Ton Steine Scherben hatten einen Traum – und standen am Ende doch nur vor Trümmern

Als Schlagzeuger beim Berliner Musik-Kollektiv erlebt Klaus Götzner die wilden Jahre in Berlin ebenso wie das bäuerliche Idyll auf dem Lande. Und er muss miterleben, wie der schöne Traum vom alternativen Leben und Musikmachen am schnöden Mammon zerbricht. Sein Geld verdient „Funky“ Götzner heute anderweitig: Er verkauft Versicherungen für die „Hamburg Mannheimer“

Erwerbsminderung, Überschussbeteiligung oder Rentengarantiezeit das sind Begriffe, mit denen sich Klaus Götzner inzwischen herumschlagen muss. Der Büroalltag besteht für den einstigen Drummer aus Telefonaten, Terminen und Schreibkram. Für die „Hamburg Mannheimer“ vermittelt der gebürtige Würzburger die so genannte Riester-Rente – kein Traumjob, aber eine Tätigkeit, die ihm und seiner Familie ein sicheres Einkommen beschert. „Hunger bricht den Stolz des stärksten Samurai“, meint Götzner lachend, während er mit Schlips und Anzug an seinem Schreibtisch sitzt. „Ich hatte im Internet gelesen, dass durch die Riester-Rente in Deutschland bis zu 50 000 Versicherungsvertreter beschäftigt sein würden, weil sich der Markt immer mehr auf die private Altersvorsorge umstellt. Mit 50 Jahren habe ich mir außerdem keine Hoffnungen mehr auf eine Ausbildung als Gehirnchirurg gemacht. Deshalb war für mich klar, dass ich in der Versicherungsbranche eine reelle Chance hatte, gutes Geld zu verdienen.“

Aufgewachsen ist Götzner in Reichenberg im Landkreis Würzburg – ein fränkisches Dorf mit 4000 Einwohnern, Kirche, Schützenverein und Freiwilliger Feuerwehr. Götzner schließt eine Lehre als Dekorateur ab, bevor er sich für den Beruf des Musikers entscheidet „Mein Vater hätte es am liebsten gesehen, wenn ich bei der Bundeswehr-Kapelle eingestiegen wäre. Was natürlich nicht meinen Vorstellungen von Musik entsprach.“ Götzner verehrt Hendrix und Cream und entdeckt die Musikwelt durch seinen Bruder Erich, der in der Beatband „The Four Trashmen“ spielt „Mein Bruder hatte gemerkt, dass ich immer auf Sofa-Kissen rumgetrommelt habe. Irgendwann lasen wir in der Zeitung, dass ein gebrauchtes Schlagzeug zu verkaufen sei. Da haben wir zugeschlagen. Ich musste es an einer Mauer in unserem Keller anlehnen, damit es nicht wegrutschte.

Nach der Flucht aus Berlin: Klaus Götzner Ende der 70er Jahre in FresenhagenDie Trommeln hatten alle Naturfelle, also musste ich jede Woche neue Felle kaufen. Die Fußmaschine konnte man höchstens fünf Minuten bedienen, dann fiel der Klöppel heraus. Aber auf diesem Schlagzeug habe ich ein Jahr lang wie ein Besessener geübt.“

Blues Campaign heißt die Würzburger Band, mit der Götzner erste Erfolge feiert. Der Einstieg gelingt, als sein Vorgänger in die Ferien fahrt und die Band für einen Beat-Wettbewerb eine Vertretung sucht. Götzner springt ein und mutiert von der Urlaubsvertretung zum festen Mitglied. Blues Campaign gewinnt 1966 den Beat-Wettbewerb, und Götzner wird als „bester Schlagzeuger Unterfrankens“ ausgezeichnet Einige Jahre lang tritt er mit der Band auf, bis er in Westfalen bei Missus Beasdey anheuert und seiner fränkischen Heimat den Rücken kehrt., JVIissus Beastley machten damals wahre Soundorgien. Wir spielten frei, wie bei Grateful Dead. Und das Leben war auch so. Es wurde nur improvisiert, wir gehörten damals zu den so genannten Underground-Bands. Das waren XhoL Guru Guru, Amon Düül, Popol Vuh oder Tangerine Dream. Mit denen traten wir dann auch auf vielen Festivals gemeinsam auf.“

