Brief geschickt. Sie ist als blinde Frau nach Rom gereist und nach Amerika geflogen. Sie hat ein Leben geführt, als ob das Blindsein kein Problem wäre. Sie hat deswegen auch meinen Film, Bis ans Ende der Welt‘ inspiriert. Und dann hatte ich einmal eine Netzhautablösung, vor circa zehn Jahren, wobei über einen Zeitraum von zwei Tagen, bis ich operiert wurde, das gesamte Gesichtsfeld wie von einem schwarzen Vorhang langsam abgedunkelt wurde.“

So wie Sam Farber, der Protagonist aus dem von der Lieblingstante inspirierten Film „Bis ans Ende der Welt“, der mit einer geheimnisvollen Kamera um die Welt reist, um Bilder für seine blinde Mutter aufzunehmen, war auch Wim Wenders lange Zeit ein Bildersammler. In seiner Hommage an den japanischen Regisseur Yasujiro Ozu, „Tokyo-Ga“ von 1985, wünscht er sich zu Beginn: „Wenn man doch nur so filmen könnte, wie man manchmal die Augen aufmacht. Nur schauen, ohne irgendetwas beweisen zu wollen.“

Wenders war 1983 mit dem Kameramann Ed Lachman nach Tokio gereist, um in der modernen Metropole nach Spuren des 1963 verstorbenen Ozu zu suchen. Doch schon sehr bald hatte er feststellen müssen, dass er nicht fand, was er ausgezogen war zu suchen. „Je mehr mir die Realität von Tokio als beliebige, lieblose, bedrohliche, ja sogar unmenschliche Bilderfülle erschien“, so Wenders in seinem Film, „umso größer und mächtiger wurde in meiner Erinnerung das Bild der liebevollen und geordneten Welt der mythischen Stadt Tokio aus den Filmen des Yasujiro Ozu. Vielleicht war es das, was es nicht mehr gab: ein Blick, der noch Ordnung schaffen könnte in einer heillosen Welt, der die Welt noch durchsichtig machen könnte. Vielleicht wäre so ein Blick auch einem Ozu heute nicht mehr möglich. Vielleicht hatte die hektisch wachsende Inflation von Bildern schon zu viel zerstört. Vielleicht sind Bilder, die die Welt einen und eins mit der Welt sein können, heute schon für immer verloren.“ Als Wenders einige Jahre später nach Tokio zurückkehrte, um dort für „Aufzeichnungen von Kleidern und Städten“ den japanischen Modedesigner Yohji Yamamoto zu treffen, stellte er fest, dass elektronische und digitale Bildformate geeigneter waren, das Leben in dieser Stadt einzufangen, als das geliebte Zelluloid. Diese Einsicht scheint bei Wenders eine Krise der Wahrnehmung ausgelöst zu haben. Mit dem digitalen Bild, so Wenders, verschwinde zugleich das Negativ, die fotografische Entsprechung zum Original in der Malerei. Somit hätten Bilder endgültig ihren Wahrheitsanspruch verloren. Wenders begann, an der Kraft der Bilder zu zweifeln. Und so entwickelte er sich in den letzten 20 Jahren vom Bildersammler immer mehr zum Allegoriker, der nicht mehr die eingefangenen Bilder erzählen ließ, sondern sie den Reflexionen und Deutungen seiner Protagonisten unterwarf.

Eine Entwicklung, die nun in „Palermo Shooting“ ihren Höhepunkt findet, denn die Tonspur scheint dieses Mal mehr Informationen und Bedeutungen zu transportieren als die Bilder. Diese wirken eher wie hübsche Illustrationen zu einer Geschichte, die sich in Songs und der Off-Stimme des Protagonisten fortbewegt. „Das ist natürlich Wims Absicht gewesen“, meint der Komponist und ehemalige Can-Keyboarder Irmin Schmidt, der den Score für „Palermo Shooting“ schrieb. „Die Songtexte sind auf den Film bezogen, der Film bezieht sich auf die Texte. Deswegen hatte ich mir auch vorgenommen, dass der Score ein fundamental anderes Gefühl haben muss. Dieser Finn beginnt ja erst im Laufe des Films, seine akustische Umgebung wahrzunehmen. Und diese Veränderung sollte auch durch die Musik erzählt werden. Deswegen muss die Musik nach und nach auch nachdenklicher und stiller werden.“ Der Soundtrack ist dem Auge in „Palermo Shooting“ immer voraus.

