TSCHÜS, GANGSTA!

Ich bin schon im Schlafanzug, als ich leise zu kichern beginne. Snoopy steht auf meinem blauen Oberteil und er trinkt ein Rootbeer. Den Rauch blase ich aus meinem Zimmer, aber schließe das Fenster sofort. Die Nachbarn könnten ja was riechen. Zum Abschied hatte der Rapper mir noch ein Tütchen geschenkt, „mach dir einen schönen Abend“, hat er gesagt. Ich ging also nach Hause. In der U8 überprüfte ich dauernd meine Hosentasche, ob das Tütchen noch drin war. „Wenn mich jetzt die Polizei kontrolliert“, dachte ich.

Jetzt sitze ich also am Schreibtisch und schaue nach draußen und mein Kopf ist ganz leicht. An der weißen Tapete flimmert alles. Jeder dieser kleinen Raufaserpartikel wirft einen eigenen Schatten. Einige der Schatten scheinen zu tanzen. Der Siggy ist echt in Ordnung. Sido heißt der als Rapper, aber er will Siggy genannt werden. Geboren wurde er als Paul Hartmut Würdig in Ost-Berlin, als die Mauer noch stand. Dreiunddreißig ist er. Sido ist Deutschlands erfolgreichster Rapper. Und im Gegensatz zu Bushido, dem anderen Erfolgreichen aus Berlin, hat Sido auch was zu erzählen.

Sido ist der Geschichtenerzähler unter den Rappern. Er ist nicht besonders schnell, kein Zungenakrobat, der viele Silben in einer möglichst kurzen Zeit unterbringt, er ist nicht der größte Linguist und auch kein guter Sänger, aber er ist der Beste, den wir haben, wenn es darum geht, eine Geschichte zu erzählen. Auf seinem fünften Album, „30-11-80“, erzählt er die eines Mannes, der Familie und Kind hat, der erwachsen ist. Im August wurde er zum zweiten Mal Vater. „30-11-80“ ist die hochmoralische Platte eines Menschen, der das Richtige tun will, der sich Gedanken macht.

Wir treffen Sido dort, wo seine Karriere beginnt: Märkisches Viertel, MV, berühmt-berüchtigte Hochhaus-Trabantenstadt in West-Berlin, 17.000 Wohnungen auf drei Quadratkilometern. Das war „Mein Block“, von dem Sido als Chronist Bericht erstattete. „Du in deinem Einfamilienhaus lachst mich aus/Weil du denkst, du hast alles, was du brauchst/Doch im MV scheint mir die Sonne aus’m Arsch/ In mei’m Block weiß es jeder, wir sind Stars/Hier krieg ich alles, ich muss hier nicht mehr weg/Hier hab ich Drogen, Freunde und Sex.“ Seine Zeilen sind keine Pose, sie sind eine Bestandsaufnahme, wie „I’m Waiting For The Man“ von Velvet Underground.

Sido war nie der Jugendverführer, für den er gehalten wurde. 2009, als er für das Fernsehen das erste Mal wählen ging, traf er Renate Künast und Frank-Walter Steinmeier, von jeder Fraktion einen. Sido wurde vom Kind von der Straße zum Mann der Mitte, zu einem Volkssänger, dessen Stimme von vielen gehört und geschätzt wird. Mit dreiunddreißig rappt er nicht mehr von Jugendproblemen und Drogen, vom Ficken und Schlampen, das wäre peinlich, findet er. „30-11-80“ ist sein erstes Album seit fast fünf Jahren.