Götzner spielt kurzzeitig als Percussionist mit den Weltmusikern von Embryo, nimmt mit der Krautrock-Band Sameti seine erste Platte auf und begegnet auf der Suche nach einer neuen festen Band zum ersten Mal Ton Steine Scherben. „Sie spielten damals in Dortmund“, erinnert sich Götzner. „Ich wollte ein bisschen mittrommeln, aber davon waren sie nicht begeistert. Session war nicht, die wollten ihr Konzert durchziehen.“ Eher durch Zufall kommt Götzner wenig später dann doch zu seinem Job als Scherben-Schlagzeuger.

Die Band liefert damals den Soundtrack zur 68er Studentenrevolte. In Berlin toben Straßenkämpfe. In ihren Texten fordern Ton Steine Scherben den Sturz der Regierung und rufen nach Konzerten zur gemeinsamen Hausbesetzung auf. In keiner Wohngemeinschaft, die etwas auf sich hält, dürfen die Alben mit programmatischen Titeln wie “ Warum geht es mir so dreckig“ fehlen. „Ton Steine Scherben liefern seit Beginn der 70er Jahre der anarchistischen Systemverweigerer-Szene tönende Verhaltensmuster“, resümiert wenig später das Rowohlt-Rocklexikon. Im Dezember ’71 besetzen Zuschauer und Band nach einem Konzert in der Mensa der Technischen Universität einen Teil des leerstehenden Bethanien-Krankenhauses in Kreuzberg. Das Haus wird „Georg-von-Rauch-Haus“ benannt, im Gedenken an einen vier Tage zuvor von Polizisten erschossenen Studenten. Die Scherben stehen wie keine andere Band für Revolution, Anti-Kapitalismus und Krawalle.

Und Götzner mittendrin. „Ich hatte eine Annonce aufgegeben: ‚Schlagzeuger zwischen Zen und Mao sucht Anschluss an Gruppe‘ – und das haben die Scherben wohl gelesen. Nach dem Vorspielen teilten sie mir irgendwann mit, dass sie mich ausgesucht hätten – und fragten gleich, ob ich auch in der Wohngemeinschaft leben möchte. Später erfuhr ich, dass sie sogar gependelt und I Ging geworfen hatten, um rauszufinden, ob ich der Richtige bin.“

Götzner packt die Gelegenheit beim Schopf, zieht in die Musikerkommune am Tempelhofer Ufer und wird nach Wolfgang Seidel und Olaf Lietzau der dritte und letzte Schlagzeuger von Ton Steine Scherben. Den Spitznamen,,Funky“ verpasst ihm Sänger Rio Reiser. „Ich wollte unbedingt auch Funk-Musik spielen und hatte eine weitere Anzeige aufgegeben, in der ich eine Funk-Band suchte,“ erzählt Götzner. „Irgendwie hat Rio das mitbekommen: ‚Wie kommt es, dass du hier eine Anzeige aufgibst, obwohl du gerade erst in unsere Band eingestiegen bist?‘ Er war stinksauer. Als ich ihm dann erklärte, dass ich ja nur nebenbei Funk spielen möchte, hat er mich eben ,Funky‘ getauft.“

„Funky“ hat es nicht leicht bei den Scherben. Das Führungsduo besteht aus Sänger Ralph Möbius alias Rio Reiser sowie Gitarrist Ralph Peter Steitz, der sich RJiS. Lanrue nennt Der Drummer musste sich unterordnen, erzählt Bassist Kai Sichtermann. „Es gab immer eine gewisse Hierarchie bei den Scherben. Funky hat ab und zu was auf die Mütze gekriegt, weil er als Letzter dazu gekommen ist Es gab eine Hackordnung wie beim Fußball.“