Die Angst des Fotografen vor dem Schuss

So wie Blinde sich nach ihrem Gehör richten, orientieren sich die Suchenden in den Filmen von Wim Wenders oft an populären Songs. Ja, die Musik, die sie hören, scheint eine Art songline in ihr Unbewusstes zu sein. So hat auch Finn in den Momenten, in denen er dem Trubel um sich herum entkommt, stets die Kopfhörer seines MP3-Players auf den Ohren.

„Finn ist Multitasker, viel beschäftigt und permanent überfordert. Da ist die Musik für ihn oft die einzige Möglichkeit, überhaupt auf dem Boden zu bleiben und sich zu erden“, erklärt Wenders. „Wenn man heute so durch die Stadt geht oder in der S-Bahn fährt, stellt man fest, dass es mehr und mehr Leute gibt, die mit Kopfhörern unterwegs sind. Ich setze mich häufig daneben und versuche herauszufinden, was sie da hören. Bei einigen ist das sofort klar. Da erkennt man es am Rhythmus – gerade bei jungen Leuten. Rap oder irgendein Techno oder so. Da geht es um eine Lebensart. Aber bei anderen fragt man sich: Warum fühlen die sich jetzt wohler mit der Musik? Ich glaube, viele sind überfordert von all den Sachen, die auf sie einströmen, und sie sind durch die Musik eher in der Lage, sich zu konzentrieren, ein Buch zu lesen oder eben überhaupt bei sich zu bleiben. Und bei Finn ist das ganz krass so. Ohne Musik wäre sein Leben noch zerfahrener, als es ohnehin schon ist.“

Doch während Blind Willie Johnson in seinen Songs Antworten auf die großen Fragen nach Gott und der menschlichen Seele sucht, scheint Finn nicht zu ahnen, dass man sich der Wahrheit durch die Musik nähern kann. Als er nur knapp einem Unfall entgeht und verstört durchs nächtliche Düsseldorf läuft, dringt Bonnie „Prince“ Billys „Death To Everyone“ durch die Kopfhörer seines MP3-Players an sein Ohr. Doch er merkt nicht, dass es gerade die hier besungene Todesangst ist, die ihn so aufwühlt.

„Musik macht einem oft erst richtig klar, worum es im Herzen geht“, so Wenders. „Es war eine Hauptidee zu dieser Geschichte, dass das Thema des Todes unbewusst bei Finn schon eine Rolle spielt, und er das auch schon zu hören bekommt, aber eben noch nicht zuhört. Er wird ja regelrecht drauf gestoßen …“ Am nachdrücklichsten geschieht das, als Finn in einer Kneipe sitzt und an der Jukebox den Velvet Unterground-Song „Some Kinda Love“ anwählt. Plötzlich, bei der Zeile „And some kinds of love are mistaken for vision“, erscheint ihm der leibhaftige Lou Reed und fragt: „What do you fear most, Finn? Death?“

Palermo Story

Wenders verbindet mit „Some Kinda Love“ eine Art persönliches Erweckungserlebnis. Er hat mal einen sehr schönen Text darüber geschrieben, welch entscheidende Rolle das dritte Velvet-underground-Album, auf dem sich dieser Song befindet, bei seiner Entscheidung, Filmemacher zu werden, gespielt hat. Ende der 6oer-Jahre war er als junger Filmstudent mit seinen Münchner Kommunarden auf dem Weg nach Palermo gewesen, um sich dort mit streikenden Hafenarbeitern zu solidarisieren. Doch Lou Reeds Songs hatten ihn zu der Erkenntnis verleitet, eher ein Beobachter und Erzähler zu sein als ein Aktivist. So kehrte er auf halbem Weg um und ging zurück an die Filmhochschule. Die Musik habe ihm damals das Leben gerettet, sagt Wenders heute. „Einige haben diese Juxaktion in Palermo mitgemacht. Aber für mich war eigentlich wichtiger, mich von all dem zu lösen. Losgesagt hatte ich mich damit von den Gewaltbereiten, die dann letztendlich bei der (palästinensischen Befreiungsbewegung) Al Fatah in irgendwelchen Ausbildungslagern gelandet sind. Von denen leben nicht mehr viele – doch, einer sicher noch: dieser unsagbare Rechtsaußenanwalt in Berlin, Horst Mahler. Der hat meines Wissens als Einziger von denen überlebt. Die anderen sind – so wie ich – nach Hause gefahren. Aber ich bin dann später ganz allein nach Palermo, weil mir das keine Ruhe gelassen hat, und für mich damals die Frage, Fahre ich mit denen nach Palermo oder nicht?‘ eine ganz existenzielle war. Wohin führt mein Leben jetzt? Sage ich mich von dieser ganzen Sache los?“ Und nun – fast 40 Jahre später – ist er noch einmal zurückgekehrt. Zunächst ohne richtigen Plan. Denn Wenders lässt immer noch lieber den Ort erzählen, als ihm eine Geschichte aufzuzwängen. Er ließ sich vom Sound der Stadt inspirieren, ihrer Geschichte und Geschichten, ihrer Musik, aber auch ihren Bildern. Im „Museum Abatellis“ entdeckte er das Fresko „II Trionfo della Morte di Palermo“ („Der Triumph des Todes von Palermo“) und sah einen Hauptakteur seiner Geschichte bildlich vor sich: den Tod, der mit Pfeilen seine Opfer erlegt.

