Tor oder Tor Titan

Er brachte Quote und Auflage wie keine andere nationale Reizfigur, doch am 17. Mai ist alles vorbei. Die Medien werden trauern, wenn der ABSCHIED VON OLIVER KAHN dräut. Für Deutschlands einstige Nummer eins wird die Frage dann sein: Wie lässt er sich besser vermarkten - als Mythos oder Mensch? Als Torwart-Titan oder sich selbst schindender Ehrgeizling? So deutsch wie er waren selbst Fritz Walter oder Heinz Rühmann nicht. Ein Nachruf auf einen Mann, der immer mehr war als bloß ein Sportler.

In München, in der Österhausstraße, werden sie traurig sein am 17. Mai. Auf dem weiten Gelände, wo früher eine Lodenfabrik die Kleider-Grundversorgung für den rechtschaffenen Bayern und die Förster und die diskrete Bourgeoisie herstellte, haben sich heute lauter Medienfirmen eingerichtet. Weil ja heutzutage selbst die Produktion von Loden und Trachten an so einem Standort eine Verschwendung wäre, mitten in München, am Rande des Englischen Gartens und mit deutschen Mindestlöhnen. Das ist schließlich nicht konkurrenzfähig. Stattdessen verdienen nun profitablere Firmen hier ihr Geld, zum Beispiel die Playce AG. Dessen Geschäftsführer heißt Peter M. Ruppert, der so etwas wie der Manager und Medienberater von Oliver Kahn ist. Am 17. Mai, so gegen halb sechs spätnachmittags, wird es einen letzten langen kollektiven Aufschrei geben, draußen im Stadion, das in München jetzt Allianz-Arena heißt, und dann im Fernsehen und im Radio und auf allen Zeitungsseiten. Schließlich bringt Kahn Quoten und Auflage wie kaum eine nationale Angelegenheit. Oliver Kahn wird sein letztes Hemd tauschen, mit der Eins auf dem Rücken, voraussichtlich mit jemandem vom letzten Gegner Hertha BSC Berlin. Ehrenrunden, Schampus, Meisterfeier. Danach kommt, ab Juli, eine Werbekampagne für ein Hairstyling-Produkt von Wella. Aber dann werden sich die Gemüter beruhigen und das Geschäft mit dem Torwart-Titan wird langsam abflauen. Bei Peter Rupperts Playce AG haben sie immerhin auch Hansi Hinterseer unter Vertrag und die Scorpions. Aber so einen wie Kahn bekommt man so schnell nicht wieder. „Gezielte Kommunikation ist die größte Herausforderung unserer Zeit“, lautet das offizielle Motto von Kahns Manager in der Österhausstraße. Gut, manche sehen auch andere Probleme für die Weltbevölkerung. Aber das, was Ruppert für Kunden wie Oliver Kahn produziert, nennt er „Mehrwertkommunikation“ – die englische Übersetzung „Added Value Communication“ ist sogar markenrechtlich geschützt, damit sich nicht jemand anderes so etwas noch einmal ausdenkt. Und nebenbei, so sagt man, wisse Ruppert auch viel über Meditation. Das wird helfen, über die bald abschwellende Vermarktungskraft von Kahn hinwegzukommen. Nur: Was macht denn eigentlich die Popularität und die Hassliebe für einen Rockstar wie Oliver Kahn aus?

Oliver Kahn wird bald 39. Und irgendwie hat man das Gefühl, er wäre schon genauso lange der Torwart der Nation. In Japan nennen sie ihn ehrfürchtig „Kippakahn“ (was die japanische Intonation von „Keeper Kahn“ ist), seit er dort beim WM-Turnier 2002 den Mythos eines Torwart-Titanen, des Beinahe-Unbezwingbaren hinterlassen hat. In „Fernost“, wie Oliver Kahn das selber nennt (und dabei ein bisschen so klingt wie Gerhard Polt, wenn er die aus Thailand importierte Katalog-Ehefrau Mai-Lingruft), hat sich der Mythos des Gewaltigen Hulk unter den Torhütern so pur ins kollektive Gedächtnis eingraviert, dass es für jeden Vermarktungs-Ruppert nur so ein Fest sein müsste.

