Till Brönner im Interview über „Italia“: „Es ist die Leichtigkeit“
Till Brönner im Interview mit ROLLING STONE über seine musikalische Verbeugung vor Italien.
Till Brönner, Deutschlands bekanntester Jazztrompeter, widmet sich mit seinem neuen Album „Italia“ einem Herzensprojekt. Darin verneigt sich der 54-Jährige vor dem musikalischen und kulturellen Kosmos Italien – von Paolo Conte bis Ennio Morricone. Im ROLLING STONE-Interview spricht Brönner, der als Kind einige Jahre in Rom lebte, über Erinnerungen an die ewige Stadt, den Klang der 1960er- und 70er-Jahre und darüber, warum es für seine Hommage kein „O Sole Mio“ braucht.
Till Brönner, Sie haben als Kind mehrere Jahre in Rom gelebt. Wie hat Sie das geprägt, und was ist Ihnen davon geblieben?
Rom heißt nicht umsonst die ewige Stadt. Vieles, was in der Welt passiert, scheint dort in irgendeiner Form zwar registriert zu werden, aber letztlich bleibt man doch katholisch, um es mal umgangssprachlich zu formulieren. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie die Menschen um mich herum in den 70er-Jahren gekleidet waren. Meine Eltern waren beide Lehrer und hatten sich für das Ausland an einer deutschen Schule beworben. Ich war also auch von vielen Deutschen umgeben. Das war die sogenannte Toskana-Fraktion, wie man sie später in Deutschland nannte. Sie tauschten sich am Ort des Geschehens über alles Mögliche aus, natürlich auch über das Weltgeschehen.
Als Kind habe ich das eher abstrakt registriert, weil ich viel mehr beschäftigt war mit den wunderbaren Polizeiautos, den Aromen, die in der Luft lagen und bis heute liegen, mit diesem Gegensatz aus viel Geschichte, Größe, Petersdom, Kirchen – alles sehr prunkvoll – und dem manchmal sehr familiären, kleinen und auf Kinder und Familie ausgerichteten Leben vor Ort. Das hat mich sehr beeindruckt. Wir sind spazieren gegangen in der Villa Borghese. Man konnte die Größe der Stadt erleben, aber eben auch das Normale, weil es viele Viertel gibt, die nichts mit den großen touristischen Anziehungspunkten zu tun haben.
Das war für mich toll und vielleicht sogar fürs Leben prägend, weil ich seitdem immer das Gefühl habe, nach Dingen zu suchen, die einerseits hochwertig, andererseits genussvoll und bodenständig sind. Diese Mischung aus Anspruch und Genuss hat es mir schon immer angetan – möglicherweise durch die Zeit in Rom.
2024 haben Sie sich mit Ihrem Buch „Ciao Roma“ der kulinarischen Seite Ihrer Erinnerungen gewidmet. Jetzt widmen Sie sich musikalisch dem Kosmos Italien. Wie entstand diese Idee?
Wenn man sich mit meiner Diskografie auseinandersetzt – da gibt es mittlerweile weit über 20 Alben –, stellt man fest, dass immer mal wieder eine große Affinität für Konzeptalben dabei ist. Das schimmert immer durch. Auch dieses Album ist natürlich ein Konzeptalbum. Wer es in den Händen hält, wird nicht fragen: „Womit habe ich es da zu tun?“ Jemand, der mich kennt, sagt: „Jetzt hören wir mal rein, ob er es so gemacht hat, wie er es machen würde.“ Genau das ist mein Ansatz: mich mit Italien auseinandersetzen, mit der Zeit meiner Jugend dort, aber sicher auch mit der Tradition und dem, was später in den 80ern immer wieder zu uns nach Deutschland herüberschwappte.
Das ist ein großes Stück europäischer Geschichte. Italien hat sowohl in die Welt als auch in Nachbarländer vieles exportiert. Wir Deutsche haben durch die Bank sehr fruchtbare Beziehungen zu Italien gehabt – manchmal auch problematische, klar. Aber es war stets ein gegenseitiges Bekunden von Respekt und Sympathie. Man tritt sich nicht auf die Füße, man konkurriert nicht, weil man grundverschieden ist. Aber ganz ohne einander möchte man auch nicht – das war immer mein Eindruck. Und was Lebenskunst und Genuss angeht, sind die Italiener objektiv ein Stück voraus.
Im deutschsprachigen Raum hat ja besonders der Italopop einen besonderen Platz. Was assoziieren Sie mit italienischer Musik?