In „Palermo Shooting“ arbeitet nun die von Giovanna Mezzogiomo gespielte Flavia an der Restauration dieses Bildes aus dem 15. Jahrhundert. Wenders hat die junge Restaurateurin als eine Art Gegenpol zu seinem Protagonisten Finn konzipiert. Während der seine Fotos in hektischen, mit lauter Musik beschallten Sessions schießt, ergibt sie sich in den fast meditativen Akt des Bewahrens alter Bilder. Ein Gegensatz, der laut Wenders durchaus mit einer sexuellen Konnotation zu lesen ist. „Flavia macht sich große Sorgen, dass sie da bloß nichts von sich aus in das Fresko hineinlegt, sondern ausschließlich das, was da mal war, wiederherstellt“, erklärt er. „Finn, ganz im Gegenteil, respektiert das, was ist, nicht. Er will die Dinge und die Welt neu zusammensetzen. Das ist schon eine existenziell gegensätzliche Weltsicht, die sich da oft genug zwischen Männern und Frauen auftut.“

Flavia ist eine für Wenders-Filme ziemlich typische Frauenfigur. Die Repräsentantin einer Art göttlichen Idee, die dem männlichen Protagonisten schließlich einen Ausweg aus seinem emotionalen Dilemma zeigt. Filmkomponist Irmin Schmidt muss diese quasi madonnenhafte Aura der Flavia gleich gespürt haben und hat ihr musikalisches Thema nach einem Motiv aus Bachs „Matthäus Passion“ gestaltet. „Die Idee mit Bach hatte ich ganz spontan beim ersten Screening“, so Schmidt. „Ich habe das Wim auch gleich gesagt, und der war – so glaube ich – ein bisschen geschockt. Aber er hat sich das kaum anmerken lassen.“

Wie sieht’s aus?

Für „Palermo Shooting“ kehrte Wim Wenders nach 15 Jahren erstmals wieder für einen Spielfilm nach Europa zurück. Und er drehte zum allerersten Mal in seiner Geburtsstadt Düsseldorf. Sein Hauptdarsteller stammt ebenfalls von dort: Andreas Frege alias Campino, Sänger der Toten Hosen, spielt den Finn. Der 46-Jährige begann seine ernsthafte Schauspielkarriere erst vor zwei Jahren in Klaus Maria Brandauers Inszenierung der „Dreigroschenoper“ in Berlin. „Zu Campino habe ich damals, als wir das (Toten-Hosen-)Video zu ‚Warum werde ich nicht satt‘ gedreht haben, gesagt:, Pass auf, wir machen demnächst mal einen Film zusammen!“‚, erinnert sich Wenders. „Der Mann hat einfach eine fette Präsenz vor der Kamera! Wenn man so will, ist das nichts anderes als eine ganz besondere Art von intuitiver Intelligenz im Bezug zu der Kamera, vor der man als Schauspieler steht, und zu der Rolle, die man spielt. Und diesen Instinkt hat Campi einfach. Ich habe das seitdem im Kopf behalten:, Wenn ich das nächste Mal in Deutschland einen Film mache, mache ich den mit Campino!“‚

„Ganz lässig hat er gesagt: Ich würde unbedingt gern mal mit dir was Richtiges machen“, erinnert sich Campino an diese Dreharbeiten von 1999. „Ich hab das als Kompliment gesehen, aber ich hatte das mehr oder weniger mit der Zeit auch vergessen und abgehakt, weil ich mir einfach vorgestellt habe, dass ein Mensch, der so sehr durch die Weltgeschichte treibt, sicher mit vielen Leuten gern mal etwas machen möchte.“