Götzner stolpert in eine turbulente Zeit Die Wohngemeinschaft am Tempelhofer Ufer hat damals in der linken Szene einen legendären Ruf und wird ständig polizeilich überwacht Hausdurchsuchungen sind keine Seltenheit Denn in der Berliner Szene kennt jeder jeden, weiß Rio-Bruder Gert Möbius. „Die Leute, die sich später anarchistischen Gruppen wie der ,Schwarzen Hilfe‘ oder der Bewegung 2. Juni‘ anschlössen, waren alle keine Unbekannten. Ich habe zum Teil mit denen gemeinsam auf der Film- und Fernsehakademie studiert Die sind da irgendwie hineingeraten, aber blieben trotzdem noch Freunde. Mit Andreas Baader habe ich über ein Jahr lang im gleichen Theater geprobt Ich hab mich dann zwar gewundert, dass der so etwas macht, aber ich kann auch nicht sagen, dass ich ihn nicht kannte.“

Die RAF wird auf die Scherben aufmerksam und bestellt ein Lied bei Rio Reiser. Es soll ein Lied sein, das die Leute schreiend aus den Häusern laufen lässt, um den Kampf gegen die imperialistischen Paläste zu wagen. Rio schreibt „Keine Macht für Niemand“, doch der Schlachtruf wird von der obersten Kommandoebene der RAF als politischer Blödsinn abgelehnt. Trotzdem dient die Acht-Zimmer-WG der Scherben als Anlaufstelle für Politaktivisten der linken Szene. Es herrscht ständiges Kommen und Gehen: Freaks mit langen Haaren, Anarchisten, gesuchte Terroristen. Einfach war das Leben mit fast 20 Mitbewohnern nicht „Wir hatten extremen Geldmangel und versuchten mit wenig über die Runden zu kommen,“ erinnert sich Funky. „Wir mussten jeden Morgen sammeln gehen. Fünf oder zehn Mark wurden immer aufgetrieben. Damit gingen wir dann los und haben ‚eingeklauft‘. Einige haben das schon richtig professionell gemacht und sind mit dem Auto vor den Gemüseladen gefahren, haben blitzschnell einen Sack Kartoffeln eingeladen und waren wieder weg. Das Essen wurde rationiert. Es gab jeden Morgen dieses Gummi-Brot von Aldi. Nach und nach haben sie uns Gas und Strom abgestellt, und die Zustände wurden immer schlimmer. Wir haben gleichzeitig die Aufnahmen für das Album „Wenn die Nacht am tiefsten“ vorbereitet, hatten aber dafür auch kein Geld, und am Mariannenplatz einen Proberaum, der auch noch abgebrannt war. Also mussten wir in der Wohnung üben – was zur Folge hatte, dass ständig die Nachbarn und die Polizei auf der Matte standen.“

„Wenn die Nacht am tiefsten…“ ist das dritte Album von Ton Steine Scherben und das erste mit Funky am Schlagzeug. Als Visionäre wollen die Scherben die Welt verbessern und einer verzweifelten Generation eine Stimme geben. Aber die Band steckt permanent in Geldnöten. Schon der allererste Scherben-Auftritt bei dem – von Erotik-Queen Beate Uhse gesponsorten – Fehmarn-Festival im September 70 wird zum Fiasko. Der Veranstalter kann zwar große Namen vorweisen, aber keine Gagen. Die Scherben kreuzen mit 28 Mann auf, und Rio fordert das Publikum von der Bühne aus auf, „die Veranstalter ungespitzt in den Boden zu hauen“. Allerdings sind diese mit den gesamten Einnahmen längst über alle Berge. Nach Jimi Hendrix‘ letztem Konzert entern die Berliner die Bühne und spielen fünf Songs, bevor die Randale beginnt. Die Bühne geht in Flammen auf. Die Band kassiert später eine Anzeige wegen Landfriedensbruch. Als Manager fungierte damals Rios Bruder Gert Möbius. „Wir hatten ständig das Problem, überhaupt eine Gage zu bekommen. Aber wir hatten ja Ausgaben, wir mussten unser Benzin bezahlen! Jedes Mal musste man genau schauen, wer der Veranstalter war. Man musste dem Geld permanent hinterherlaufen. Das war auch der Grund, warum die Band schon früh hochverschuldet war.“