„Ich habe gedacht, ich muss aufhören“, erzählt er. „HipHop ist Jugendkultur, Rap die Sprache der Jugend. Ich habe ans Aufhören gedacht. Ich kann keine Musik mehr machen, habe ich mir gesagt. Aber es funktioniert tatsächlich, als Erwachsener über erwachsene Themen zu rappen. Hip-Hop braucht Eier und die Eier habe ich nicht verloren.“

Mit dabei sind auch Helge Schneider und Marius Müller-Westernhagen. Dort ist Sido also angekommen. Helge und Marius, das sind die großen Unterhalter, die Musiker, die Künstler aus einer alten Zeit. Sido gehört jetzt dazu. Er ist eines der letzten Mitglieder im Club der Arrivierten einer Ära, in der YouTube-Star noch kein Beruf war. Seinen oft zitierten „Arschficksong“ sieht Sido als jugendlichen Witz. Ein Albumtrack mit Helge Schneider, „Arbeit“ heißt er, verdeutlicht das noch mal. Helge sagt:“Ey Sido keine Arbeit, Respekt dafür/Ein richtig fauler Arbeitsloser steckt in dir.“ Und Sido antwortet: „Wieso, ich bin doch fleißig, fleißig am Chill’n/Und auf das, was die andern machen, scheiß ich. Schön!“

Sido war auch unter den Jungs von Aggro Berlin ein Außenseiter. Neben Typen wie Bushido und Fler ist Sido der Lustige, er nimmt Anfang der Nullerjahre legendäre Skits auf, humorvolle Zwischenstücke, Dada-Hörspiele. „Schneider hat man als Komiker wahrgenommen, bei mir hatte das immer einen anderen Beigeschmack. Durch unsere Attitüde damals haben die meisten den Witz nicht verstanden.“

Trabantenstadt und doch nur zwanzig Minuten mit der U-Bahn von Berlin-Mitte entfernt, da wo die Fotografen, die Regisseure, die Maler, die Schauspieler abends nach Hause stolpern, und doch wissen die aus dem Märkischen Viertel nichts davon. Später, im Konferenzraum der Plattenfirma, in dem Sido trotz des Rauchverbots den fünften Joint des Tages raucht, wird er sagen: „Da werden Leute eingepfercht und um jeden Preis dort gehalten. Deswegen kann man das Märkische Viertel auch Getto nennen. Dort war unser Leben. Wir sind nicht rausgegangen. Wir haben die Mädchen nie ins Kino am Kudamm eingeladen.“

Auf dem Dach des Parkdecks fahren Autos vor. So ein großes, schwarzes, deutsches Auto und auch ein kleines. Sido sitzt vorne auf dem Beifahrersitz des großen. Zwei Bodyguards sind mit dabei. Irgendeiner vom Plattenlabel und noch eine vom Management. Wenn man sich mit Sido zum Interview verabredet, fühlt man sich wie Hans-Christian Ströbele in Moskau. Da ist der Künstler, der Verkünder und außen rum ein Riesen-Sicherheitsapparat. Sido raucht knisternd die erste Tüte. Wir schauen auf den Block, in dem er mit dem Rapper B-Tight gewohnt und die ersten Erfolge gefeiert hat.

1997 geht es los. Sido und B-Tight machen unter dem Namen Royal TS von sich reden. Sie kennen sich schon länger, weil sie das Schicksal vom Leben im sozialen Wohnungsbau teilen. Sie sind beste Freunde. Sie sparen sich das Geld für ein Vierspurgerät zusammen. Das erste gute Mikrofon wird einfach geklaut. Sie sitzen zusammen in stickiger Enge. Der schmächtige weiße Junge und der schmächtige schwarze Junge. Sie leben in einer menschlichen Legebatterie. 150 Mark im Monat Miete. Die haben sie mit selbst aufgenommen Tapes verdient. Beat an. Mikrofon an. 1,2, los. „Schickt uns Geld mit einem Briefumschlag in den Senftenberger Ring und wir schicken euch ein Tape zurück.“ Am Ende kommen täglich zehn Briefe.

Heute wohnt der Rapper Afrob in der früheren Sido-Wohnung. Und Sido lebt in Berlins idyllischem Umland mit seiner Familie. „Ich habe Abstand vom Märkischen Viertel genommen“, sagt er durch den Bart, der an einigen Stellen schon grau ist, durch die Sonnenbrille, die seine Augen verdeckt, die so warm, so herzlich sind. Die alte Welt hinter ihm ist fremde Vergangenheit -für einen wie Afrob, der vor Sido schon Chartserfolge feierte, ist sie jetzt Realität.

