Trickys Pendant Nicolette

Es ist einer der ersten warmen Tage in Hamburg. Das beeindruckt Nicolette aber überhaupt nicht: Sie trägt ein schweres Lederkäppi mit Ohrenklappen. Automatisch senkt man während des Gespräches die eigene Stimme, denn ganz leise nur treten die Worte unter dieser gigantischen Kopfbedeckung hervor. Da überhört der Interviewer beinahe, daß hier von Mord gesprochen wird. Auch weil man diesem immer ein bißchen entrückt wirkenden Wesen derartige Dinge gar nicht zutraut.

„Natürlich verabscheue ich Mord“, sagt Nicolette irgendwann sanft „Doch ich trage Gedanken in mir, die dieser Tat durchaus entsprechen. Sie besitzen zwar eine ganz andere Intensität als die Ausführung selbst, aber entspringen genau demselben Gefühl. Und exakt das meine ich, wenn ich etwa in einem Song singe: Babies get hurt and killed/ and yet I’m part of it‘.“ Nicolette ist zweifelsohne die ungewöhnlichste Erscheinung, die sich auf dem englischen Dancefloor herumtreibt Und da treiben sich zur Zeit eine Menge ungewöhnliche Gestalten herum. Obwohl ihr bislang größter Qub-Hit „No Government“ betitelt ist, taugt ihre Musik keineswegs für wohlfeile Slogans. Sie arbeitete mit den gewitztesten Produzenten der Szene zusammen, doch der Erfolg außerhalb eines kleinen Kreises von Kennern blieb ihr bis jetzt verwehrt. Da können die Gazetten noch so sehr von der gebürtigen Nigerianerin ab „Billie Holiday on Acid“ philosophieren – eine Umschreibung, die Nicolette übrigens höflich lächelnd zu ertragen gelernt hat, wenngleich hinter dem höflichen Lächeln wohl nicht selten an handfesten Mord gedacht wird.

„Now Is Early“ war der Titel des Nicolette-Debüts aus dem Jahre 1992. Ein radikaler Entwurf, der in gewisser Weise vorwegnahm, was Everything But The Girl jetzt mit ihrem neuen Album auf der Pop-Ebene geleistet haben: die Verknüpfung von Songwriter-Tradition und Breakbeat Doch während Ben Watt und Tracey Thorn eher vermittelnd vorgehen, indem sie die Drum’n’Bass-Patterns dem Song unterordnen, crashten bei Nicolette und ihrem Produzenten-Team Shut Up And Dance die beiden disparaten Kulturen krass aufeinander.

„Ich habe immer die Musik der großen Jazz-Sängerinnen geliebt: Abbey Lincoln und, okay, auch Billie Holiday. Gleichzeitig begeisterte mich der Dancefloor-Underground von London, doch da war lange Zeit für Sängerinnen kein Platz.

Eines Tages hörte ich, daß Shut Up Dance jemanden suchten, der singen könnte. So kamen wir zusammen.“ Ihre geschmeidigen Blues-Vocals und die kühlen Beats des Produzententeams, die teilweise klingen, als stammten sie aus einer verrosteten Schreibmaschine, hintertrieben einander immer wieder. Musik in Bewegung. Musik, die zugleich Anfang von etwas Großem und Auflösung in einem war.

„Now Is Early“, wie gesagt, lautete der Titel des Albums. Vielleicht war es auch zu früh. Denn nach dem Werk, von den Kritikern gefeiert und von den Käufern ignoriert, folgte für Nicolette eine klassische Odyssee. Mit „Stars In My Eyes“ veröffentlichte sie ein Jahr später eine belanglose Single, ein Gastauftritt auf dem letzten Massive-Attack-Album sorgte dann immerhin wieder für Aufmerksamkeit in größerem Rahmen, und gerüchteweise hörte man sogar, daß der Chanteuse die Türen so ziemlich jeder angesagten Dancefloor-Company sperrangelweit offenstehen würden.

Erst jetzt aber erschien das zweite Album. Für „Let No-One Live Rent Free In Your Head“ engagierte die Mittzwanzigerin verschiedene Produzenten: „Zuerst habe ich noch nach jemandem gesucht, der alle Songs aufnehmen sollte. Doch ich konnte mir partout niemanden vorstellen, der die verschiedenen Stile abdecken konnte, die ich im Kopf hatte. Es macht ja gerade die Qualität eines Produzenten aus, daß er für einen genau definierten Sound steht“ Deshalb hat sich die Künstlerin aus dem Pool der innovativen Dancefloor-Artisten die interessantesten herausgefischt. Der House-Architekt Plaid von „Black Dog Productions“ macht mit, der deutsche Techno-Punk Alec Empire von Atari Teenage Riot ebenfalls, und mit den Pionieren „4 Hero“ hat Nicolette ihre Drum’n’Bass-Kompositionen sogar noch ein Stückchen weiter getrieben. Insgesamt stehen auf „Lef No-One Live Rentfree In Your Head“ Song und Beat nicht mehr so unvermittelt nebeneinander.

So erreicht Nicolette eine schlüssige Urnkehrung der Vorgehensweise des Projektes Nearly God, bei dem sich der songschreibende DJ Tricky die gewünschten Stimmen einfach zusammensucht. Betrachtet man die zeitgleich erschienenen Werke, läßt sich eine erstaunliche Ent-Hierarchisierung im britischen Dancefloor-Bereich zwischen Trip Hop, House und Jungle feststellen: Ob Sängerin oder DJ – Autor können inzwischen alle sein.

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