Töne der Wüste

Für die Menschen der Sahara sind sie Krieger, Poeten und Botschafter eines Volkes mit einer bewegten Geschichte. Tinariwen, die erste Rockband aus Tuareg-Rebellen, haben ihre Kalaschnikows gegen Gitarren getauscht und ihre Tradition der Moderne geöffnet. Vor ihrer Europa-Tournee besuchten wir sie beim „"Festival Au Desert" in Mali.

Ibrahim sitzt im Schneidersitz am Feuer. Seine nackten Füße sind zur Hälfte im feinen Sand versunken. Ibrahim raucht, Dicko kocht Tee. Längst haben beide ihre Jacken an. Mit der Sonne ist es hier, circa 65 Kilometer nordwestlich von Timbuktu, rund 35 Grad Celsius heiß. Nachts sinkt die Temperatur schnell auf um die fünf Grad. Hinter Dicko steht eine Art Zelt aus Tierleder und Stöcken, hinter Ibrahim schimmert ein Jeep bläulich im Sternenlicht. Dicko nimmt die blecherne Kanne von den glühenden Kohlen. Mit entspannter Selbstvergessenheit gießt er das fast schwarze, starke, süße Gebräu namens Shahid in hohem Bogen in drei oder vier kleine Gläser und unter heißem Plätschern wieder zurück in die Kanne. Und noch einmal. Immer wieder. Dicko kocht immer Tee, wenn er Zeit dafür findet.

Issa Dicko ist ein Intellektueller und respektierter Literat der Tuareg. Ibrahim Ag Alhabib ist Sänger und Hauptsongschreiber von Tinariwen, einer Art großem Musikkollektiv aus Tuareg-Leuten. Das Land der Tuareg, ein zu den Berbern zählendes Nomadenvolk in der Sahara und dem Sahel, erstreckt sich heute im Gebiet der Staaten Mali, Algerien, Niger, Libyen und Burkina Faso. „Tuareg“ ist Arabisch und bedeutet so viel wie „die von Gott Verstoßenden“. Die Tuareg selbst nennen sich in ihrer eigenen Sprache „Kel Tamashek“ – Leute, die Tamascheq sprechen- oder „Imuschaq“ – „die Freien“. Noch heute ziehen etwa eine Million Tuareg in einem von der Natur bestimmten Rhythmus von Ort zu Ort durch die Wüste. Andere sind auf Druck der Natur und Regierungen sesshaft geworden, wieder andere, wie Ibrahim und Tinariwen, können sich Jeeps leisten. Ibrahim wohnt, wie viele Tinariwen-Mitglieder, in der Gegend von Kidal, im Nordosten Malis. Schläft aber trotzdem meist auf dem Wüstenboden.

Ibrahim trägt keinen Turban oder eine Robe wie die meisten Tuareg. Er ist nur auf der Bühne traditionell gekleidet. Und im Gegensatz zu vielen seiner Bandkollegen ist er eher stillerer Natur. Er hat gelockte, halblange Haare, ist oft unrasiert und trägt meist eine Armee-Hose sowie ein weites, ehemals buntes T-Shirt, das sich längst der Wüste gebeugt hat.

Ausgeblichen hängt das sandfarbene Stück Stoff an seinem drahtigen Körper. Ibrahim sitzt leicht zusammengesackt. Sein Kopf ist nach vorn geneigt, seine Haare hängen ihm ins Gesicht, seine Augen schauen auf seine Hände, in denen er mit knochentrockenem Tabak und spröden Blättchen eine weitere Zigarette dreht. Das Feuer wirft ab und zu rötliches Licht auf ihn, und beim zweiten Blick erkennt man die einzelnen, tiefen Falten in seinem eigentlich jungen Gesicht. „Drei Sachen gibt es im Leben der Tuareg“, erklärte Dicko noch am vorgestrigen Feuer, etwa 1oo Kilometer südlich von hier. „Das Schwert, das Kamel und die Poesie.“ Lächelnd blickt er nun kurz zum Jeep. Es bleiben die Poesie und das Schwert.