Vom Parkhaus mit dem Blick auf die alte Wohnung geht es zum Teich, wo Siggy mit Mädchen Enten füttern ging. Da sind Enten, Möwen und sogar Schwäne. „Möwen sind richtige Gangsta“, meint Sido, als eines der Tiere einen Brotkrumen, den er in Richtung des feuchten Grases wirft, aus der Luft auffängt. „,Komm, wir gehen spazieren‘, hab ich gesagt, und sie so ,ja‘. Dann einhaken, Arm in Arm. Das hat übelst funktioniert.“ 1992, mit zwölf, war er dort mit seiner Mutter angekommen. Geflüchtet aus der Hauptstadt der DDR, über die Station Lübeck dann doch wieder in Berlin gelandet.

Die Geschichte vom Ossi hat Sido verheimlicht. Bis 2009. Noch nicht mal sein Kumpel B-Tight wusste davon. Als Junge, der aus dem Sozialismus kommt, dem System, in dem alle das Gleiche haben. Nämlich nichts, was cool ist. Kein NES, kein Graffiti, kein HipHop. Drüben im Westen erfährt er zum ersten Mal eine Andersartigkeit. Seine Klamotten sind anders. Seine Frisur. Paul Hartmut Würdig wird in Lübeck als Ossi gebrandmarkt. Als er wieder zurückkehrt, 1992 also, legt er die alten Klamotten ab und kommt seitdem aus West-Berlin.

Mit Royal TS veröffentlichen Sido und B-Tight Ende der 90er-Jahre bei Royal Bunker, dem Berliner Label für Berliner HipHop. Viele, die Jahre später groß von sich reden machen, veröffentlichen hier Platten: Kool Savas, Kay One, Eko Fresh, K. I.Z. und Prinz Pi, der sich damals noch Prinz Porno nennt.

2001 gründen drei Freunde Aggro Berlin. Deutscher und über die eigenen Grenzen hinaus erfolgreicher Hip-Hop war bis dahin ein Spielplatz von Wortspielern und Party-Oberschülern. Fettes Brot, Fanta Vier, Absolute Beginner. Das waren Bürgerkinder.

Die ersten zwei Künstler, die Aggro unter Vertrag nimmt, sind B-Tight und Sido. Kids aus dem MV. Keine bösen Jungs, aber eben welche, die inmitten von Grau aufwachsen und nicht im Grün der Buchsbäume, wie sie in den Vorgärten der Vorstädte langsam wachsen. Aggro Berlin prägt einen Sound, eine Attitüde, die den deutschen HipHop nachhaltig verändern wird. Sido steigt schnell auf zu einem Star -bei denen, die sonst keinen haben, zu dem sie aufschauen können. 2004 betritt ein Rapper mit einer Stahlmaske die Bühne des Mainstream. Auf einmal sitzt Sido bei Viva, bei MTV. Er ist bekifft, lustig und vor allen Dingen weiß niemand, wer er wirklich ist. Das Konzept geht auf. Sein Debüt „Maske“ erreicht Goldstatus.

Die Federtiere kommen immer näher. Sido wirft weiter Brot, ein lautes Schnattern. Ein Getose. Ein Schwanenpaar erreicht das Ufer. Sie baut sich auf und faucht. Während er dahinter steht. Schwäne sind aberwitzige Tiere. Ihre Hälse sehen aus wie Gehstöcke. Sido weicht zurück. „Hau ab! Alter, chill mal!“

Die, die dich verehren, weil du ihnen Überlebenswichtiges gibst, denen du Zeilen schenkst, die sie tausendfach wiederholen, weil du der Erste bist, der einer von ihnen ist und es geschafft hast, sie werden bald zu einer Bedrohung. Seit Sido seinen Fans Track für Track hinknallt, zum Star geworden ist, kann er nicht mehr unbekümmert durch die Straßen gehen.