Der Kontakt zwischen den beiden blieb aber auch nach dem Video-Dreh bestehen, und Wenders ist niemand, der leichtfertig Versprechen gibt. Aber die Einlösung hat sich noch ein paar Jahre hingezogen, denn er blieb länger in den USA, als er ursprünglich vorgehabt hatte. Die Arbeiten an „Don’t Come Knocking“ mit Sam Sheppard zogen sich über viele Jahre. „Aber irgendwann dachte ich: Jetzt habe ich die Zeit, hier in Deutschland, oder in Europa, einen Film zu machen. Und da war die Besetzung mit Campino im Hinterkopf schon klar. Und als dann die Idee mit dem Fotografen dazukam, war schlagartig klar, dass das dann nur Campino sein könnte“, meint Wenders. „Die, Düsseldorfer Schule‘ ist ja nun tatsächlich die wichtigste fotografische Entwicklung im Nachkriegsdeutschland. Dazu kam, dass Campino einige dieser Fotografen auch noch kannte. Zumindest den Andreas Gursky kannte Campi schon lange. Andreas hatte z.B. schon ein Plattencover für die Hosen (,Reich & Sexy‘) gemacht.“

Er habe Campino die Rolle dann quasi auf den Leib geschrieben, so Wenders. „Er hatte das richtige Alter und ich fand auch, dass er die richtige Haltung dazu hatte. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Campi sowohl diesen berühmten, schnelllebigen, gewandten, ein bisschen arroganten Typen spielen konnte und gleichzeitig auch den Finn, der dann alles radikal infrage stellt.“

„Ich habe mich manchmal richtig erschrocken, als ich die ersten Ausführungen zum Drehbuch gelesen habe“, lacht Campino. „Ich habe gedacht: Wim hat mir in der letzten Zeit zu oft über die Schulter geguckt. Aber das Spannende war, dass wir beim Drehen im Grunde immer einen Road-Movie-Charakter beibehalten haben. Das heißt, nichts war vorher festgelegt. Er hat ständig am Drehbuch geschrieben, ein halbes Jahr lang. Ich habe bestimmt 20 verschiedene Drehbücher mit manchmal marginalen Änderungen oder aber auch starken Entwicklungen erhalten. Wir haben immer über den Stoff diskutiert und uns Gedanken über das Ende der Geschichte gemacht. Die endgültigen Dialoge zu den jeweiligen Szenen waren meist erst am Abend vorher klar. Es gab also keinen Grund, monatelang vorher die Texte zu lernen, weil das ständig im Prozess war.“

So wie Wenders aus Orten Geschichten entwickelt, gestaltet er die Figuren seiner Filme aus den Persönlichkeiten seiner Schauspieler. Er verlange von seinen Akteuren nicht unbedingt, eine Rolle zu spielen, sondern vielmehr, sich selbst zu zeigen, hat er einmal in einem Interview erklärt. Da war Campinos mangelnde Filmerfahrung kein Hindernis. „Ich habe das als Vorteil gesehen“, meint Wenders sogar. „Ich wollte unbedingt einen echten Komplizen haben für diesen Film. Jemanden, für den das keine Routine wäre. Keinen, der schon so lange Schauspieler ist, dass der Finn für ihn nur eine weitere Rolle gewesen wäre. Ich wollte jemanden haben, für den es existenziell genauso wichtig war, diese Geschichte zu erzählen, wie für mich – und genau so neu. Auch ich habe mich auf keine Routine verlassen.“

„Zwischendurch gab es manchmal Momente, in denen ich mich überfordert fühlte“, berichtet Campino. „Einmal bin ich nach Drehschluss zu Wim gegangen und habe ihm gesagt:, Du wusstest doch, dass das eine Nummer zu groß für mich ist. Wie soll ich das denn alleine tragen?‘ Wim hat mich dann ein bisschen jammern lassen – und am nächsten Tag ging’s weiter und alles war wieder okay.“ Wenders zeigt sich auch im Nachhinein noch begeistert von seinem Protagonisten. „Es war seine erste Hauptrolle, und es war klar, dass er sich da so reinschmeißen würde, wie einfach kein Schauspieler das tun würde. Dass er vor die Kamera treten würde, so wie er mit den Hosen auf die Bühne kommt: einfach alles geben. Was der alles gemacht hat im Lauf dieser Dreharbeiten! Das hätte ich im Ernst keinen Schauspieler gefragt – diese Laterne hochzuklettern, tatsächlich auf dem Bauch durch die Stadt gezogen zu werden, oder ins Hafenbecken zu springen. Campino hat das alles mit einer großen Selbstverständlichkeit gemacht. Vermutlich hätte er empört reagiert, wenn ich gesagt hätte:, Pass auf, ich besorg dir jetzt einen Stuntman, das geht so nicht.‘ Campi hat das Filmemachen durch diesen Film gelernt. Und auch ich hatte bei der ganzen Geschichte das Gefühl, so einen Film und so ein Thema, das kann man nur einmal machen. Dafür war Campino genau der richtige Alliierte.“