Die jüngere Geschichte der Tuareg ist geprägt von Spannungen mit den Regierungen, die irgendwann anfingen, Grenzen durch ihr Land zu ziehen. Als die französischen Eroberer gingen, kamen die neuen afrikanischen Regierungen. „Früher ist ein Tuareg bei einer Dürre einen weiten Weg gegangen in ein neues Gebiet“, erklärt Dicko. „Mit den ganzen Grenzen, Kontrollen und Zöllen heutzutage ist das aber nicht mehr möglich. Zudem wollen uns die neuen Regierungen sesshaft machen. Sie wollen Steuern und uniforme Schulbildung in Tamascheq-freien Schulen. Alle diese Ideen kommen von außen. Diese Menschen haben keine Ahnung über das Leben in der Wüste.“

Bis heute flammen immer wieder- meist lokal begrenzte – Tuareg-Rebellionen auf, die fast immer brutal niedergeschlagen werden. „1963 etwa besetzte die malische Regierung ein Gebiet in der Gegend um Kidal“, erinnert sich Dicko. „Wer es im Folgenden betrat, wurde erschossen. Natürlich bewegten sich dort Nomaden, die überhaupt nichts davon wussten. Ein paar Tuareg lehnten sich spontan dagegen auf. Sie wurden brutal niedergeschlagen.“ Etwa zur gleichen Zeit wurde im Norden Malis, in Tessalit, ein Tuareg von der Regierung beschuldigt, die Rebellenbewegung mit Waffen zu versorgen. „Er wurde verhaftet und wenig später erschossen. Man trieb seine gesamte Herde aus rund 80 Tieren zusammen und erschoss sie mit Maschinengewehren.“ Dieser Mann war Ibrahims Vater. Ibrahim war damals vier Jahre alt. Es bleibt die Poesie.

„Es gibt einen Begriff in Tamascheq, der ‚Asouf‘ heißt. Er bedeutet…“, gerät Dicko ins Nachdenken, „so etwas wie das Gegenteil von ,Camp‘. ‚Asouf‘ ist alles, was außerhalb des Camps, in der Dunkelheit liegt. Im Nichts. Die Asouf-Leute bewohnen diese Dunkelheit. Als Nomade ist man oft tagelang unterwegs in einer Landschaft, die dem Nichts gleicht. Sie ist karg, weit, trocken, flach. Das ist der Asouf. Wenn unsere Menschen losziehen, fühlen sie den Asouf. Und sie benutzen die Poesie, um diese Gefühle auszudrücken. Wenn ein Tuareg den Blues hat, dann hat er den Asouf. Er bedeutet Nostalgie, Leidenschaft, Sehnsucht, Schmerz für die Geliebten. Er ist kein physischer Schmerz. Er ist ein sehr starkes Gefühl der Einsamkeit.“

D ie Zeit für Ibrahim nach dem Tod seines I Vaters war nicht einfach. Die Dürre in den Jahren 1973 und 1974 trieb ihn, wie viele junge Tuareg, ins Exil nach Algerien und Libyen. Dort nannte man Männer wie ihn, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielten, Ishumare, „die Arbeitslosen“, die Nutzlosen, eine Art Generation X der Sahara.

Im Exil kamen viele Tuareg erstmals mit anderer Musik in Kontakt. Kassetten mit nordafrikanischer Popmusik kursierten, aber auch Tapes von Bob Marley, Jimi Hendrix, Bob Dylan, James Brown oder John Lee Hooker machten die Runde. „In der traditionellen Tuareg-Musik gibt es nicht viele Instrumente“, erklärt Ibrahim. „Vielleicht zwei oder drei, wie etwa die Amzad, die aber nur von Frauen gespielt wird.“