Schließlich sieht (und vor allem: versteht) man Kahn in Fernost nicht jeden zweiten Tag im Fernsehen, wenn er mit wirrem Haar und rastlos im Raum umhersuchenden Blick die welken Erkenntnisse von zwei eben beendeten Halbzeiten kommentiert: „Was uns heute gefehlt hat? Eier. Eier haben uns heute gefehlt. Eier!“ Und das gegen Schalke! Ohne diesen Alltags-Kahn, der gegnerischen Stürmern in unbuddhistischer Rage Ohren oder Nase abzubeißen droht, wäre sein Stand in Deutschland nicht der, der er ist. Aber er würde auch nicht so transzendiert strahlen wie in der reinen Form des Kippakahn von Yokohama.

Die Frage ist also: Was macht den Helden aus, was vermarktet sich besser? Und warum? Das titanische Idol? Oder der deutsche Kahn, der sich selbst schindende Griesgram, der sich alles hart erarbeitet hat und einem deutschen Gemüts-Ideal soviel näher kommt als selbst Heinz Rühmann oder Fritz Walter?

Der Mai wird uns mit Nachrufen auf die große Fußball-Karriere des Oliver Kahn überschwemmen. Premiere arbeitet sogar an einem 90-Minuten-Dokumentarfilm über Kahns letztes Jahr-eine Art „Serengeti darf nicht sterben“ aus der Fußball-Savanne. Und in allen Nachrufen wird eines von vielen Zitaten von Oliver Kahn stehen, die alle dasselbe sagen: „Ich hätte mit normalem Aufwand ein guter Torwart werden können. Aber ich wollte ein Super-Torwart werden.“ Und es wird zu lesen und zu hören sein, dass Kahn mit leicht überdurchschnittlichem Talent ausgestattet gewesen sei, ausreichend für die zweite oder dritte Liga, aber durch seiner Hände Arbeit so viel mehr daraus gemacht habe. „Wenn du nicht früh beißen musst, kommst du nicht weiter“, hat Kahn ein Dutzend mal in Interviews wiederholt. Oliver Kahn steht wie kaum einer für das ewige Fazit, das wir ziehen, wenn wir der raubkatzenartigen Ballbehandlung von Thierry Henry, Lionel Messi oder Christiano Ronaldo zuschauen: Der Deutsche kann nicht so gut Fußball spielen – aber er muss.

Natürlich müssen die Namen Jürgen Klinsmann und Jens Lehmann in jedem Nachruf auf Kahns Karriere vorkommen. Das soll auch hier so kommen. Und auch die verblüffende Tatsache, dass Kahn, der gefühlt schon 1990 mit Deutschland Weltmeister in Italien war, tatsächlich nur bei einer einzigen Weltmeisterschaft Stammtorwart war: 2002 eben. Doch vor diesen späten Kapiteln sollen auch hier die Sonderschichten stehen, von denen alle Weggefährten berichten, dass sie den Erfolg des Oliver Kahn erst möglich gemacht haben. Überstunden, Ärmel aufkrempeln (obwohl Kahn aus Angst vor rinnendem, glitschigen Schweiß stets mit langen Ärmeln hielt), Willenskraft, den inneren Schweinehund so richtig zur Sau machen – und dem Druck standhalten. Immerzu dem Druck standhalten. Das riecht nach Deutschland und nach Wirtschaftswunder und nach den Zeiten, als die Züge noch sekundenpünktlich in die Bahnhöfe einfuhren.

Oliver Kahns Vater Rolf war, als die Bundesliga noch in den Kinderschuhen steckte, auch schon Spieler beim Karlsruher SC. Der KSC kämpfte schon damals jedes Jahr gegen den Abstieg und Rolf Kahn war oft verletzt und spielte selten. Trotzdem reichte der Fußball-Hintergrund aus für beide Söhne. Der eine, Axel, machte ein paar Zweitligaspiele für Karlsruhe, der andere, Oliver, vertrat 1977 erstmals den erkrankten Torwart der E-Jugend des KSC. Anschließend schenkte ihm, der Legende nach, sein Großvater eine Torwart-Kluft „Sepp Maier“ – und das Schicksal nahm seinen Lauf.