Italienische Musik kann man nicht auf ein Rezept oder eine Geschichte reduzieren. Aber es ist erstaunlich, mit welcher Intensität und welchem Sachverstand ein Land, das auch für die klassische Musik wegweisend war, im Alltag mit Musik umgeht und mit welcher Sensibilität man ihr dort begegnet.
Gerade im Zusammenhang mit Jazz kam ich oft in Diskussionen: Wo muss diese Musik eigentlich herkommen, welche DNA braucht sie, damit man sie glaubhaft spielen und als eigene Ausdrucksform nutzen kann? Da hatten italienische Musiker gefühlt deutlich weniger Probleme mit. Im Gegenteil – der Italiener unter den Jazzmusikern ist oft der, der am Ende noch überzeugend erzählen kann, warum der Jazz eigentlich aus Italien und nicht aus New Orleans kommt. Dann kommt der Verweis auf Nick La Rocca, der die erste Jazzband in New Orleans gehabt haben soll – ein italienischer Einwanderer.
Es ist die Lage, es ist die Leichtigkeit. Und es ist dieses weniger belastete Verhältnis zu Kunst und Künstlern, das es in Italien immer gab – von den großen Malern über die Komponisten, Designern bis hin zu aktuellen Trends. Sei es Italo-Pop, sei es die Sprache, sei es dieses sonnige Lebensgefühl – die Menschen sind sich dessen durchaus selbst bewusst und pflegen diese Mentalität. Da gibt es keine zwei Meinungen. Nach 1945 konnten wir das hierzulande sehr gut gebrauchen, weil es uns in Teilen vergessen ließ, wo wir gerade herkamen. Die Italiener hatten auch ihre Lasten damit, aber jenseits der Alpen war es vielleicht einfacher, zur Tagesordnung überzugehen – der Negativ-Fokus hing an Deutschland.
Sie hatten schon das Konzeptionelle angesprochen. Wie sind Sie an die Dramaturgie und die Songauswahl herangegangen?
Am Anfang steht, wie wahrscheinlich bei vielen Produktionen, erst einmal eine lange Liste der bekannten oder sogar bekanntesten Songs aus Italien. Dann versucht man, einen persönlichen Bezug zu bestimmten Nummern herzustellen. Dabei fallen viele schon wieder raus. Nimmt man dann weitere Parameter hinzu – Tiefe, Aussage, Substanz, Potenzial, Langlebigkeit –, reduziert sich die Liste noch einmal.
Am Ende bleibt eine Art Essenz übrig, mit der ich mich persönlich identifizieren kann. Neben den Texten, der Historie eines Songs oder der Dekade, in der er entstand, muss ich auch persönlich damit etwas anfangen können. Von Gesellschaftskritik bis hin zur Frage, wie man eine vermeintliche Schnulze ins Gegenteil verkehren kann – das sind künstlerische Prozesse, die mir Spaß machen.
Till Brönner im Interview: „Dann ist Respekt die beste Zutat“
Also war der rote Faden, dass Sie sich damit identifizieren können mussten?
Natürlich. Da steht mein Name drauf, und ich nehme mir die Freiheit heraus, den Leuten meine persönliche Sicht zu präsentieren Das war vielleicht der wichtigste Aspekt: sich musikalisch vor einem Land zu verneigen, dem man eine Menge verdankt. Man taucht ein, experimetiert – und dann ist Respekt die beste Zutat. Dass ich für dieses Land etwas übrig habe, sollte man hören. Dazu braucht es nicht „O Sole Mio“.
Sie haben eine bunte Mischung – von Conte bis Morricone. Ein interessanter Querschnitt durch die italienische Musikgeschichte.
Das war mein Ziel. Letztlich halte ich die Zeit zwischen Mitte/Ende der 60er und den 80ern für die beste Periode, was Repertoire und Langlebigkeit betrifft.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Nicola Conte, mit dem Sie das Album produziert haben?
Ich kenne Nicola seit über 20 Jahren. Als er damals mit mir in Kontakt trat, wollte er, dass ich auf seinem Album Other Directions eine Nummer performe – quasi ein One-Track-Business. Ich flog nach Bari, spielte die Nummer ein, und daraus entstand eine Freundschaft. Wir sind bis heute im Austausch geblieben und haben mit ITALIA die Zusammenarbeit erneut und intensiv aufgenommen.