Ibrahim spielte bisher die Hirtenflöte. „1979 aber, in Algerien, in der Stadt Tamanrasset sah ich jemanden mit einer akustischen Gitarre durch die Straßen laufen. Das war die erste echte Gitarre, die ich je gesehen hatte. Ich habe ihn verfolgt bis zu seinem Haus und ihn dort gefragt, ob ich sie berühren dürfe. An diesem Tag habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Gitarre gespielt. Ich besuchte diesen Mann ab dann regelmäßig.“ Ibrahim baute sich seine erste eigene Gitarre aus einer Öldose, einem Stock und einer Art Angelsehne. Er versuchte, den nordmalischen Bluesgitarrenstil von Mentoren wie Ali Farka Toure oder Boubacar Traore zu imitieren. Oder er spielte einfach eigene Musik. „Die Gitarre war von keinen

Regeln belastet. Zum ersten Mal konnte ich allein mit einem Instrument meine Emotionen umsetzen. Die Armee hatte meinen Vater und unsere gesamte Herde umgebracht. Sie kamen einfach auf das Feld und schössen mit Maschinengewehren auf alles, was sich bewegte. Dieses Erlebnis konnte ich nie verarbeiteten, bis ich die Gitarre entdeckte.“

Wenig später schrieb Ibrahim seinen ersten Song, dessen Titel übersetzt lautete: „Meine Freunde, hört mir zu!“-„Am Anfang fanden meine Musik nur ziemlieh wenige gut“, lacht er. „Später aber wurde ich oft zu Gottesdiensten eingeladen oder einfach gefragt, ob ich etwas spielen will. Ich hatte zwar lange nur zwei Songs, aber die Leute mochten meine Texte. Denn ich sang nicht über den Krieg und die Vergangenheit, sondern über das Jetzt, über das Leben.“

Im selbenjahr, 1979, gründete Ibrahim zusammen mit zwei Freunden – Hassan AgTouhami und Inteyeden Ag Ablenine – in der Nähe der südalgerischen Stadt Tamanrasset Tinariwen. „Tinariwen“ ist Tamascheq und der Plural des Begriffs „Tenere“, was so viel bedeutet wie „Wüste“ oder „leerer Ort“. „Kel Tinariwen“ sind die „Gestalten der Wüste“. Tinariwen brachten Neues in die Tuareg-Musik: Den Assak, ihren traditionellen Musikstil samt poetischen Kompositionen, Klatschen und Call-and-Response-Gesang, vereinten sie mit Gitarren, die sie bereits wenig später elektronisch verstärkten. Zum anderen schwelgten ihre Texte nicht in Nostalgie, sondern waren zeitgemäß und kritisch: „Es ging um das Leben im Asouf und darum, ein Bewusstsein zu schaffen für die eigene Existenz“, erklärt Ibrahim. „Es waren keine Kampfsongs, sondern Bewusstseinssongs.“

1980 machte unter den im Exil lebenden Tuareg die Nachricht die Runde, „dass diese Camps in Libyen eröffnet würden. Ich ging einfach mit den anderen mit“, erklärt Ibrahim. Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi versprach den im Exil lebenden Tuareg, dass sie in seinen Militär-Camps ausgebildet würden, um ihr Land zurückgewinnen. „Es schien für uns die einzige Chance, irgendwann unser ehemaliges Gebiet zurück zu erobern“, erklärt Ibrahim. „Ein moderner Konflikt musste her, keiner mit Schwertern. 1980 machte ich in dem Camp das erste kurze Training. Zurück dorthin kam ich dann 1984.“

Auf musikalischer Seite kam derweil eine kleine Propaganda-Maschine in Gang. „Irgendwann lud mich ein Freund zu sich nach Hause ein“, erzählt Ibrahim von einem entscheidenden Tag in seiner Musikwelt. „Wie immer saßen wir zusammen, tranken Tee und redeten, bis Hassan und ich anfingen, Musik zu machen. Unser Freund holte einen Kassettenrekorder und nahm uns auf. Wenn dann später Menschen aus Mali oder Niger in Richtung Heimat reisten, nahmen sie einfach paar Kassetten mit nach Hause und verteilten sie dort.“ Die Musik der Ishumaren verteilte sich langsam im Tuaregland.