Zunächst noch relativ lautlos, denn Oliver Kahns Torwartruf blieb vorerst nur auf regionalem Niveau hörbar. Weil er von den Großkopferten der DFB-Jugend-Kaderschmieden als zu klein und zu schmächtig eingestuft wurde, kam er nie für die sonst üblichen Jugend-Nationalmannschaften in Frage. Kahns aufdämmernde Trainings-Besessenheit wurde schon damals von den Gralshütern des deutschen Fußballs verkannt. Und Kahn begann mit dem Rrafttraining.

er Jahre später den Bananenhagel von den Tribünen erlebte und die Buschgeräusche, mit denen neidische, missgünstige Fans anderer Klubs den inzwischen zum FC Bayern München gewechselten Wüstling von einem Torwart rituell begrüßten, der kann die Vorbehalte gegen den frühen Kahn noch weniger nachvollziehen. Heerscharen von Journalisten wollen beobachtet haben, wie die physische Gewalt von Oliver Kahn mindestens zwei Generationen von Stürmern eingeschüchtert habe. Während der WM 2002 in Japan und Tokio konnte offenbar jeder diese Einschüchterung spüren. Halb war sie dahergeschrieben und beschworen, halb kam sie aus der tatsächlichen Klasse des Torwarts, von dem es damals hieß, dass er allein die Mannschaft Runde für Runde im Turnier gehalten habe. Mit dieser Ausstrahlung von Unbezwingbarkeit, die so gut zum Mythos taugt und die im Fußball auf so unsagbare Weise tatsächlich die Wirklichkeit verändert und Fußball-Ergebnisse dem Zugriff der reinen Naturwissenschaften und der Logik entreißt. Wie sonst soll man erklären, welchen Anteil dieses letzte Nachvornestürmen von Kahn hatte, als die Bayern neulich bei dem schon verlorenen Uefa-Cup-Spiel beim FC Getafe in allerletzter Sekunde das rettende 3:3 schossen? Kahn stieg tatsächlich zu einer Art Kopfballduell hoch. Aber war es nicht mehr seine mentale Präsenz, die Luca Tonis Ausgleichstor auf unerklärliche Weise mit erzwang?

Doch zurück zum Aufstieg des jungen Kahn. Für die nordbadische Amateur-Auswahl reichte es zunächst, dann für das Tor der 2. Mannschaft des Karlsruher SC. Nebenbei machte Kahn am Helmholtz-Gymnasium noch Abitur. Da stand für ihn allerdings schon seit fünf Jahren fest, dass er Fußball-Profi werden würde. Kahn machte Sonderschichten. Von nichts kommt schließlich nichts. Als sie ihn, mit 20, endlich als Reservetorwart für die Bundesliga-Mannschaft des KSC aufrücken ließen, schwappte die Wut, Zeitgenossen zufolge, das erste Mal so richtig hoch in ihm. Alexander Famulla, der Kahn damals als Stammtorwart noch im Wege war, hat nachher den starrsinnigen Ehrgeiz des jungen Mannes beschrieben: „Ich wollte damals nicht mit ihm das Zimmer in den Trainingslagern teilen. Ich hatte Angst, er setzt mir nachts ein Kopfkissen aufs Gesicht und erstickt mich.“

Famulla hat dem Druck des „jungen Wahnsinnigen“ auch so nicht lange standgehalten. Im November 1990 leistete sich Karlsruhes Stammtorwart zwei Fehlgriffe gegen den VfL Bochum. KSC-Trainer Winfried Schäfer wechselte zur Halbzeit den 21-jährigen Kahn ein -Famulla soll noch während der zweiten Halbzeit nach Hause gefahren sein. Spätestens da dürfte der Torwart Oliver Kahn instinktiv gelernt haben, dass man es im Leben weit bringt, wenn man Gegner einschüchtert und verunsichert, selbst mit den eigenen Arbeitskollegen nur das Notwendigste zu kommuniziert, ab und an herumbrüllt wie ein Berserker und allen Schmerzen androht, die dasselbe wollen wie Kahn: gewinnen also, einen Stammplatz haben, immer der Bessere sein, reich werden. Das Stadion von Karlsruhe heißt Wildparkstadion-da ist die freie Wildbahn nicht weil.

Autismus kann eine schlimme Krankheit sein, doch die milderen Formen bringen nur typische Sonderlinge hervor, Männer also, und manchmal auch ein Genie: Einstein, Beethoven, Newton. Männer sind mindestens sechsmal so oft betroffen wie Frauen, was mit einer Schwemme an Testosteron in einer bestimmten Schwangerschaftsphase zu tun haben soll. Fußball-Torhüter stehen schon so lange in Verdacht, Sonderlinge zu sein (seltener gelten sie als Genies), und die Beschränkung auf diese eine Position im Fußball macht fast jeden Torwart verdächtig, im Mutterleib einen Schluck Testosteron zu viel genommen zu haben. Die unermüdliche Beschäftigung mit scheinbar unwesentlichen Details soll typisch männlich sein und so ist der junge Oliver Kahn vielleicht gar nicht so aufgefallen, wie man denken könnte.