Die Band hadert mit der linken Szene und den Erwartungen, die an sie gestellt werden. Die Scherben werden schamlos ausgenutzt und oft verpflichtet, ohne Gage „Solidaritätskonzerte“ zu spielen. „Deshalb haben wir damals noch den Versuch unternommen, Geld aufzutreiben, indem wir selbst eine Aktie erfunden haben,“ erzählt Funky. „Das war ein Linol-Druck-Motiv mit zwei Menschen, die auf dem Planeten Erde stehen und sich die Hand geben. Darunter stand ,David Volksmund‘ und unsere Unterschriften. Mit diesem Linol-Druck haben wir dann Aktien gedruckt und für 200 Mark verkauft. Jeder, der eine Aktie erwarb, hätte dann zwei Jahre langjedes von uns neu erschienene Produkt kostenlos bekommen – und das Geld nach zwei Jahren zurück. Ist natürlich nie passiert“

Stattdessen dreht sich die Band immer weiter in der Schuldenspirale und wird ständig von Veranstaltern instrumentalisiert Konzerte der Band gleichen eher Kundgebungen oder Diskussionsforen. „Das war mehr ein Happening mit politischem Charakter“, so Götzner. „Oft wurden wir einfach unterbrochen, weil die Leute diskutieren wollten. Es gab zwar auch reine Musik-Fans, aber dazwischen waren immer wieder Leute, die partout ihre politische Meinung kundtun wollten.“

Ihre ersten Platten produzieren die Scherben selbst in einem Berliner Hinterhof und vertreiben sie auch konsequent in Eigenregie. „David Volksmund Produktion“ nennen sie ihre eigene Plattenfirma und gründen zusammen mit Bands wie Missus Beastley und Embryo ein Vertriebssystem namens „April Records“, das später in „Schneeball“ umgetauft wird. Die Geschäftsidee erweist sich als erfolgreich. (Der später in EfA – „Energie für Alle“ – umbenannte Indie-Vertrieb meldete allerdings im März ’04 Insolvenz an.) „Der Grundgedanke war der, dass jeder in seiner Region die Scheiben vom anderen mitverkauft“, so Burkard Schmidl, Keyboarder von Missus Beastley. „Die Scherben haben ja in Norddeutschland und Berlin operiert, Embryo war in München, wir damals in Mainz, später Göttingen. Wir mussten also die Arbeit eines Plattenvertriebs leisten, was natürlich anfangs arg hippiehaft und unorganisiert war. Man musste seinem Geld und den Scheiben bei den anderen Bands immer hinterherlaufen. Aber es funktionierte! Jeder hat bei Konzerten immer einen Plattenstand gemacht, und das sprach sich irgendwann mm. Missus Beastley etwa war, kurz bevor ich eingestiegen bin, noch bei der Teldec und hat danach erheblich mehr Scheiben über den alternativen Weg verkauft als vorher.“

Trotzdem, Funky muss – als gelernter Dekorateur – nebenbei Gräber auf dem Friedhof schmücken, wenn die Knete mal wieder knapp ist Die Musiker nagen am Hungertuch, obwohl viele ihrer Konzerte ausverkauft sind. „Wir haben ab und zu Einzel-Gigs gespielt, bekamen aber auch keine vernünftigen Gagen, weil in der linken Szene nie Geld da war“, erzählt Götzner. „Es sollte auch möglichst alles ohne Geld funktionieren, weil Geld war ja böse. Deshalb haben wir improvisierte Touren gemacht, die äußerst anstrengend waren. Wir haben immer in irgendwelchen WGs, wo oft noch renoviert wurde, unter nicht gerade glücklichen Umständen übernachtet und sind mit grässlichem Equipment aufgetreten. Natürlich beschwerten sich danndie Leute über den schlechten Sound, erwarteten aber gleichzeitig Solidaritätskonzerte, oft ohne jede Gage. Davon konnten wir einfach nicht leben, das war unmöglich. Mit einer Tournee Geld zu verdienen, war einfach nicht drin.“