Abdallah erinnert sich: „1982 spielte mir in Kidal ein Freund zum ersten Mal Musik von Hassan, Inteyeden und Ibrahim auf einer Kassette vor. Er spielte sie immer und immer wieder.“ Abdullah Ag Alhousseini stammt aus dem religiösen Tuareg-Clan der Marabout. Musik war keine Option für ihn, bis sein Vater 1982 starb und Abdallah nach Algerien und Libyen ging, wo er sein eigenes Leben entdeckte. „In Tamanrasset sah ich sie zum ersten Mal, aber sie mich nicht. Zunächst sprach mich ihre Musik an, denn sie spielten Gitarre, was neu war. Aber sie sangen auch, was ich fühlte. Tinariwens Musik war der Spiegel zu dem, was in meinem Herzen passierte. Ich lernte Gitarre und machte mit der Zeit immer öfter Musik mit ihnen.“

Gegen Ende der 80er Jahre brauchte Ghadaffi Soldaten für seinen Krieg im Tschad. Er fand sie auch in seinen Militär-Camps. „Eines Tages wurde die Hälfte unserer Leute mit Trucks in Flugzeuge gebracht und weggeflogen“, erinnert sich Ibrahim. „Niemand wusste, wohin.“ In der Nacht, bevor er in so ein Flugzeug steigen sollte, kletterte Ibrahim mit einigen anderen über den Zaun. Sie flohen durch die Wüste, in die Berge, wo sie fortan ein Rebellendasein führten.

Es folgten Jahre der politischen Spannungen um die Tuareg. Immer wieder flammten kleine Rebellionen auf, und oft waren Mitglieder von Tinariwen dabei. Spätestens in dieser Zeit wuchs das heutige Image der Band als meist blau verhüllte Männer, die in der einen Hand die Kalaschnikow und in der anderen die Gitarre tragen. Im Juni 1990 etwa spielten Ibrahim und Abdallah für ihre Kameraden in Menaka, im Osten Malis. Kurz bevor diese eine Polizeistation angriffen. „Bis 1990 war meine Musik verbotene Musik“, erinnert, sich Ibrahim. „Wir hatten oft Probleme mit der Polizei. Denn die wusste: ,Diese Leute mit den Gitarren rebellieren. Sie singen politische Songs.‘ Egal, ob in Libyen, Niger, Algerien, Burkina Faso – wenn jemand mit einer Tinariwen-Kassette gefunden wurde, gab es Probleme. Dann ging man für zwei Tage ins Gefängnis und wurde ausgefragt. Als die I99oer-Rebellion startete, hatte eine Tinariwen-Kassette genauso viel Sprengkraft wie eine Kalaschnikow. Allerdings…“ Ibrahim lacht leise. „Selbst an der Grenze haben sie mich damals nach meiner Musik gefragt, obwohl sie es eigentlich nicht durften!“

Im Jahr 1992 schließlich unterschrieben die Tuareg und die malische Regierung ein Friedenspapier. Bei den Verhandlungen dabei: Ibrahim, Hassan, Inteyeden und Abdallah – alles Mitglieder von Tinariwen. „Bereits 1986 entschloss ich, mich in Zukunft ausschließlich zwei Sachen zu widmen“, erklärt Abdallah. „Alle Tamaschek-Menschen zu erreichen – egal, ob in Niger, Mali, Algerien oder Libyen-, um das Bewusstsein zu schärfen für ihre Lage. Und ich wollte meine Liebe zum Tuareg-Land verarbeiten.“ 1996 schließlich beschlossen die Mitglieder Tinariwens, trotz Umstimmungsversuchen der Regierung, sich fortan ausschließlich der Musik und ihrem kulturellen Auftrag zu widmen.

