The Indoor Type: Erinnerungen an den Rolling Stone Weekender 2012

Tradition verpflichtet: Wie schon in den vergangenen Jahren hatten wir auch 2012 Redaktion und Mitreisende gebeten, ihre Essenz des Rolling Stone Weekender in kurze Texte zu packen. Hier gibt's unsere kleine Sammlung mit Gastauftritten von Tocotronic, den Fischbröchten, Van Dyke Parks, zotteligen Rindviechern und Sharon Stoned.

Lasst ältere Männer um mich sein! – von Arne Willander

Im nebligen November ist es eine bizarre Vorstellung, dass es im kühlen Weißenhäuser Strand auch einen Sommer gibt – und dass in  der Ferienanlage glückliche Familien urlauben, morgens beim Edeka einkaufen und in der Boutique „Kalinka“, dass sie auf der Renaissance-Piazza in der Einkaufspassage spazieren und auf der patinierten Minigolf-Anlage einputten. Vor unserem Condo schiebt am frühen Vormittag eine vermummte Mutter einen Kinderwagen auf den Weg, sie tut dies eilig und fest entschlossen, so als könnte jeden Moment die Erfrierung einsetzen. Und wer zwischen den Hauswürfeln rauchen oder am Deich wandern will, der braucht eine wetterfeste Ausrüstung von Reinholdmessnerschen Ausmaßen. Von der Wasserrutsche ist manchmal freudiges Kinderkreischen zu hören. Und wieder tragen die Tindersticks ihre viel zu kurzen englischen Mäntel und  ziehend die Schultern hoch. 

Aber da: Vor dem immer staunenswerten italienischen Restaurant sitzt, sommerlich gelaunt, der drollige Van Dyke Parks mit dem strengen Kritiker Wolfgang Doebeling, dessen Schirmmütze sogar am finsteren holsteinischen Abend ewigen Sonnenschein verheißt. Ballonmützen, Schals, Funktionskleidung, Parkas: So wappnen wir Warmduscher uns gegen die grimmige Witterung. Aber der Weekender ist ein Festival der älteren Herren, bei denen die Wärme aus dem Herzen kommt und die kalifornische Temperatur inwendig ist. Die „Heroes And Villains“ singen, an Orangenkartons denken und die Wonnen des Meeres. Die in ozeanischer Gelassenheit auch in bizarrer Architektur ausharren und die Zeit auf ihrer Seite haben. Mag ja sein, dass gerade alle zu Polica rennen – solche Attraktionen kommen und gehen, aber ihre Halbwertszeit ist  nur ein Wimpernschlag im Vergleich mit „Song Cycle“.

Als ich das Zelt verlasse, um gleich in die überdachte Passage einzubiegen, spricht mich ein viriler Herr im besten Mannesalter an: „Ein Wort zu „Psychedelic Pill“ von Neil Young? Bringt’s die?“

Die bringt’s, Alter.

Best of… – von Sebastian Zabel

BESTE BÜHNENSHOW: Das Dschungel-Restaurant. Steaks und Fritten unter den alle fünf Minuten wackelnden Ohren einer Kunststoffgiraffe, das ist schon großartig. Extrapunkte für die alle zwanzig Minuten tönende Urwald-Combo.

BESTE TEXTZEILE: „ROLLING STONED WEEKEN“ – ein Scherzbold hatte des Nachts den riesigen, beleuchteten Rolling-Stone-Weekender-Schriftzug auf der Düne manipuliert.

BESTE BEATS: Beim Auftritt von Polica. Zwei parallel spielende Schlagzeuger und der hervorragende Bassist Chris Bierden lieferten einen mächtigen, elegant wummernden Sound, über dem Channy Leaneaghs klare, halbzarte Stimme Flügel bekam.

BESTES CATERING: Die Leberkäs-Brötchen vor dem großen Zelt. Trotz der traditionell wunderbaren Fischbrötchen.

BESTE TÄNZERIN: Hannah Cohen. Die zarte, Patchwork-Weste tragende Sängerin, deren verwehte Stimme beim Auftritt im Witthüs fast im Gelärm der trinkfreudigen Tresengäste unterging, rockte anschließend die Tanzfläche der Indie-Disco. Ein attraktiver Kontrast.