Beim KSC jedenfalls musste er noch drei Jahre warten, ehe sie ihn 1993 erstmals zu einem Nationalmannschafts-Lehrgang ein luden. Kahn galt nu n in DFB-Kreisen als unwesentlich mürrischer als andere Torhüter, allerdings stets mit Buch unterwegs (um beim Essen nicht mit jemandem reden zu müssen) und stets ein wenig abgesondert. Später, in all seinen Jahren beim FC Bayern, soll Mehmet Scholl der einzige Mitspieler gewesen sein, mit dem Kahn auch privat eine freundschaftliche Beziehung pflegte. Auch Scholl kam aus Karlsruhe nach München, er ist einen Kopf kleiner als Kahn und wollte nie Torwart werden.

Viele Jahre später ließ Kahn einen Ghostwriter seiner Torwart-Autobiografie „Nummer Eins“ gewähren, als der für ihn formulierte: „Die Gefahr ist, dass Besessenheit einen Prozess der Selbstzerstörung einleitet. Oft ist er ziemlich weit fortgeschritten, bis man ihn wahrnimmt.“

Mit Karlsruhe kam Kahn 1994 ins Uefa-Cup-Halbfinale und wechselte zum FC Bayern München. Er war jetzt nicht mehr schmächtig, galt aber unter Fachleuten schon als bester deutscher Torwart. Auch wenn Sepp Maier, Torwarttrainer in München, über Kahn rückblickend sagt: „Der war steif und ungelenk und bewegte sich nicht wie ein Torwart.“ Bei den beiden Weltmeisterschaften 1994 und 1998 und der gewonnenen Europameisterschaft 1996 musste Kahn immer noch Bodo IUgner und Andreas Köpke den einzigen Torwart-Platz auf dem Spielfeld überlassen. Grummelnd und rumpelnd, dem Vernehmen nach. 2006 gehörte sein ehemaliger Kontrahent Köpke als Torwarttrainer zum Trainerstab um Jürgen Klinsmann, der ihn kurz vor der WM 2006 im eigenen Lande ausbootete und zum zweiten Mann hinter Jens Lehmann degradierte.

Doch im Vereinsfußball war Kahn in den neunziger Jahren und bis heute nicht so leicht von den wechselnden Cliquen und Seilschaften im DFB aufzuhalten. Wo Darwinismus und Marktwirtschaft sich unverwässert Bahn brechen konnten, in Bundesliga und Europapokal also, mit dem FC Bayern, dort sammelte Kahn die Titel nur so ein – wie man es in Deutschland eben nur in München kann. In diesen Jahren wurde aus dem überehrgeizigen Torwart mit Vokuhila-Frisur die vermarktbare Reizfigur mit telegenen Ausrastern. „Bei Bayern hast du permanent Druck“, hatte Kahn sich nun in den Stehsatz gelegt. Wenn es zwischendurch Phasen gab, in denen Klubs wie Borussia Dortmund oder Werder Bremen aufzuschließen drohten, dann steigerte sich die Verbissenheit zu teppichbeißenden Szenen, die an den guten Famulla und seine Kopfkissen-Albträume erinnerten. Dem Dortmunder Stürmer Heiko Herrlich drohte Kahn sekundenlang – eine Szene wie eingefroren – ein Ohr abzubeißen. Herrlichs BVB-Stürmerkollegen Stephane Chapuisat flog Kahn ein anderes Mal wie ein Shaolin-Krieger, mit langem Anlauf mit einem gestrecktem Bein entgegen. Kahn flog wie an unsichtbaren Drähten seines Zorns auf den Rest der Welt. Der Schweizer Stürmer konnte gerade noch ausweichen.