Im Juni 75 haben die Scherben genug von Berlin. Auslöser ist ein Solidaritätskonzert, bei dem die Unzufriedenheit der Band eskaliert. „Ich weiß noch, wie ich abends fix und fertig vom Arbeiten nach Hause kam, und dann hieß es, wir haben einen Gig zugesagt, für den gibt’s 300 Mark Gage. Wir haben dann das Equipment in unseren alten Hanomag geladen, sind dorthin gefahren, haben alles in den vierten Stock geschleppt und die Schrottanlage aufgebaut. Keiner hatte bis dahin etwas gegessen an diesem Tag. Deshalb fragten wir nach einer Platte mit Schmalzbroten, die dort herumstand. Dann meinte aber die Frau hinter dem Tresen, wir müssten dafür den Solidaritätspreis entrichten. Rio ist total ausgeflippt, hat sich das Hemd aufgerissen, rumgebrüllt und die Platte durch den Raum geschleudert Wir mussten dann sofort zusammenpacken. Am nächsten Vormittag wurde ein Plenum einberufen – und da wurde dann entschieden, dass wir Berlin verlassen.“

Die Scherben ziehen aufs Land – nach Fresenhagen nahe Sylt Kurz vor der dänischen Grenze, mitten in Schleswig-Holstein. Dort gibt es nur Landwirtschaft, Wind und Gästezimmer. Ein kaputter alter Bauernhof bietet ländliche Idylle und Zurückgezogenheit. Als die Band 1975 den Hof von Landwirt Peter Johannsen übernimmt, war der Gebäudekomplex noch in einem desolaten Zustand. „Fresenhagen war ja ziemlich kaputt“, so Götzner. „Im Dach waren riesige Löcher. Wir sind voller Hoffnung dahin und wollten daraus einen Palast machen, es herrschte richtige Pionier-Stimmung. Wir wollten dort überleben und haben uns langsam wieder hochgearbeitet. Wir haben viele Produktionen gemacht für Film und Theater. Damals gab es auch diesen Befreiungsschlag der Schwulen und Lesben, das hat sich alles langsam geöffnet Dazu haben Rio und die Scherben auch einen großen Teil beigetragen, weil wir natürlich immer hervorragende Kontakte nach Berlin hatten. Berlin hat uns nie ganz los gelassen, und es kamen auch immer viele Leute in Fresenhagen vorbei.“

Das friesische Idyll ist das komplette Gegenteil von Berlin. Die Landbevölkerung reagiert anfangs skeptisch auf die neuen Nachbarn. „Die Neugierde war groß, aber keiner hat sich getraut hinzugehen“, erzählt der damalige Nachbarsjunge Michael Stark. „Das kam erst nach ein paar Jahren, als die Musiker anfingen, auf den Nachbarhöfen zu arbeiten, um sich noch eine Mark zu verdienen. Dann wurde das Verhältnis auch inniger. Nachts war immer Leben in der Bude, und tagsüber war bis 12 Uhr mittags Totenstille. Hier fingen die Leute morgens um 5 Uhr an zu arbeiten und waren um 18 Uhr fertig. Bei denen war es genau anders herum.“

In Fresenhagen versucht die Band einen Neuanfang. Allerdings wirkt sich die himmlische Ruhe in Nordfriesland nicht immer nur positiv aus, sagt Dirk Schlömer, der 1983 als Gitarrist bei den Scherben einsteigt. „In der scheinbaren Idylle des Bauernhofs draußen in der Einöde packt dich irgendwann der Inselkoller“, meint er. „Man lebt ja praktisch getrennt vom Rest der Bevölkerung in einer extrem engen Gemeinschaft Gerade vor den Konzerten sind der Druck und die Spannung immer enorm gestiegen. Damit muss man zurecht kommen. Psycho hat dann regiert, so nannte man das bei den Scherben.“

Das Landleben löst so manche Komplikationen aus, vor allem für Neuankömmlinge wie den Gitarristen Marius del Mestre, der 1981 die Berliner Punkband Tempo verlässt und in die Scherben-Kommune zieht „Ich war 19 Jahre alt, als ich nach Fresenhagen kam, und hatte vom Landleben keine Ahnung“, erzählt er. „Ich dachte am Anfang: Die Band ist klasse, aber es ist verdammt kalt hier, und es gibt überall nur Spinnen und Fliegen. Die Zimmer waren sehr eng. Hier wohnten ja gleich zwei Bands: die Scherben und die Frauenband Carambolage, die teilweise mit den Scherben zusammen waren. Und es gab die ewige Frage: Wer schläft in welchem Bett?“