„Ich wusste immer, dass ich irgendwann berühmt bin“, sagt er. Seit er ein kleiner Junge war, habe er das gedacht. Schauspieler konnte er sich gut vorstellen. Die Mutter glaubt an sein Talent als Maler. „Dabei kann ich überhaupt nicht malen.“

Sidos Karriere ist ein gut strukturierter Businessplan. 2006 nimmt er die Maske ab. Auf einmal steht da ein 26-jähriger Bubi mit Brille und zu großen Klamotten. Den Politikern, Frauenbeauftragten und Lehrern – viele haben hart geurteilt über den Rapper mit der Maske – ballert der Künstler Sido jetzt erst recht eins vor den Latz. „Ich bin all das, wovor deine Eltern dich immer gewarnt haben/ Doch ich hab Geld, hab Frauen, hab Spaß, und du musst immer noch Bahn fahren/Ich bin ein schlechtes Vorbild“ heißt es im Song „Schlechtes Vorbild“. Er zeigt den Bürgern den Mittelfinger und schlägt sie doch mit den eigenen Mitteln. Mit Ironie und Fleiß. Während Lehrer, Eltern, Senatsbeauftragte in den Ferien darüber nachdenken, wie sie die Kinder vor dem schlechten Einfluss retten können, arbeitet der Rapper. Sidos Erfolg ist das Resultat von Arbeit. Mehr. Besser. Immer weiter. Und Arbeit, so die Maxime der Spießer, die ihn verurteilen, muss sich lohnen. Sido verkauft über eine Million Platten.

Sido ist kein schlechtes Vorbild. Wenn jedes der sogenannten Problemkinder wäre wie er, wir hätten fleißige und erfolgreiche Menschen, die ihre Stärken erkennen und mit etwas Glück maximal gewinnbringend einbringen können. „Ich bin nicht zuständig für die Erziehung deiner Kinder“, sagt Siggy, „sondern du“. Jugendliche idealisieren seine Texte, das machen Jugendliche aber mit allem, was sie gut finden.

Den besten döner der Stadt am Einkaufszentrum im MV isst Siggy alleine auf dem Beifahrersitz des leeren, großen Autos. Das Management, der Plattentyp, die Bodyguards, der Reporter und der Fotograf beißen im Freien hinein.

Von Paul zu Siggy zu Sido. Pauls Mutter hatte für sich, für ihre Tochter und ihren Sohn Freiheit gewollt. Sie wurden mit Blick auf den Fernsehturm groß. DDR. Mendelssohnstraße. Plattenbau in Prenzlauer Berg. 1988 wird der Ausreiseantrag genehmigt. Auf der Etage wohnte ein Mann, der bei der Stasi gewesen sein soll. Sido zeigt auf das Fenster. „Ich habe mal geträumt, dass dieser Herr Werner, der hatte sein Schlafzimmerfenster direkt neben meinem Fenster, dass der nachts durch mein Fenster gekommen ist. Mittlerweile glaube ich, das war kein Traum.“ Als Junge, so mit sechs, sieben, hatte Paul wirklich Angst vor dem.“Wenn ich Albträume habe, geht es nicht um Monster oder so.“ Inzwischen hat Siggy Angst vor dem Tod. „Jetzt fängt es doch gerade erst an. Jetzt sterben, ohne alles auszukosten? Verheiratet sein, Familie zu haben? Das Partyleben war schön, aber mir war schnell klar, dass das nicht die Erfüllung meines Lebens ist.“

Das Leben auszukosten heißt für Sido auch reisen. Raus aus Deutschland. Da wo keine Fotografen sind, wo ihn keine Fans umzingeln, wenn er shoppen geht. Wahre Freiheit findet Sido dort, wo ihn keiner kennt. Und selbst in Los Angeles fand ihn ein Paparazzo, ein Engländer, beauftragt von einem deutschen Magazin. Siggy wollte ihm fünfhundert Dollar geben, damit der Fotograf verschwindet. Der Knipser hat gelacht. In „Papa, was machst du da“ heißt es:“Wenn ich heute mein Job aufgebe, würde ich ihn morgen schon vermissen/Aber was mir nicht fehlen würde, wären Journalisten/Dieses Dreckspack, wie gerne würde ich so ein Schwein erwischen/Weil sie es nicht lassen können, sich immer einfach einzumischen.“ Einem Österreicher hat er mal ins Gesicht geschlagen, vor laufenden Kameras in einer Casting-Show, bei der er Juror war.