Abdallah ist der klare Kopf von Tinariwen. Im Gegensatz zu vielen seiner Bandkollegen trinkt er nicht, raucht nicht, betet regelmäßig, benutzt gern das Wort Ordnung, hört im Auto oft traditionelle Musik, und abends am Feuer füllt er die Stille mit seinen Liedern.“.Wirkliche Freiheit heißt, die moderne Welt zu meistern“, erklärt er. „Die Kommunikation, die Uhr, all diese Sachen. Der Tuareg scheint von außen sehr frei. Aber innen ist er genauso befangen wie jeder andere. Unsere traditionellen Hierarchien engen das Denken ein. Und wenn bald kein Regen mehr fällt, ist unsere bisherige Freiheit gar nichts mehr wert. 1973 und ’74 zerstörte die Dürre fast unsichtbar viele Existenzen. Uns zu öffnen, zu versuchen, Kontakt herzustellen- das kann uns Freiheit bringen. Wir respektieren unsere Kultur, aber das verbietet uns nicht, sie zu kritisieren.“ Oder sie mit Neuem zu konfrontieren. „Die elektrische Gitarre bildet keine Gefahr für traditionelle Musik“, stellt Abdallah klar. „Alle Musiker sind Musiker. Längst ist die Gitarre unter jungen Tuareg populär.“ Einige dieser jungen Musiker bilden auch die neue Generation von Tinariwen.

Die Frage nach der aktuellen Mitgliederzahl der Band kann nicht einmal Gründungsmitglied Hassan beantworten. „Viele, viele! Jeder, der mit uns ein paar Mal spielt, ist theoretisch dabei. Die wichtigen aber sind Inteyeden, Diarra, Khedou, Japonais. Souilam, Mohame…“ Hassan zählt etwa 17 Namen auf, um dann unter allgemeinem Gelächter zusammenzufassen: „Oft gehe ich während Auftritten von der Bühne, weil gar kein Platz mehr ist. Dann trinke ich lieber einen Tee.“

Das dritte Gründungsmitglied, Inteyeden, starb 1995 an Lungenkrebs, und während Ibrahim sich im Folgenden fast ausschließlich der kreativen Seite zuwendete, engagiert sich Hassan auch abseits der Musik. Unter anderem ist er stolzer Mitbegründer des inzwischen weltweit beachteten Tuareg-Festivals Festival Au Desert, das alljährlich circa 65 Kilometer nordwestlich von Timbuktu stattfindet.

Kurz vor dem ersten Festival Au Desert, im Dezember 2000. lernen Tinariwen in Mali den englischen Produzenten und Robert-Plant-Gitarristen Justin Adams kennen. Wenig später nimmt dieser zusammen mit Musikern der französischen Weltmusikgruppe Lo’Jo das Tinariwen-Debüt „The Radio Tisdas Session«“ auf. Die Aufnahmen finden mit Hilfe von Solarenergie im lokalen Radiosender von Kidal, Radio Tisdas, statt. Unter einfachsten Umständen entsteht ein rohes und deshalb reizvolles Album. Das 2003 folgende Werk „Amassakoul“ präsentiert dann eine deutlich glattere Version des Tinanwen-Sounds. Soundtechnisch aufpoliert und abgerundet von einem bunten „Multi-Kulti“-Artwork, verkauft sich die Platte beachtliche 60 000 Mal. Während Tinariwen in den malischen Medien weiterhin kaum stattfinden, gewinnt die Band in England den BBC Radio 3 World Music Award 2005 und schafft es, Tourneen in den USA, Japan und Europa zu organisieren. Pro Jahr spielen Tinariwen nun um die 70 Konzerte, treten auf dem englischen Glastonbury-, dem dänischen Roskilde-Festival und mit Robert Plant beim Festival Au Desert 2002 auf. Zuletzt teilte Carlos Santana die Bühne mit Tinariwen auf dem Montreux Jazz Festival 2006. „Wenn ich Tinariwen höre“, schwärmte er, „höre ich den Beginn der Musik des Mississippi und die Wurzeln von Muddy Waters, B.B. King, Little Walter, Otis Rush, Buddy Guy… alle kommen sie daher. Tinariwen sind die Schöpfer.“ Die Band hingegen ist enttäuscht vom Sound der Platte. Nur selten schwappt etwas des rohen, organischen Tinariwen-Sound herüber.