Die Politproteste werden Mitte der 70er Jahre langsam leiser, gleichzeitig weicht auch die Radikalität aus den Texten der Band. Es soll aufwärts gehen, mit weniger politischen Songs und Managerin Claudia Roth (die heute für die Grünen im Bundestag sitzt). „Die einzige Rettung für uns wäre gewesen, bei der Plattenindustrie einen Vertrag zu unterschreiben“, sagt Funky. „Das haben wir versucht Es gab auch einen Interessenten, der kurz davor war. Dann hätten wir natürlich einen Vorschuss gekriegt, mit dem wir einen großen Teil unserer Schulden hätten abzahlen können. Es wäre dann sicher irgendwie weiter gegangen. Besagte Firma stoppte aber einen Tag vor Unterzeichnung das Projekt, angeblich weil sie selbst kein Geld hatte.“

Rio schreibt inzwischen Songs für freie Theatergruppen wie das „Kollektiv Rote Rübe“ und das erste deutsche Schwülen-Theater „Brühwarm“. In Fresenhagen macht Götzner Heuund Strohernte mit, um neben der Musik Geld zu verdienen. Denn der Wirtschaftsbetrieb Ton Steine Scherben funktioniert mehr schlecht als recht Zwar veröffentlicht die Band insgesamt fünf Studioalben und verkauft davon mehr als 500 000 Exemplare. Viel Geld bleibt allerdings nicht übrig. 1985 sitzen Ton Steine Scherben auf einem Schuldenberg von 500 000 Mark. „In dieser Zeit reifte bei Rio wohl der Entschluss, eine Solo-Karriere zu starten“, erzählt Funky. „Er hat Projekte wie ‚Dr. Sommer‘ gemacht, das von Anette Humpe produziert wurde. Als wir dann einmal alle in Berlin waren, hat er ein Treffen mit uns vereinbart und bekannt gegeben, dass er die Gruppe auflöst“

Die Landkommune in Fresenhagen zerbricht Auf einer Wahlkampfveranstaltung der Grünen am 6. März ’85 spielen Ton Steine Scherben ihr letztes Konzert. Danach verstreuen sich die Mitglieder in alle Ecken der Welt Klaus Götzner geht zurück nach Berlin und lebt von Sozialhilfe. „Ich habe damals den Bandbus mitgenommen und bin nach Berlin zurück. Der Bus stand ein Jahr am Mariannenplatz, und ich bin immer zu Freunden zum Duschen gegangen. Irgendwann habe ich dann auch wieder eine eigene Wohnung bekommen und musste zum Sozialamt gehen. Die Situation war nicht gerade erfreulich, aber mir blieb nichts anderes übrig. Meine Wohnung war in der Waldemarstr. 66. Ich habe hinten gewohnt, Rio im Vorderhaus. Er ging zu Sony, ich ging zum Sozi!“

Götzner steht vor dem Nichts. Ein Schicksal, das einige seiner Bandkollegen mit ihm teilen. Außer Rio, der eine erfolgreiche Solokarriere bei der großen Sony startet, müssen sich fast alle nach neuen Jobs umschauen. Auch Flötist Jörg Schlotterer, der heute als Physiotherapeut sein Geld verdient „Heute muss jeder vielfältig und flexibel sein, um überleben zu können. Wir haben ja nicht vorgesorgt und jahrelang geklebt wie alle anderen. Deshalb müssen wir heute alle flexibel sein, um nicht unterzugehen. Ich weiß von vielen von uns, dass sie sich tierisch anstrengen müssen, um überhaupt noch über die Runden zu kommen.“