Er bereut diese Ausraster im Nachhinein. Nicht wegen des Typen, der ihn gereizt hat. Er schämt sich vor seiner Familie. Wenn er zu seiner Mutter kommt und diesen einen Blick kriegt, wenn er diesen Blick von seiner Frau kriegt, wenn sein Sohn fragt: „Papa, was machst du da?“ Deswegen auch das Lied. Sido hat genug von Drogen und Partys.

Das Kiffen aber ist quasi ein ökologisches Nahrungsergänzungsmittel. Die Managerin baut ihm noch einen. Sie dreht, krümelt, leckt und zwirbelt. Tief einatmen, ausatmen. Der Rauch zieht in den Berliner Nachmittag. Unten das Haus aus der DDR, das inzwischen in einem anderen Land steht. Wir schauen von oben drauf. Da ist die Mauer zum Friedhof daneben. Mit Freunden kletterte er darauf herum, sprang auf die andere Seite auf den Friedhof. Diese Mauer konnte er auch ohne Ausreiseantrag überwinden. „Alles, was du fühlst/ Alles, was du denkst/ist grenzenlos“, heißt es im Duett mit Marius Müller-Westernhagen.

Ich schließe die Augen. Das Flimmern wird immer stärker und manchmal wabern Blasen aus der Tapete in den Raum hinein. Wie bei einer Pizza im Steinofen bäckt die Tapete auf. Ich denke an Siggy, und wie er von dem Zeug fünf Tüten über den ganzen Tag verteilt geraucht hat und ganz normal dabei war. Gechillt, lustig, knuddelig einfach. Ja, ok, wenn er die Sonnenbrille abgesetzt hat, waren seine braunen Bärchenaugen ein bisschen verschlafen, aber sonst?

Meine Augen sind immer noch geschlossen und ich sehe die Möwen vom See, und sie tragen Airmax von Nike. Am anderen Ufer gehen zwei miteinander spazieren. Der eine Vogel trägt eine Sonnenbrille und der andere hat seltsamerweise blondes Haar. Sie haben ein Date. Der mit den Airmax zwinkert mir zu. Möwen sind doch Gangsta.

PANDABÄREN UND SCHAMANEN

HIPHOP AUS DEUTSCHLAND HAT LÄNGST NEUE FORMEN GEFUNDEN. WÄHREND DIE REVIERKÄMPFE VON EINST ZUR ERSTARRTEN POSE DER BATTLE-RAPPER GEWORDEN SIND, REGIERT ANDERSWO VIELFALT