Eine gewisse Präsenz kann man Campino in seiner ersten Hauptrolle nicht absprechen, doch seine schlaksig-tapsige Körpersprache und sein Image als ehrlicher Punkrocker stehen ihm schon des Öfteren im Weg. „Ich stoße als Schauspieler immer wieder an meine Grenzen. Zum einen, weil ich relativ unerfahren bin, zum anderen, weil mir eine jahrelange harte Schule des Handwerks schlicht und einfach fehlt“, gesteht er. „Manche Szenen, die mir vorher schwierig erschienen, habe ich hoffentlich respektabel gemeistert.“

Als Charakter ist Campinos Finn nicht so recht überzeugend. Was aber wohl auch daran liegt, dass es Wenders und seinem Co-Autor Normann Ohler nur selten gelingt, die philosophischen Reflexionen über Leben und Tod in mundgerechte Dialoge zu verpacken. In einer Szene sitzt Finn auf der Terrasse eines Restaurants in Palermo, und sein Mobiltelefon läutet. Er geht ran mit den Worten „Wie sieht’s aus?“, und das ganze Kino muss lachen. In dieser lebensechten Äußerung scheinen Campino und Finn das erste und vielleicht einzige Mal in diesem Film wirklich eins zu sein.

Ansonsten läuft der Hosen-Sänger eher als Träger einer Wenderschen Idee durchs Bild. Mit seinem musikalischen Oeuvre nur soweit vertraut, wie es sich bei einer Jugend auf dem Land nicht vermeiden ließ, würde ich vermuten, das ist mehr, als er normalerweise zu tragen gewohnt ist. Er schultert die Idee mit großer Anstrengung, aber nicht ohne Würde. „Ich hatte beim Film wie beim Theaterstück eigentlich nur die Chance, dass der Kapitän – also Klaus Maria Brandauer beim Theater oder Wim beim Film – mich durchs unbekannte Gewässer führt“, erklärt Campino. „So gab es Szenen, die sind mir relativ leicht gefallen, weil ich Erfahrungen aus meinem eigenen Leben abrufen konnte oder ich mich da hineinversetzen konnte. Andere Situationen waren mir doch extrem fremd. Wenn du in Palermo nachmittags um 15 Uhr vor der Hauptpost stehst, 500 neugierige Zuschauer drei Meter entfernt hinter einer Absperrung lauern und der Regisseur sagt: Jetzt tu mal so, als ob die Erde sich um 90 Prozent dreht‘ – das sind Momente, in denen du total ins Schwitzen kommst und auch genervt bist, weil es dich überfordert. Da suchst du nur noch Hilfe beim Regisseur und hoffst, dass der dir sagt:, Beruhige dich, das wird gut aussehen.'“

In der Szene, in der er am besten aussieht, ist Campino allerdings nur Statist. Aber wer wäre das nicht, wenn er dem Tod gegenüberstünde? Zumal wenn der die diabolische Präsenz von Dennis Hopper hat.

Amerikanische Freunde

Dennis Hopper war für die Entscheidung des jungen Wim Wenders, Filmemacher zu werden, vermutlich ähnlich wichtig wie die Musik von Velvet Underground. Zum deutschen Kinostart von „Easy Rider“ hatte Wenders als Filmstudent ein Interview mit dem Hauptdarsteller Peter Fonda geführt. Doch später stellte er fest, dass sein Tonbandgerät nichts davon aufgezeichnet hatte. Ohne Zitate, zurückgeworfen auf seine eigenen Gedanken, schrieb er daher einzig über Hoppers Film und entdeckte dabei, was ihn daran so fasziniert hatte. „Es hat viel damit zu tun, dass ich noch nie gesehen hatte, wie jemand Handlung und Bilder so mit Musik verknüpft, wie Dennis es getan hatte“, erinnerte sich Wenders Jahre später in einem Gespräch mit Hopper. „Ich merkte gleich, dass diese Verbindung, diese Direktheit, die er dadurch gefunden hatte, etwas sehr Wertvolles war. Zwischen Rock’n’Roll und Film besteht dieser geheimnisvolle Zusammenhang, den bis dahin niemand wirklich entdeckt hatte, deswegen war, Easy Rider‘ ein echter Wendepunkt in meinem Verständnis für Film.“