Im Februar 2006 reisen Ibrahim, Hassan, Abdallah und die anderen Bandmitglieder die 1600 Kilometer von Kidal in Malis Hauptstadt Bamako, um zusammen mit Justin Adams ihr drittes Album aufzunehmen. .Justin weiß, warum ich spiele, wie ich spiele“, erinnert sich Ibrahim an die knappen zwei Wochen im Studio. „Immer wieder hakte er an bestimmten Stellen ein und fragte, ob ich etwas noch einmal spielen könne.“ Aber es war nicht nur das. Die Band findet auf „Armin Iman: Water & Life“ eine knisternde Melange aus den Klangräumen ihrer verstärkten Gitarren, einer soliden Rhythmussektion aus Bass und Percussion sowie ihren klassischen Einflüssen. Das Ergebnis ist mal betörend beschwingt und tanzbar, mal schwer und karg wie im sprichwörtlich betitelten „Asouf“ oder „Soixante Trois“.

„Als ich mal drei Monate im Gefängnis in Algerien war, haben sie mir in den ersten 14 Tagten meine Gitarre weggenommen“, erklärt Ibrahim. „Das war eine schreckliche Zeit. Später haben sie sie mir zumindest abends gegeben. Ich hab dann immer kleine Konzerte für die anderen Inhaftierten gespielt, jede Nacht nach dem Dienst. ,Soixante Trois‘ habe ich damals, 1983, im Lager geschrieben. Und obwohl das Stück über 20 Jahre alt ist, ist es aktueller denn je.“ Es ist ein Musterstück des Wüsten-Blues, doch selbst in Momenten wie diesen, wenn Tinariwen ihre Noten biegen und wie selbstverständlich klassischste Blues-Licks spielen, bleibt die Musik unaufdringlich und würdevoll. „Aman Iman“ konserviert, so gut es eben geht, den Sound der Menschen in diesem kargen, weiten und doch so lebenserfüllten Raum. Kaum Landmarken hat er, schmiegt sich langsam an und fasziniert schließlich mit entwaffnender Natürlichkeit und teils kuriosen Parallelen zur globalisierten Musikwelt. Anfang Februar erschien „Aman Iman“ weltweit auf dem englischen Label Independiente, das sein Geld bisher unter anderem mit Travis, Paul Weller und Portishead verdiente. Englische Textübersetzungen liegen der Musik erstmals bei.

„Ja, die Platte kommt unserem wirklichen Sound bisher am nächsten“, stimmt Ibrahim zu. „Wir sind sogar raus in die Wüste gefahren und haben dort aufgenommen. Aber eigentlich kann man nicht wiedergeben, wie es hier klingt. Wie eine Gitarre hier klingt.“ Dann grübelt er wieder. Ibrahim sitzt im Schneidersitz am Feuer. Seine nackten Füße sind zur Hälfte im feinen Sand versunken. Ibrahim raucht, Dicko kocht Tee. Längst haben die beiden Jacken an, die funkelnden Sterne tauchen die Nacht in silbernes Blau. „Wenn ich in Kidal bin“, fängt Ibrahim irgendwann wieder an zu reden, „fahre ich oft mit ein bisschen Wasser, etwas Essen und einer Decke in die Wüste und bleibe dort ein paar Tage, um Musik zu machen. Oft aber kann ich gar nicht anfangen zu spielen. Die Natur überwältigt mich so sehr, dass ich sie nicht würdevoll füllen kann. Ich sitze dann ganz lange einfach nur da und kann nicht einmal sprechen. So bewegt bin ich.“

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