Rio landet mit „Der König von Deutschland“, einer ironischen Attacke gegen die Bundesrepublik, 1986 seinen größten Hit, bevor er am 20. August 1996 im Alter von 46 Jahren völlig überraschend stirbt – offizielle Ursache: Kreislaufzusammenbruch und innere Blutungen. (Der erhöhte Alkoholkonsum wird allerdings kaum förderlich gewesen sein.) Im Garten des alten Bauernhofs in Fresenhagen ist Rio Reiser begraben. Klaus Götzner fangt als Kulissenbauer beim Film von vorne an, leidet aber schon bald an einer miserablen Auftragslage. „Mein Ziel war es immer, von der Musik zu leben. Das ist mir leider nie ganz gelungen“, sagt er bedauernd. Folglich machte er in den letzten zwei Jahren eine weitere Ausbildung und ist mittlerweile Spezialist für betriebliche Altersvorsorge.

Nebenher hat er mit Terra Brasilis eine neue musikalische Heimat gefunden: ein 20-köpfiges Samba-Orchester mit Auftritten weltweit. Gemeinsam mit Trommlern aus sieben Nationen bereiste er die ehemalige Sowjetunion, Japan und Korea. „Terra Brasilis ist eine Samba-Schule, mit der ich als Drummer alles Mögliche ausprobiert habe: von Maracatu bis zu den kompliziertesten lateinamerikanischen Rhythmen. Wir wurden sogar zur besten deutschen Samba-Band gekürt.“ Seit dem 11. September 2001 werden die Gigs für Terra Brasilis aber spürbar weniger. „Die Leute geben einfach nicht mehr so viel Geld aus.“

Im August 2004 sitzt der Würzburger allerdings wieder bei der sogenannten Scherben-Family am Schlagzeug. Die verbliebenen Originalmitglieder der Band (bis auf Gitarrist Lanrue) spielen ein Open Air am Todestag von Rio – zum ersten Mal wiedervereint seit dem „Abschied von Rio“ im Berliner Tempodrom am L September 1996. Rios Grab in Fresenhagen ist längst zur Pilgerstätte für junge und alte Fans geworden, die Blumen oder Geschenke mitbringen. Der alte Bauernhof heißt mittlerweile Rio-Reiser-Haus und wird als Veranstaltungs- und Tagungsort genutzt Unter dem Dach hat der Betreiberverein „Rio-Reiser-Haus e.V.“ sogar ein kleines Museum zur Geschichte von Rio und den Scherben eingerichtet Jedes Jahr am 20. August treffen sich hier ehemalige Band- und Familienmitglieder sowie Freunde und alte Wegbegleiter.

Im letzten Sommer wurde das Familientreffen sogar zu einem Umsonst & Draußen-Festival umfunktioniert „Es war eine spontane Idee. Weil Lanrue einen harten Schicksalsschlag hinnehmen musste, haben wir uns entschlossen, aus Solidarität für ihn zu spielen“, so Bassist Sichtermann. „Gert hat mich 14 Tage vorher angerufen, deshalb haben wir nur zweimal ganz kurz geprobt“ Benachbarte Bauern walzten ein Maisfeld platt und stellten auf dem sandigen Boden eine große Bühne, Vferstärkeranlage und Bierstände auf. Zwei Tage lang traten befreundete Künsder wie Marianne Rosenberg, Söhne Mannheims oder Fehlfarben ohne Gage auf- und als Höhepunkt dann die Scherben-Family mit Funky Götzner, Kai Sichtermann, Dirk Schlömer, Marius del Mestre und Jörg Schlotterer. Der Erlös des Festivals ging an den einstigen Scherben-Gitarrist Lanrue, der heute auf seinem Grundstück im portugiesischen Monchique lebt und dort durch einen Waldbrand sein komplettes Hab und Gut verlor.

Gemeinsam mit Rios Bruder Gert Möbius hat Lanrue aber inzwischen zumindest seine Geschäfttüchtigkeit wiederentdeckt und veröffentlicht über die David Volksmund Produktion zum Jahresanfang „18 Songs aus BJahren „, eine Zusammenstellung von Scherben-Klassikern zum 35. Gründungsjubiläum der Band. Alle Songs sind remastered, viele neu abgemischt – und einen unveröffentlichten Track will man auch noch spendieren: „Sei mein Freund“.

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