Später würgte Kahn den Leverkusener Thomas Brdaric auf offenem Feld und wütete gegen den damaligen Bremer Miro Klose, als wolle er seine Nase abbeißen, Kloses Gesicht zermalmen, den ganzen Platz entvölkern mit seinem Furor. Selbst den eigenen Mitspieler Andreas Herzog, zugegeben einem österreichischen Schlaffi, packte Kahn im laufenden Spiel bei den Schultern und schüttelte ihn, wie ein Pflaumenbäumchen bei der Ernte. Doch für keine dieser Attacken, die bei anderen Fußballern wochen-, ja monatelange Sperren und die Überweisung in psychiatrischen Beistand oder wenigstens autogenes Training nach sich gezogen hätten, wurde Kahn des Feldes verwiesen. Zum Abschreckungsszenario Kahn haben die Wahnsinns-Ausbrüche ganz sicher ebenso beigetragen, wie Kahns unbestritten geniale Strafraum-Beherrschung, wie das offensichtliche Einknicken auch der Schiedsrichter vor dem extremen Charakter im Tor, wie die geschriebenen Elogen auf die Urgewalten dieses Torwarts. Ein interessanter dialektischer Prozess. „Das interessiert mich nicht, ob ich mich mehr im Griff haben muss“, sagte er deshalb 2000 der „FAZ“ – sonst nicht gerade Forum anarchischer Ideen. An dem Widerstand der gegnerischen Fans hat er sich wohl mehr aufgeputscht als am Jubel der eigenen.

In diesen wüsten Zeiten von Neuem Markt, Börsen-Euphorie, Turbo-Kapitalismus und Nine-Eleven-Katastrophe hat dieser bis zum Wutkrampf verbissene, krankhaft ehrgeizige, semi-autistische Super-Einzelgänger Oliver Kahn wohl genau das ersehnte, überspitzte Rollenmodell abgegeben. So eine Type passte in die Zeit. „Wir Torhüter sind Einzelkämpfer“, hatte Kahn in einem Vereins-Jahrbuch des FC Bayern schon wenig überraschend mitgeteilt. „Das ganze Spiel über die schlechtere Mannschaft sein und dann in der letzten Minute durch ein unverdientes Tor 1:0 gewinnen – das sind doch die besten Spiele für uns

Torhüter“, hatte Kahn in einem Interview sein Credo zusammengefasst. Im Bundesliga-Finale 2001 fand seine Mentalität ihre Erfüllung. Als parallel Schalke 04 in Gelsenkirchen schon die Meisterschaft bejubelte, wütete Kahn mit den Bayern in Hamburg noch durch die Nachspielzeit. „Weiter, immer weiter“, soll er damals immer wieder gebrüllt haben, bis tatsächlich noch der Ausgleich zum 1:1 fiel und der FC Bayern dadurch wieder an Schalke vorbei auf Platz eins und zum Meistertitel rutschte.

Eine Berufsauffassung wie ein nie mehr endendes Zähneblecken. Selbst die besonnene „Neue Zürcher Zeitung“ attestierte jedoch: „Wenn Kahn wütend ist, wenn er brüllt und tobt, erreicht er seinen besten Zustand.“ So einer ist auf seine Art ein Unikat, wenn auch eines wie Oskar, das Sesamstraßen-Monster aus der Mülltonne. Vielleicht waren all diese deutschen Eigenschaften den Mächtigen beim DFB dann doch etwas zu viel des Guten. Vielleicht war das, was Kahn über die Mentalität seines Sports und seiner Landsleute demonstrierte, doch ein bisschen zu nackt, um es so international vorführen zu wollen. Erst bei der EM 2000 ließen sie Kahn bei einem großen Turnier das Tor der Nationalmannschaft hüten. Alt-Bundestrainer Jupp Derwall hatte vorher noch einmal die Meinung des ansonsten gern in seligen deutschen Tugenden schwelgenden DFB-Establishments auf den Punkt formuliert: „Der Kahn brüllt 90 Minuten nur herum und trifft keinen Ball.“ Damit hatte Derwall zwar Unrecht – aber irgendwie mit gleicher Münze zurückgezahlt.

Spätestens 2001 muss ein Berater Oliver Kahn zu einer Imagewende geraten haben, vielleicht noch der Vorgänger von Peter M. Ruppert, sie erinnern sich: der Mann mit der Meditation aus der Osterwaldstraße. Jedenfalls bekam Kahn 2001, als er mit drei gehaltenen Elfmetern das Elfmeterschießen im Champions’League-Endspiel mal wieder allein gewonnen hatte, von der Uefa auch noch den Fair-Play-Preis zuerkannt. Kahn hatte den weinenden Santiago Canizares, den Torwart des Gegners FC Valencia, nach dem Spiel in den Arm genommen.

Schon 2002, zur WM des Oliver Kahn, hatte der DFB die Kehrtwende auch für sich selbst vollzogen und schwärmte offiziell von Wandlung „vom besessenen Individualisten zur Symbolfigur für die Jugend“.