Die Fantastischen Vier feiern in diesem Sommer ihr 25-jähriges Bühnenjubiläum. Mit ungelenken Reimen und zweifelhaften Klamotten wirbelten sie im Juli 1989 zum ersten Mal durch das Jugendhaus Heslach. Ein Teenager-Auftritt in der schwäbischen Provinz. Auch anderswo eiferten umtriebige Kids -auf Englisch, Türkisch und später auch auf Deutsch -den schwarzen Helden von Run DMC oder Public Enemy nach. Als dann Anfang der Neunziger die ersten eigenen Platten erschienen, nahm ein anfangs umstrittenes Genre seinen Lauf: Deutsch-Rap, deutschsprachiger HipHop, Rap aus Deutschland. Schon die Begriffsbildung war nicht einfach. Nach den Pionierzeiten und der kommerziellen Hochphase der späten Neunziger mit Produktionszentren in Hamburg und Stuttgart folgte der Aufstieg und Niedergang von Straßenrap-Labels wie Aggro Berlin, Royal Bunker oder Optik. Eine schnell vergängliche Spielart, in der es schwerfällt, zu altern. Heute zählt der Internetdienst hiphoprelease.de für das Jahr 2013 über 110 HipHop-Alben aus deutschsprachiger Produktion, darunter neun Nummer-eins-Platzierungen in den offiziellen Mediacontrol-Charts. Ein bemerkenswerter Höhenflug für eine Musik, die in schöner Regelmäßigkeit für ausgelaugt oder tot erklärt worden ist. Das Subgenre Gangsta-Rap schmorte etwa zum Beginn der Zehnerjahre in seinen eigenen Klischees, musikalisch erstarrt und -im Falle Bushido – als Skandalschleuder für den Boulevard. Umso erstaunlicher ist es, wenn nun ein derber Klotz namens Haftbefehl aus Offenbach mit „Blockplatin“ daherkommt. Nicht nur in seinem Bahnhofsviertel-Gassenhauer „Chabos wissen wer der Babo ist“ vermengt er geradezu virtuos türkische, kurdische, arabische und hessische Sprachfragmente. Ein Reimsportler zeigt die Dimensionen des Battle-Rap. Sicher kein Sympathieträger, aber durchaus mit dem scharfen Blick für den Großstadtdschungel. Wobei Substanz und Schaumschlägerei in der testosterongeschwängerten Gangsta-Zunft ohnehin fließend sind. Bei Summer Cem („Babas, Barbies & Bargeld“) wird das Harte schnell fad, während Kollegah und Farid Bang mit „Jung, brutal und gut aussehend 2“ zumindest zu den größenwahnsinnigen Abräumern (Platz eins der Charts!) gehören. Kollegahs „Zuhälterrap“ hält ihn jedenfalls nicht davon ab, an der Mainzer Universität Jura zu studieren. Der Wettbewerb um den derbsten Macho-Rap steht wieder in vollster Blüte.

Ebenso bemerkenswert sind die 14.000 Zuschauer in Köln und die 12.000 in Hamburg, die zum Jahreswechsel die Konzerte von Fettes Brot bejubelten. Die Rap-Klasse des Neunziger, die mit ihrem aktuellen Gute-Laune-Album „3 is ne Party“ auf gekonnte Feierstimmung setzen, ist keineswegs abgemeldet. Im Vorprogramm der Brote durfte der bärtige Spaßrapper MC Fitty loslegen, was durchaus als Zeichen zu verstehen ist, dass die Abgrenzungskämpfe früherer Jahre einem lockeren Showverständnis gewichen sind. Der Ironiker Alligatoah aus Bremerhaven („Triebwerke“) oder auch Cro-Beatgeber Psaiko Dino wissen davon filigran zu erzählen.

Die breitere Diskussion über HipHop hinaus beherrscht sicherlich Casper mit seinem Album „Hinterland“, das mit großem Produktionsaufwand Energie und Pathos aus der Rockmusik entlehnt. Von Bruce Springsteen bis zur aufgerauten Tom-Waits-Stimme. Die Jugendzimmer-Variante dazu liefert der Pandabären-Masken-Träger Cro, der seit dem Riesenerfolg seines 2012er-Albums „Raop“ die auf und nieder hüpfende Pop-Flanke bedient. Auch Prinz Pi aus Berlin fischt in CrossoverGewässern, wenn er auf „Kompass ohne Norden“ mit großem Selbstbewusstsein eine Brücke von Bob Dylan bis Snoop Dog schlägt: „Bob Dylan gab mir einst einen Kompass ohne Norden/ so treibe ich verloren in ein unbekanntes Morgen.“ Ein ebenfalls erstaunlich breites Publikum können die Saarbrücker Rapper Genetikk auf sich vereinen. Auf ihrem letzten Album „D. N. A.“ wechseln sie mit ihren Schamanen-Masken versiert von relaxten Kopfnicker-zu vertrackten Trick-Styles und bei Songs wie „Packets in den Boots“ holen sie sich RZA zum Duett, um hiesige HipHop-Konventionen auszuhebeln. Ihr Düsseldorfer Label Selfmade Records ist dabei genauso auf bestimmte Subgenres fixiert wie die Stuttgarter Hitschmiede Chimperator (Cro, Die Orsons, Psaiko Dino). Vielfalt regiert. Nach 25 Jahren ist HipHop in Deutschland zu einer überaus heterogenen Angelegenheit geworden.

RALF NIEMCZYK

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