Twiggy – Weil ich ein Mädchen bin

Twiggy ist eines der bekanntesten Fashion-Models aller Zeiten - obwohl sie die letzten 40 Jahre fast nur noch gesungen, Filme gedreht und moderiert hat. Jetzt hat das am längsten dienende It-Girl der Welt ein neues Album aufgenommen. Ein Hausbesuch in London.

Eine Gewissheit, die man regelmäßig überprüfen sollte: Ja, Twiggy ist dünn. Sehr dünn sogar. Immer noch, mit 62 Jahren, was für ein Sixties-Idol ja eigentlich kein Alter ist. Aber sie hat doch so früh angefangen.

Twiggy trägt ein T-Shirt mit einer ziemlich albernen, aufgedruckten Krawatte, darüber ein schwarzes Jackett. Die blonden Haare sind hinten zusammengesteckt, ein paar Strähnen fallen links und rechts ins Gesicht, die berühmten Augen wirken so noch größer. Twiggy sieht noch so aus wie damals. „Nein, tu ich nicht!“, kichert Twiggy. Doch, tut sie schon. „Nein, tu ich nicht, aber danke!“ Dann halt so: Die lindfarbenen Klosterfrau-Melissengeist-Fotos aus den vergangenen Jahren müssten nicht sein. Twiggy könnte 2012 noch ganz andere Bilder machen.

Eben erst ist sie nach London zurückgekehrt, aus Amerika, wo sie sich um ihre Teleshopping-Modekollektion gekümmert hat. Es werde knapp mit dem Termin im Büro der Plattenfirma, hat sie kurzfristig mitteilen lassen – könne der Interviewer nicht einfach zu ihr nach Hause kommen? Eine Etagenwohnung in einem sicher unfassbar teuren, aber arbeitnehmermäßig aussehenden Haus in Earls Court (das wahre Häuschen steht in Suffolk), die Tür öffnet ein weißhaariger Shakespeare-Schauspieler, Leigh Lawson, den man auch aus Polanskis „Tess“ kennt. Und der 1988 Twiggys zweiter Ehemann wurde. Sie selbst führt, im Krawatten-T-Shirt, übermütig laut durch das mit Sofakissen zugestopfte Wohnzimmer, erklärt die Fotos, die überall stehen: „Und das bin ich mit Billy Connolly! Und das sind Leigh und Dustin Hoffman, wie sie mich küssen, die haben ein Glück, was? Das sind Leigh und ich auf der Hochzeitsreise, und das bin ich mit Kate und der wunderbaren Linda McCartney, das wurde nie veröffentlicht, aber es ist trotzdem bekannt!“

Kate ist Kate Moss, die Twiggys böse Gegenspielerin gewesen wäre, wenn sie 25 Jahre früher auf die Welt gekommen wäre. Aber so, wie es ist, sind beide Königinnen im eigenen Reich und beste Freundinnen: Kate Moss, Model-Wunderkind und Titelblattfrau der Neunziger. Twiggy, 1949 unter dem Namen Lesley Hornby geboren, Inbegriff des Swinging London, das exquisit gelangweilte und zart provozierende Gesicht der 60er-Kulturrevolution. Die Augen des Sturms, die Zu-Dünne, geliebt und gehasst, heute nur noch geliebt. Auf dem Klo hängt die obligatorische Goldene Platte (für ihr 1976er-Album „Twiggy“), daneben ein gerahmter Brief von Sir Laurence Olivier, maschinengeschrieben, mit handschriftlicher Anrede: „My lovely Twiglet!“

Unter diesen Umständen muss das eigentliche Gespräch, am Couchtisch und bei Flachtassen-Tee, mit einer besonderen Frage beginnen: Twiggy – wer ist Ihr Lieblingsphilosoph? Das war nämlich Woody Allens Eröffnung, als er Twiggy im März 1967 bei ihrem ersten New-York-Besuch vor Publikum interviewen musste. Dass die perplexe 17-Jährige damals nicht wusste, wie sie reagieren sollte, hat sie später zum bleibenden Trauma erklärt – weshalb man doch eigentlich annehmen könnte, dass sie sich in den vielen Jahren danach eine gute Antwort überlegt hat. Also: Twiggy, welcher Philosoph?

„Oh, die Woody-Allen-Sache …“, sagt sie und lacht bemüht. „Ich finde immer noch, dass das gemein von ihm war! Er wollte mich reinlegen. So was würde ich nie jemandem antun! Aber am Ende sah er wie der Dumme aus.“ Twiggy fragte nach der Schrecksekunde nämlich zurück, wen Allen selbst denn vorschlagen würde, und er stammelte nur herum (was wohl Teil seines Auftritts war). „In Amerika“, sagt Twiggy, „hieß es sonst doch immer nur:, Woher kommt dein Name? Warum bist du so dünn? Wie schminkst du dir die Wimpern?‘ Solche Fragen.“

Was nicht heißen soll, dass die Antworten darauf so viel interessanter gewesen wären als die auf Woody Allens Philosophenfrage. Oder dass die kleine Twiggy nicht intelligent genug war. Aber so, wie sie in der zweiten Hälfte der Sechziger die Supermodel- und It-Girl-Kultur miterfand, die wir heute kennen – so entstand mit ihr freilich auch der schmerzende Mangel im Kern der Sache: dass es dazu nicht wirklich viel zu sagen gibt. Dass die Mädchen ihre Wimperntuschemarke verraten konnten, aber am Ende doch meistens die Männer den Überbau und Mythos begründeten, die Designer und Svengalis, die Regisseure und Beatles.