Wir möchten noch mal Teil einer Jugenbewegung sein – von Maik Brüggemeyer

Da hat Dirk von Lowtzow von Tocotronic doch tatsächlich „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ gesungen. Und wir haben alle herzlich gelacht, mit Blick ins weite Rund des Zeltes und auf die vier ehemaligen Hamburger Schüler, die ihre Trainingsjacken vor langer Zeit in den Schrank hängten und sich zuletzt einige Platten lang professoral an Fin-de-Siècle-Dekadenz abarbeiteten. Aber irgendwie war doch auch etwas Wahres dran an diesem „Digital ist besser“-Evergreen, denn nicht wenige Besucher waren gekommen, um den süßen Vogel Jugend mal wieder für ein Wochenende aus dem Käfig zu lassen, in Erinnerungen zu schwelgen und zugleich neue, aufregende Musik zu entdecken. Jugend ist schließlich heute keine Frage des Alters mehr, sondern eine der Gelegenheit.

Van Dyke Parks etwa, der – zumindest auf dem Papier – mit 69 Jahren älteste Künstler auf dem diesjährigen Weekender, wechselte in seinem Set feixend immer wieder die Gestalt, gab Lausbube und Lehrer Lämpel, Musikhistoriker und Rocker (darauf habe er, wie er sagt, ein Anrecht; schließlich sei seine Schwägerin mal für einen Tag die Freundin von Elvis Presley gewesen). Am Klavier sitzend, die Augen auf dem Laptop spielte Parks Popsongs aus zwei Jahrhunderten; Klassiker aus eigener Feder, aber auch von Louis Moreau Gottschalk, John Hartford und Lowell George. Am Bewegendsten war eine beseelte Version des Reverend-Gary-Davis-Gospels „Death Don’t Have No Mercy“ in der Zugabe. „Hey, ich bin jetzt alt/ Hey, bald bin ich kalt“, sang Dirk von Lowtzow ein paar Stunden später in einem neuen Song. Und wir haben alle herzlich gelacht.

„I lied about being the outdoor type“ – von Daniel Koch

Schon seltsam, wie man so tickt. Es ist ja nicht so, dass der Weekender arm an gelungenen Konzerten war. Polica wäre da zu nennen, oder Bat For Lashes, die Tindersticks, Van Dyke Parks und natürlich Father John Misty. Und trotzdem war der glänzendste Moment ein anderer. Nur ein paar Worte von einem Mann, den viele schon abgeschrieben haben, über eine Band, die kaum noch jemand kennt. Evan Dando sprach diese Worte – und er tat das kurz bevor er den altbekannten „Outdoor Type“ spielte, der ja ganz vorzüglich auf ein Indoor-Festival passt. Ich liebe diesen Song. Er stand für mich für die Emanzipation des eigenen Musikgeschmacks, war eine Perle, die ich selbst entdeckt hatte, auf einem Album, das ich mir von einem Dealer des Vertrauens auf einer Plattenbörse hab aufschwatzen lassen. „Outdoor Type“ fand sich eine Weile auf jedem Mixtape, das ich verschenkte. Und ich spielte den Song meiner damaligen Freundin so oft vor, dass sie ihn am Ende ebenso liebte. Dieser Schlagzeugbeat am Anfang, diese wundervolle, nölige Stimme von… eben nicht Evan Dando, sondern von Christopher Uhe. Ich habe nämlich tatsächlich erst später erfahren – ich glaube sogar bei einer WDR Rocknacht, auf der die Lemonheads spielten -, dass dieser Song gar nicht von der von mir so geschätzten Band aus dem OWL-Kreis kam, sondern den Lemonheads bzw. von Tom Morgan. Tja, die Band, um die es hier geht, ist natürlich Sharon Stoned und genau die würdigte Dando mit den einfachen Worten: „This one is for Sharon Stoned“. Als er diesen Satz sagte, jagte es mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper, weil dieser kleine Song, seine Geschichte und seine Bedeutung für mich in diesem Moment wieder voll da waren – und von den dankbaren Worten Dandos irgendwie noch zusätzlich veredelt wurden. Schon seltsam, wie man so tickt…