Mitte der Siebziger traf Wenders den damals in Hollywood in Ungnade gefallenen Hopper in Paris. „Wir haben uns zum Abendessen getroffen“, erinnert sich Hopper. „Wim suchte nach jemandem, der den Ripley in seiner Adaption des Patricia-Highsmith-Romans ‚Ripley’s Game‘ spielen könnte. Er fragte John Cassavetes, und der hat meinen Namen ins Spiel gebracht. Nachdem Wim mich dann getroffen hatte, war ihm sofort klar, dass er seinen Ripley gefunden hatte.“ Am ersten Drehtag zu „Der amerikanische Freund“ – so sollte der Film dann später heißen – kam Hopper direkt vom Dreh zu „Apocalypse Now“ aus dem philippinischen Dschungel nach Hamburg. Als er aus dem Flugzeug stieg, trug er noch die Klamotten, mit denen ihn Francis Ford Coppola für seine Rolle als Filmjournalist eingekleidet hatte. Sogar eine Kamera baumelte ihm noch um den Hals. „Ich hatte mir im Urwald seltsame Schürfwunden und Schwellungen zugezogen“, lacht Hopper, „und Wim hat mich gleich ins nächste Krankenhaus gebracht, um alles untersuchen zu lassen. Er war wie einer dieser großen sanften Rettungshunde mit einem Fass Brandy um den Hals.“

In den ersten Tagen des Drehs kam es dann zwischen dem Improvisationskünstler Hopper und dem peniblen Schweizer Theatermimen Bruno Ganz, der die zweite Hauptrolle spielte, zum Eklat. „Wir haben uns damals ziemlich geprügelt, aber ich habe keine Ahnung mehr, warum eigentlich“, sagt Hopper und lacht. 30 Jahre später ist er nun wieder in einem Wenders-Film zu sehen. „Wim rief mich an“, so Hopper, „und sagte:, Ich schreibe gerade ein Drehbuch und habe die Idee für eine Rolle, die nur du spielen kannst. Wenn du Zeit hast, bei diesem Film dabei zu sein, schreib ich sie rein. Ansonsten fällt sie raus.‘ Ich habe dann in meinen Terminkalender geguckt: Und da waren ein paar Tage für Wim frei.“ Diese Rolle – Wenders fand sie auf dem Fresko in Palermo – wollte er sich wohl auch nicht entgehen lassen. „Ich spiele den Tod“, lacht Hopper. „Sie haben mich ganz schön zurecht gemacht, die Haare und Augenbrauen abrasiert, mich geschminkt und in ein fahles Licht getaucht. Ich sehe wirklich zum Fürchten aus.“

Im Drehbuch trägt Hoppers Figur den Namen Frank. „Keine Ahnung, ob sich das auf Frank Booth bezieht“, meint der Mime unschuldig. Aber selbstverständlich ist diese Namensgebung eine Anspielung auf den zynisch-perversen Nihilisten, den Hopper in David Lynchs „Blue Velvet“ spielt. „Das ist sozusagen der archetypische Dennis Hopper geworden“, so Wenders, „dieser abgrundfinstere, irgendein Zeug sniffende Drogenknilch, den er da spielt. Und der Dennis mal war, und so gar nicht mehr ist. In, Palermo Shooting‘ spielt Dennis jetzt das Gegenbild zum Frank bei David Lynch: einen zarten, ganz liebevollen Charakter. Er hat die Nase gestrichen voll davon, der Böse, also letzten Endes immer wieder der Frank zu sein.“

Man muss wohl sehr weit zurückgehen, um eine ähnlich absurd-komische Figur wie diesen liebenswerten Tod mit seinem Image-Problem in einem Wenders-Werk zu finden. Vielleicht Ivan Desny als lebensmüder Industrieller in „Falsche Bewegung“. Hoppers Rolle ist eher klein, und man mag seine wenigen Szenen als launige Lynch-Referenz abtun – aber paradoxerweise ist diese märchenhafte Gestalt zugleich die überzeugendste Figur in „Palermo Shooting“. Und gerade in dieser Umkehrung des Lynch-Charakters steckt der ganze Wenders. „Auf eine merkwürdige Art und Weise sind David und ich Antipoden“, so Wenders. „Und Antipoden haben natürlich doch ganz viel miteinander zu tun. Wenn ich irgendwas nicht bin, dann ist es zynisch. Wobei man sagen muss, dasselbe gilt für David Lynch, wenn man ihn kennt. Ich kenne ihn ein bisschen – seit 30 Jahren schon.“