Nicola Conte ist als DJ eine lebendige Enzyklopädie dessen, was passiert ist. Sein Repertoirewissen ist enorm. Das war im Studio extrem hilfreich. Wenn man nicht wusste, wie man eine Nummer anlegen sollte, zog er ein Album hervor und sagte: „1968, wie damals in Rio, aber mit dem Einfluss von Produzent XY – so könnte die Nummer zeitloser klingen.“ Für einen Instrumentalisten, der oft mit sich selbst beschäftigt ist, war das eine große Hilfe.
Hatte Nicola Conte auch Einfluss auf die Trackauswahl?
Ganz erheblichen sogar. Es gibt Songs, zum Beispiel La Donna Invisibile von Ennio Morricone, die waren mir gar nicht geläufig. Oder der Komponist Piero Piccioni, den habe ich erst durch Nicola kennengelernt. Mir war wichtig zu hören, was die Italiener selbst mit dieser Ära und diesem Repertoire verbinden. Wenn man sich ernsthaft mit einem Land auseinandersetzen möchte, möchte man natürlich und vor allem auch die italienische Sicht hören, wenn es um die Einordnung eines Songs oder eines Künstlers für die nationale Bedeutung geht. Natürlich kann man nachvollziehen, dass jemand sagt: „Du bist ein deutscher Künstler, du machst das hauptsächlich für ein deutschsprachiges Publikum, also solltest du darauf am meisten Rücksicht nehmen.“ Aber das ist künstlerisch nicht sehr spannend.
Sie meinten gerade, dass Sie einige Stücke erst während des Aufnahmeprozesses entdeckt haben. Was ist schwieriger – ein Stück neu zu interpretieren, das Sie schon ewig kennen, oder eines, das für Sie noch neu ist?
Ich würde keine der beiden Kategorien als schwieriger bezeichnen. Schön ist, wenn man Stücke sehr gut kennt und sie trotzdem noch einmal hernimmt. Dann kann man sie mit einer gewissen Angriffslust spielen, mit dem Wissen um alle existierenden Versionen. Bei Nummern, die ich nicht kannte, wusste ich von vornherein, dass ich sie ohnehin anders machen werde – allein schon deswegen, weil ich die Originale nicht im Ohr hatte. Beides kann interessante Ergebnisse zeitigen.
Wie ist Ihr Prozess, wenn Sie eine neue Nummer aufnehmen wollen?
Zunächst versuchen wir, uns mit ihr vertraut zu machen und zu schauen: Wie ist sie eigentlich aufgebaut? Dann transkribieren wir sie. Danach suchen wir meistens nach Versionen, die es schon gibt: Wer hat sie noch aufgenommen? Da gibt es mitunter tolle Überraschungen und man stellt fest: „Wow, so habe ich das Stück noch nie gehört, da hat jemand einen spannenden Ansatz gewählt.“ Das kann inspirieren. Am Ende soll aber eine Interpretation entstehen, die am nächsten an mir selbst dran ist.
Ein Gassenhauer ist nichts Schlimmes. Doch ich sollte ihn ernsthaft mit etwas Eigenem versorgt haben, bevor er veröffentlicht wird. Ein bekanntes Beispiel: das Vaterunser. Die meisten kennen es, aber wenn es zehn bekannte Schauspieler vortragen, rückt die Frage nach dem „Wie“ und nicht nach dem „Ob“ in den Fokus.
Gab es in ihrer umfangreichen Studiokarriere auch Situationen, in denen Sie gemerkt haben, dass Sie bei einer Nummer nicht weiterkommen, und sie dann verworfen haben?
Selbstverständlich. Wir hatten tatsächlich zu den Songs, die es jetzt auf das Album geschafft haben, noch einmal sieben bis zehn weitere in Produktion. Einige davon sind extrem klasse geworden, aber bei zwei oder drei haben wir in verschiedene Richtungen geforscht und sind trotzdem nicht auf das gestoßen, was wir uns erhofft hatten. Die haben wir zurückgestellt oder abgewählt. Das ist ein normaler Prozess. Von Streit im Studio bis hin zu Abbrüchen – ich kenne das Spektrum, das gehört manchmal dazu. Oft sind gerade die Alben spannend, bei denen man bis zuletzt im Dunkeln tappt, und plötzlich platzt der Knoten. So war es auch hier.
Können Sie den Moment beschreiben, als der Knoten geplatzt ist?
