Tindersticks beim ROLLING STONE Weekender: Von der Verheißung zum Verzagen

Stuart Staples' tiefstimmigem Raunen könnte man ewig und drei Tage zuhören - wenn man ihn in Ruhe hören könnte. Die Tindersticks beim RSW am Samstag in der Zeltbühne.

Zuerst denkt man: Holla, ist ja ganz schön viel Platz frei im Zelt, nur die Sitzplätze sind weg, war ja klar. Nach einer halben Stunde denkt man: Hm, der Typ in der Husky-Jacke steht sehr eng neben mir und labert viel mit seinen Freunden, und jetzt lässt er auch noch ein Foto von der Reisegruppe machen. Es muss ein Bus angekommen sein mit Leuten, die es nicht interessiert. Nach einer Dreiviertelstunde denkt man: Vorn ist alles voll, und hier wird der Platz auch schon knapp. Und das kann ja nicht damit zu tun haben, dass in anderthalb Stunden  das Konzert von Wilco beginnt.

Rolling Stone Weekender 2016 - Tag 2

Aber ach – die Tindersticks spielen so sacht, verhalten und orgelig, als wäre ihre Musik eine einzige Ouvertüre, als hätten sie beschlossen, dass auch ein Zelt ein Sehnsuchtsort, ein Boudoir, ein Andachtsraum ist. Die Streicher und die Trompete von einst gibt es nicht mehr, und auch das Saxofon von „The Something Rain“ fehlt. Die fünf Musiker sind die zarteste Tindersticks-Versuchung aller Zeiten. Die Stücke sind stets im Aufbau befindlich, sind eine behutsame Steigerung vom Suchenden zum Sehnenden, von der Verheißung zum Verzagen, vom Barmen zum Fordern. Stuart Staples‘ tiefstimmigem Raunen könnte man ewig und drei Tage zuhören – wenn man ihn in Ruhe hören könnte.

Die Orgel wird auf Zirkus gestellt

Aber es ist Unruhe. Und die Tindersticks weichen nicht von den tastenden Nachtliedern ab – kein „Jism“, kein „Tiny Tears“, kein „No More Affairs“ oder „Another Night In“ schlägt hier mit der Schwermutskeule. Der „Sleepy Song“, einer von wenigen Klassikern, ist beinahe eine Provokation, so langsam auf Zehenspitzen, und „This Fire Of Autumn“ und das neue Stück „We Are Strangers“ sind in repetitiver Intensität schon das Höchste der bedrängenden Gefühle – da werden die Trommeln etwas fester und hurtiger gerührt, wird die Gitarre entschlossener angeschlagen, und Dave Boulter stellt seine Orgel auf „Soul“ und  „Zirkus“. Und der Zirkus ist ja auch im Zelt.

So zieht das Konzert vorüber – ein Pianissimo zu dem Forte, das die Spannung auflösen würde. Die fünf sehr britischen Herren aber gehen im Gänsemarsch von der Bühne. Sie sind halt Stoiker. Und meine Jacke riecht noch immer nach dem Rauch vom Grillstand vor dem Zelt. Hätte ich doch nicht die Schinkenwurst gegessen.

Martin von den Driesch
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