Der Tag danach – von Cathrin Schmiegel

Ich persönlich bin ja großer Fan dieser „Der Tag danach“-Momente; der retrospektiven Festivalbetrachtung, die man am besten auslebt, wenn man noch mal über die Örtlichkeiten des Geschehens flaniert. Als Gefühl der „Post-Konzert-Melancholie“ könnte man das auch beschreiben. Begleitet wird jene zumeist – das muss man ehrlich zugeben –  von einem kleinen, spitzen Stechen in der Schläfengegend, das dem etwas zu ausgedehnten Besuch des Afterhour-Etablissements geschuldet ist. Im Falle des ROLLING STONE Weekenders meint man damit das Witthüs. Dass dieses dank Hannah Cohen kurz zuvor noch in ruhigerem Licht erstrahlte, scheint zu späterer Stunde schon fast vergessen.

Wenn ich mir ein Festival am Morgen nach dem letzten Gig und dem Feiern danach noch einmal ansehe, ist das Bild recht oft ein ähnliches: Quält man sich endlich aus dem Zelt, überblickt man einen wüsten Campingplatz, viele Übermotivierte haben die Schlafstätte schon abgebaut. Verstreut liegen die pfandfreien – weil aus Österreich „importierten“ – Bierdosen. Klappstühle mit passender Halterung liegen vornüber gekippt da und man muss noch irgendwie das Panzertape vom Pavillon puhlen, während man dennoch bei sich denkt: „Schon wieder vorbei, schade. Aber schön war’s.“

Der ROLLING STONE Weekender ist darin- und nicht nur darin – ein wenig anders. Klar, das Aus-dem-Schlafplatz-Zwingen ist dasselbe, nur dass es sich hier um das Bett in einem Apartment handelt. Auch ist man ja der Arbeit wegen hier und muss – und ja, darf – noch zu dem Dreh der ROLLING STONE-Session mit dem tollen Indie-Rock-Duo Two Gallants. Verabredet bin ich um 11 Uhr, um Adam und Tyson abzuholen. Das Set dafür wird vorher von uns aufgebaut. Und da hätte man wieder die schöne „Post-Konzert-Melancholie“ in all ihrer Pracht: Auf dem Weg durch die Galerie des Weissenhäuser Strands, vorbei an hochgeklappten Plattenladen-Ständen und Restaurants in Ostsee-Ambiente, schmunzelt man noch über Erlebnisse der vergangenen zwei Tage. Wo gerade durchgefegt wird und ansonsten Stille herrscht, diskutierte man gestern noch über beste Auftritte und das Essen im „Abenteuer-Dschungelland“. Nur liegen hier keine abgefertigten Besucher herum, und von leeren Bechern fehlt jede Spur. Auch sonst ist niemand da, und so haben wir die Spielhalle mit Flippern und Bowlinghalle für uns, die als Drehort dient. Tyson redet noch über seine eigenen Erfahrungen mit dem Witthüs, unser Videomann Timo bastelt gekonnt an der perfekten Kameraeinstellung herum, und dann geht es auch los mit meinem persönlichen Highlight des Festivals: Two Gallants lassen den „Tag danach“-Moment kurz verblassen und spielen unplugged den Song „Broken Eyes“. Die polierten Bahnen im Hintergrund runden das Bild ab. Dann klingt  leider auch schon die letzte Note dieses tollen Stücks an, man baut ab und denkt bei sich: „Schon wieder vorbei, schade. Aber schön war’s!“

Heirate mich, J. Tillmann! – von Lena Ackermann

Was war das schön anzusehen, wie Natasha Khan im bodenlangen Feengewand grazil über die Zeltbühne schwebte, das Mikrofon umschlang, „Laura, you’re more than a superstar“ hauchte oder frohgemut mit roter Rassel und Tamburin hüpfte. Ein wenig enttäuschend dagegen Spiritualized, allerdings nicht, weil die Musik schlecht gewesen wäre, sondern weil sich zum Auftritt nicht viel sagen lässt: Im „Baltic“-Festsaal, der durch tief hängende Decken und klaustrophobischen Charme besticht, konnte ich aus keinem Winkel auch nur den kleinsten Blick auf die Band erhaschen.