Das ist sehr aus dem Nähkästchen geplaudert, aber wie nicht selten waren es Zufallsprodukte oder Fehler, die uns neue Türen geöffnet haben. Eine geplante üppige Instrumentierung wurde plötzlich kammermusikalisch, und genau das stellte sich als die einzig richtige Version heraus. Bei anderen Nummern dachten wir schon: „Da kommt nichts mehr raus“, und dann habe ich spontan Bläser darauf aufgenommen – plötzlich war da eine Big Band und die Nummer begann zu fliegen.
Der große Vorteil war, dass wir nicht unter enormem Zeitdruck standen. Wir hatten zwei Sessions: die erste im Oktober in Rom, die zweite im April in Bari. Aus beiden entstanden etwa 20 Nummern, drei haben wir am Ende verworfen. Aber wir konnten uns erlauben, Songs liegen zu lassen, erneut anzuhören, auf ihre Langlebigkeit zu prüfen und uns zu fragen: Braucht es das eigentlich, oder lassen wir es besser weg?
Wie lange dauerten die Studio-Sessions?
Jeweils drei bis vier Tage. Am vierten Tag ging es meist nur noch um Kleinigkeiten – etwas reparieren oder ändern. Das Wichtigste: Alles ist handgemachte Musik. Keine am Computer zusammengebastelten Tracks. Natürlich haben wir auch einmal einen Take zusammengeschnitten, aber ausnahmslos alle Stücke basieren auf echten Takes, meist zwei bis drei pro Song. Auf dieser Basis haben wir weitergearbeitet. Das empfinde ich als große Wohltat und auch als Vorbild für künftige Produktionen.
Sie sagten, es gäbe mehr Tracks, als auf dem Album veröffentlicht sind. Wird es Bonusmaterial geben?
Ja, ein bis zwei Tracks sind schon in der engeren Auswahl für eine Special Edition, die limitiert erscheinen könnte. Manchmal braucht es in bestimmten Territorien noch ein bisschen „Fleisch“, um Anreize zu schaffen. Aber wir wollten nicht einfach wahllos Stücke hin- und herschieben. Das, was wir jetzt präsentieren, ist die Essenz des Albums. Daneben gibt es aber noch ein paar spannende Versionen.
Bei Konzeptalben spielt auch die Reihenfolge der Stücke eine Rolle. Wie sind Sie da vorgegangen?
Das muss man ausprobieren. Für mich ist die erste Nummer entscheidend. Sie setzt das Signal: Welche Temperatur hat das Album? Ist es eine Stimmung, mit der ich mich anfreunden kann, oder wird es mir gleich zu Beginn zu anstrengend? Überraschungen sind später willkommen, aber der Einstieg ist prägend.
Manche wählen als Opener bewusst einen untypischen Track, um die Hörer zu irritieren. Wie sehen Sie das?
Natürlich gibt es diesen Ansatz. Aber warum eigentlich? Man muss sich schon etwas dabei denken. Ich bin durch meine Konzeptalben ohnehin wenig kalkulierbar, weil man nie so genau weiß, was als Nächstes kommt. Das macht mir Spaß. Und bei über 20 Alben möchte ich nicht in Gesetzmäßigkeiten verfallen. Im Jazz wird fast vorausgesetzt, dass man alle zwei Jahre ein neues Album vorlegt – trotzdem versuche ich, Muster nicht einfach zu wiederholen.
Wie weit denken Sie schon über das nächste Studioalbum hinaus?
Es gibt Fantasien, kleine „Bucket List“-Ideen, Dinge, die ich unbedingt noch machen möchte. Sie sind ein untrügliches Zeichen, dass man nicht stagniert. Immer wenn ich merke: „Man müsste eigentlich mal dies oder jenes machen“, zeigt das, dass sich etwas bewegt und ich mich bald intensiv mit einem neuen Projekt befassen werde.
Können Sie ein Beispiel nennen, was auf dieser Liste steht?
Nein, das kann ich natürlich aus Prinzip nicht machen. Es sind Dinge, die ich noch nicht gemacht habe. Sich zu wiederholen, macht mir keinen Spaß. Ich denke, neue Konzepte entstehen durch Variablen wie Freiheit, Unplanbarkeit, Besetzung und Thematik. Diese Parameter können sich so verschieben, dass am Ende ein ganz anderes Album herauskommt als geplant. Die Erwartungen anderer sind mir heute nicht mehr so wichtig. Die Erwartungen an mich selbst sind nicht kleiner geworden. Es geht immer wieder um die Frage: Was macht einen eigentlich aus? Ich empfinde mich als jemanden, der immer noch nach sich selbst sucht, nicht als jemanden, der sich schon voll gefunden hat. Das bleibt ein lebenslanger Prozess.