Wenders und Lynch haben beide eine künstlerisch desaströse Zeit bei Francis Ford Coppolas Produktionsfirma American Zoetrope verbracht und sich dort angefreundet. „David hat den Film, den er machen wollte, überhaupt nicht machen können“, erinnert sich Wenders. „Und ich habe unter fürchterlichen Geburtswehen schließlich, Hammett‘ rausgedrückt. Wir kennen uns also schon seit Ende der 70er-Jahre, und ich weiß daher, was für ein unglaublich liebevoller, innerlicher, freundlicher Mensch der David ist. Er kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Aber in seinem Werk lässt er praktisch immer den Berserker (lacht) raushängen.“

Wenn er sich einen neuen Lynch-Film anschaue, könne er meist nicht glauben, was er da sehe, so Wenders. Für ihn sei sein amerikanischer Freund, der ja vor einigen Jahren die David Lynch Foundation for Consciousness Based Education and World Peace ins Leben rief, ein „transzendentaler Teddybär“. „Vielleicht ist das auch sehr amerikanisch“, versucht er eine Erklärung. „Sozusagen eine Verarbeitung der Welt um einen herum, aber eben nicht aus einem selbst heraus, sondern nur aus dem Gegenbild von sich selbst.“

Der Gegenschuss

„I see the world from a reverse angle“, sagt Frank in „Palermo Shooting“, als Finn ihn schließlich in der Dachkammer eines Hauses in dem kleinen italienischen Städtchen Gangi aufspürt. Frank sieht das Leben von seinem Ende her. „Das deutsche Wort für reverse angle – Gegenschuss – ist gar nicht schlecht“, kommentiert Wenders. „Finn kriegt ja den Gegenschuss direkt vor den Latz gesetzt.“

Der Tod ist der Pfeil, der uns aus der Zukunft entgegengeflogen kommt. Und Hoppers Frank, der Wärter der Zeit, ist sein Schütze. Zudem ist er ein Moralist und Ästhet, ein Bewahrer des Wahren und Schönen – und ein Medientheoretiker. „Dennis spielt das mit einer wunderbaren komödiantischen Hingabe, finde ich“, so Wenders. „Allein was er da alles mit seinen Gesten veranstaltet! Ich finde es irgendwie witzig, wenn der Tod sagt: Also ihr mit eurer digitalen Fotografie pfuscht mir da so richtig ins Geschäft! Das schmeckt mir gar. Ihr stehlt mir die Ethik zu meinem Beruf!“‚

Die Szene spielt auf einen Essay der amerikanischen Kulturwissenschaftlerin Susan Sonntag an, in dem sie schreibt: „Jede Fotografie ist eine Art memento mori, Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit der Menschen (oder Dinge).“ Finn aber lässt jede Erinnerung an den Tod aus seinen Bildern verschwinden, tilgt die Vergänglichkeit, indem er alles nachbearbeitet und ausbessert. Und da es in der digitalen Fotografie kein Negativ mehr gibt, gibt es auch keinen Weg zurück zum ursprünglichen, eigentlichen Bild. „You lose the essence, Finn, and you’ve lost it too often“, hält Frank dem verängstigten Fotografen vor. „Und was er mit der Essenz meint, ist eben der Wahrheitsbezug“, erklärt Wenders. „Das ist für Finn wirklich ein Fremdwort., real‘! Das ist sozusagen ein four-letter word für ihn. Eher ein Schimpfwort, da will er nichts mit zu tun haben. Aber was der Frank meint, hat Hand und Fuß. Er meint, Finn habe einfach das Gefühl dafür verloren, dass in der Fotografie ein Bezug hergestellt wird zwischen etwas, was es gibt, und jemandem, der sich davon ein Bild macht. Finn macht sich von nichts mehr ein Bild. Er benutzt alles nur noch als Material für Bilder. Und darüber beschwert sich Frank.“

Große Themen, schwere Gedanken, die jedoch durch Hoppers Spiel eine Leichtigkeit bekommen, die man so in einem Wenders-Film schon lange nicht mehr gesehen hat. „Das ist natürlich auch ironisch“, meint Wenders. „Diese ganze Kiste mit der Fotografie. Aber man kommt um diesen Satz nicht herum: Fotografie bedeutet, dem Tod bei der Arbeit zuzuschauen. Man muss sich nur alte Bilder angucken. Es muss gar nicht der Blind Willie Johnson sein. Es genügen auch die eigenen Fotos aus der Kindheit, wenn die Eltern nicht mehr drauf sind oder Geschwister oder irgendwelche Freunde schon längst tot sind.“