Dabei dürfte der wütende, egoistische, unbeherrschte Kahn bis dahin schon viel mehr die Symbolfigur der Jugend gewesen sein — nur, dass man das nicht gerne zugeben wollte in einer Welt voller Pharisäer. 2002 aber wurde der Fußball-Sommer des Oliver Kahn. Nur der Ire Roy Keane bezwang ein einziges Mal, in derNachspielzeit, den von Spieltag zu Spieltag immer mehr zum Übermenschen überhöhten Kahn. Als im Endspiel dem Brasilianer Ronaldo eine fehlerhafte Abwehr von Kahn vor die Füße fiel, hatte die Nation Mitleid mit einem, dessen Weltbild auf der Mitleidlosigkeit des Besseren zu beruhen schien.

Eigentlich hätte die WM 2006, „die WM im eigenen Lande“, das „Sommermärchen“ die Krönung des Selfmade-Kahns werden sollen. Doch 2002 hatte er eindeutig die vorhandenen Reste an Realitätssinn eingebüßt. Nicht, dass andere langjährige Fußball-Profis nicht ebenfalls den Sinn für Realitäten verlieren würden. Aber Kahn hatte sich, gebadet in all der Titanen-Euphorie und ihren Säften, nach eigener Aussage entschieden, nun auch die Lockerheit, das Glück, die sanfte Seite des Menschseins mit den ihm zu Verfügung stehenden Mitteln der Rigorosität zu entdecken. Oder diese Seite zumindest nach außen darzustellen. Er „belohnte“ sich mit einem Ferrari-Cabno und einer Disco-Mieze, für die er seine damals schwangere Frau verließ, mit der er seit seinem 15. Lebensjahr zusammen war. „Die Leute sollen sehen, aha, der Kahn hat auch andere Facetten“, hat er gesagt. Der neue, der andere Kahn wurde von den Medien so begierig aufgenommen wie die Rückkehr eines Rockstars nach vermeintlich gelungener Entziehungskur von Heroin oder Alkohol. Nur, dass mit den Überbleibseln solcher Rosskuren oft nur rein gesundheitlich mehr los ist. Kahn hat wohl selbst festgestellt, dass man es zwingen kann, ein guter Torwart zu werden, aber nicht, ein zufriedener, lockerer Mensch zu sein.

Jürgen Klinsmann hat mit seiner Nominierung von Jens Lehmann für die WM in Deutschland gegen ein Gesetz unter Boxern verstoßen. Wenn der Titelverteidiger wankt, aber es nach Punkten unentschieden steht, dann bleibt der Titel beim Titelverteidiger. So viel Anstand hatte Klinsmann nicht. Er ahnte wohl, dass nur mit einer beinahe sektenhaften Überhöhung des Teamgeistes seine Mannschaft bei der WM konkurrenzfähig wäre. Der Egomane Kahn, selbst in seiner scheinbar geläuterten, neu erfundenen Medienversion, verhieß dagegen ein Gegengewicht zu allen anderen Kräften: Zu Klinsmann, zu den jungen Spielern, zum beschworenen Teamgeist. Nicht wenige sagen, dass das Halbfinale gegen Italien mit Kahn im Tor nicht verloren gegangen wäre, weil er das plötzlich entstandene Vakuum im deutschen Spiel mit so viel negativer Energie aufgeladen hätte, dass Darth Vader dagegen wie eine Witzfigur ausgesehen hätte.

Aus solchen Mythen speist sich die Überhöhung von Menschen wie Oliver Kahn. Das Imperium konnte nicht zurückschlagen, denn der schwarze Ritter saß nur auf der Bank. Für einen knapp überdurchschnittlichen Torwart, der sich alles selbst erarbeitet hat, ist Kahn eigentlich fast wirklich ein Vorbild der Jugend. „Die heutige Jugend“, hat Kahn kürzlich Formel-i-Manager Bernie Ecclestone zitiert, „sei eine Generation der Konformisten, die sich allem unterordnen. Ich finde das nicht besonders erstrebenswert.“ Vermutlich hat er recht — und es wird in Zukunft keiner mehr auf die Fragen schlipstragender Reporter am Spielfeldrand etwas antworten wie: „Also wenn ich so einen Scheiß schon höre…“ – und man wird nie wieder sehen, wie der Mann mit dem Mikrofon in Deckung geht, aus Angst vor dem Zorn des Titanen.

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