Eine noch größere Enttäuschung hatte ich bereits kurz nach der Anreise erleben müssen, als beim Spaziergang zur Ostsee auf den Dünen nur mehr mit brackigem Wasser gefüllte Badewannen von den Rindern zeugten, deren Anblick mir auf der Hinfahrt versprochen worden war. Allerdings bestätigte sich meine Vermutung, den Rindern sei der Ostwind wohl zu frisch, nicht – und beim samstäglichen Morgenspaziergang ließen sich zu meiner großen Freude gleich drei zottelige Wollrinder mit eindrucksvollen Hörnern blicken, die nun für die Ewigkeit auf meinem Smartphone eingespeichert sind.  Neben den rothaarigen Wollrindern entzückte das Meerschweinchenrudel, welches sich im Eingangsbereich des Dschungelrestaurants tummelte und dort herzallerliebst am Stroh nagte. Das putzige Rudel milderte die Enttäuschung, die der fade Burger hinterließ, den die „Rangerinnen“ im Restaurant zu den Dschungelpommes reichten.

Kein bisschen fade war dagegen der Auftritt von Father John Misty, der eigentlich Joshua Tillman heißt und ohne Frage der Sexiest Man des Weekender-Festivals war. Große Gesten, schmieriges Posing, geile Songs und wahnsinnige Stimme: Heirate mich, J. Tillmann! Die umfangreiche Band um Father John Misty hätte übrigens um ein Haar mit einem Mann weniger auskommen müssen. Während ich meinen Dienst am Rolling-Stone-Info-Stand verrichtete, erfragte sich ein abgerissener Herr mit strähnigem Haar und neongrünen Fingernägeln den Weg zur „Rondell-Stage“. Nach fünf Minuten erschien er nochmals: Das Rondell habe er entdeckt, aber wo genau sei denn nun der Backstage-Eingang  zu finden? An den grün leuchtenden Fingernägeln des Bassisten von Father John Misty konnte ich erkennen: Mein Rat, einmal um das kleine Häuschen herumzugehen, ward befolgt und die Hintertür zum Rondell gottlob gefunden.

Der Raum, den man nicht sieht – von Rebekka Endler

Es gab einen Strand mit zotteligen Rindviechern zum Streicheln. Einen psychedelischen Schlund mit Zähnen zur Elektro-Combo Animal Collective. Sensationelle Aalbrötchen am Fischbüdchen. Und die entzückende Natasha Khan alias Bat For Lashes, deren Enthusiasmus auf der Bühne einem die Kriechkälte aus den Gliedern trieb. Alles Höhepunkte dieses gelungenen Festivals, doch mein schönstes Erlebnis habe ich am unwahrscheinlichsten Ort: dem viel verspotteten Baltic-Festsaal.

In Deutschland noch recht unbekannt, spielt die US-Band Blind Pilot einen Mix aus Folk, Pop und Americana. Wunderschöne Harmonien zwischen Leadsänger Israel Nebeker und Banjo/Hackbrettspielerin Kati Claborn tragen die Songs durch den Raum, den man nicht sieht. Der Blick auf die Bühne ist komplett verstellt, niemand, der nicht das Glück hat, in der ersten Reihe zu stehen, sieht was – macht aber nichts. Blind Pilot sind aus der Hipster-Hochburg Portland, Oregon, doch wer jetzt den üblichen Indie-Folk-Sound erwartet, liegt falsch. Einziges Indiz ihrer Herkunft bleiben karierte Holzfällerhemden, die alle Bandmitglieder tragen. Sie spielen mal galoppierende Rhythmen mit einem Touch Calexico, mal Wohlfühl-Arrangements á la The Shins, mal ein bisschen Balladenhaftes nach Art von von Belle And Sebastian.

Für etwa 45 Minuten zieht ein warmer Süd-West-Wind aus den USA über den Ostseestrand. Plötzlich tut sich der Himmel auf in diesem 80er-Jahre-Tanzschulsaal, dessen Decke mitsamt geometrischem Gebamsel aus Glas und Chrom einem auf den Kopf zu fallen droht, und gibt die Sicht frei auf ein Lagerfeuer irgendwo in der amerikanischen Steppe. Darauf noch ein Aalbrötchen in den Dünen!

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