Der Tod bei der Arbeit

Im Sommer 2007 hatte Wenders sich in einem Gasthof im kleinen sizilianischen Dörfchen Gangi einquartiert, um an der ersten Fassung des Drehbuchs zu „Palermo Shooting“ zu arbeiten. „In dem einzigen Café im Zentrum saßen jeden Tag der Bürgermeister, der Kulturassessor und der Lehrer“, erzählt er. „Und nach einer Weile wussten auch alle, warum ich da war und wer ich war. Abends haben wir immer zusammen unseren Wein dort getrunken. Und eines Abends saßen alle ganz bedrückt da, als ich hereinkam und sagten:, Was, du weißt noch nicht? Der Bergman ist gestorben!‘ Die hatten noch ein richtiges Kinowissen in Gangi. 3000 Einwohner und trotzdem ein Kino! Das ist echt ungewöhnlich. Und dann saßen alle ganz bedröppelt da.“

In einer Hommage an Ingmar Bergman, den er 1996 als Präsident der Europäischen Filmakademie ablöste, hat Wenders in den Achtzigern mal erläutert, wie ihn dessen „europäisches Angst- und Grübelkino“ abwechselnd angezogen und abgestoßen hatte. Näher als in „Palermo Shooting“ ist er dem schwedischen Existenzialisten – zumindest thematisch – aber wohl noch nie gekommen. „Nicht lange bevor ich mit der Arbeit an dem Drehbuch begonnen habe, hatte ich mir, Das siebente Siegel‘ noch einmal angeguckt“, so Wenders.

„Wenn man einen Film schreibt, in dem jemand den Tod trifft, dann gibt’s überhaupt keinen anderen Bezugsfilm. Das Drehbuch, an dem ich arbeitete, hatte also tatsächlich etwas mit Bergman zu tun.“ Am Morgen nach Bergmans Tod, als Wenders wieder nach Gangi hereinfuhr, hielt ihn an der einzigen Kreuzung der Schutzmann des Dorfes an. „Ich habe schon gedacht, ich sei zu schnell gefahren. Also habe ich mein Fenster runtergedreht: ‚Was gibt’s denn?‘ Und er sagt ganz traurig:, Heute Nacht ist auch Antonioni gestorben.‘ Das kann einem doch auf der ganzen Welt nirgendwo passieren als in so einem kleinen Kaff in Italien! Er war sehr mitfühlend, weil er wusste, dass wir mal einen Film gemeinsam gemacht hatten.“

Wenders hatte 1995 mit dem bereits durch einen Schlaganfall halbseitig gelähmten 83-jährigen Antonioni an dessen Film „Jenseits der Wolken“ gearbeitet. Seine Erinnerungen an dieses Projekt beschrieb er später eindrucksvoll in seinem Buch „Die Zeit mit Antonioni“. Und auch während er in Gangi arbeitete, dürfte er oft an seinen italienischen Kollegen gedacht haben. Schließlich handelt „Palermo Shooting“ von einem Fotografen – und welcher Film sollte einem zu diesem Thema einfallen, wenn nicht Antonionis „Blow Up“? Wenders nickt. „Ich kenne keinen anderen Film, der das Thema des Fotografierens so ernsthaft behandelt. Heute wäre dieser Film natürlich ganz undenkbar. Durch die digitale Fotografie ist seine Geschichte obsolet geworden. Aber trotzdem ist er natürlich der Referenzfilm schlechthin.“

Fast scheint es, als hätte der Tod – dieser Ästhet und Wärter der Zeit – mitgeschrieben am Drehbuch zu „Palermo Shooting“. „Genau in dieser Zeit waren die Themen meines Films beim Schreiben klar herausgekommen. Es ging um den Tod – und es ging um die Fotografie. Schon verrückt, dass da am gleichen Tag die beiden Meister, die diese Themen behandelt haben, gestorben sind. An diesem Abend bin ich dann nach Hause gegangen und habe auf die erste Seite des Drehbuchs geschrieben:, Michelangelo und Ingmar gewidmet‘.“

Wenn Beth Gibbons am Ende von „Palermo Shooting“ weltvergessen ihr „Mysteries“ singt („And all the moments that I enjoy/ A Place of love and mystery/ I’ll be there anytime“), stehen da nun diese beiden Namen, die an die große Zeit der surrenden Filmprojektoren erinnern, an ein Kino, das es so schon lange nicht mehr gibt.

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