Twiggys Förderer nannte sich Jus-tin de Villeneuve, hieß aber eigentlich Nigel Davis. Als er die zehn Jahre jüngere Zimmermannstochter Lesley kennenlernte, war sie Schülerin im Nord-Londoner Vorort Neasden, hatte Fotos von Jean Shrimpton und Veruschka über dem Bett. „Wir hatten Geld, ein Auto und einen Fernseher, was damals nicht alle hatten“, erzählt Twiggy, „aber wir waren definitiv working class. Und Arbeiterklasse-Mädchen wurden damals einfach keine Models oder Schauspielerinnen. Das war schlicht keine Option!“

Die oft erzählte Legende sagt, dass Boyfriend und Manager Justin ihr im Januar 1966 – da war sie 16 – einen Termin beim Prominentenfriseur Leonard Lewis verschaffte, der Twiggy die berühmten kurzen Haare schnitt. Ein Foto davon hing dann an Lewis‘ Salonwand, wurde von der Moderedakteurin der „Daily Mail“ entdeckt. Und die produzierte mit der Unbekannten tatsächlich gleich die goße Story und erklärte sie in der Überschrift zum „Face of ’66“. Twiggy (1 Meter 66, 41 Kilo) war die Größte, Cecil Beaton verglich sie mit dem rebellischen Engel Ariel aus Miltons „Paradise Lost“, Autoaufkleber forderten, in Anspielung auf eine britische Wohlfahrtsorganisation: „Vergesst Oxfam – gebt Twiggy was zu essen!“ Justin de Villeneuve eskortierte sie derweil durch die Welt und beantwortete bei Pressekonferenzen manchmal die Fragen für sie. Wie sie das fand? „Daran erinnere ich mich nicht! Er war einige Jahre lang mein Freund und Manager, aber ich habe immer nur gemacht, was ich wollte.“ Was aus ihm geworden ist? „Keine Ahnung. Wir haben keinen Kontakt mehr. Seit ungefähr 1973.“

Dass wir über 45 Jahre später noch immer über das Gesicht von ’66 sprechen, hat in diesem Fall einen Grund: Twiggy hat ein neues Album aufgenommen, ihr zwanzigstes oder einundzwanzigstes. „Romantically Yours“ heißt es, zwölf Coverversionen von Songs wie „Waterloo Sunset“ von den Kinks, „Only Love Can Break Your Heart“ von Neil Young und „Heaven“ von Bryan Adams, in TV- und Restaurant-tauglichen Arrangements. „You know the face, you’ll love the music“, heißt der logische Slogan in England.

Wenn man Twiggy fragt, warum sie im Jahr 2012 überhaupt noch eine Platte herausbringen muss, dann gibt sie sogar zu, dass sie es eigentlich selbst nicht weiß. „Ich singe einfach gerne! Und ich war sehr überrascht, dass die Plattenfirma mich gefragt hat. Der Musikindustrie soll es doch so schlecht gehen!“ In Amerika, wo sie so besonders geliebt wird, kommt die CD am Valentinstag heraus. In Twiggys Tele-shopping-Kanal müsste das doch eine Sondersendung geben.

In den Sechzigern, als der Popmarkt in London noch brummte, dachte komischerweise keiner daran, Twiggy als Sängerin groß rauszubringen. 1967 trat sie zwar vor 14.000 schreienden Japanern in der Budokan Hall in Tokio auf, aber die Show bestand nur darin, dass sie in verschiedenen Kleidern den Laufsteg auf und ab lief, während eine örtliche Beatles-Coverband spielte. Das britische Label Ember Records veröffentlichte 1967 zwei Singles, nicht mehr. Wo, zur Hölle, war Andrew Loog Oldham, der Produzent der Rolling Stones? „Ich verkehrte gar nicht in diesen Kreisen!“, sagt Twiggy, die immer noch so herrlich empört spielt, obwohl sie das alles schon hundertmal erzählt haben muss. „Ich war nicht Rock’n’Roll, ich habe pausenlos gearbeitet! Mick Jagger habe ich Mitte der Neunziger zum ersten Mal getroffen, in L.A., bei jemandem zu Hause.“ Könnte in letzter Konsequenz heißen, dass Twiggy, die Symbolfigur des Swinging London, die 60er-Jahre pfeilgrad verpasst hat.

Immerhin freundete sie sich mit Paul McCartney an, der ihr den Titelsong für eine Twiggy-in-Russland-Doku komponierte (der Film kam nie zustande, das Lied „Back In The USSR“ wurde weltbekannt). Ihre nachhaltig schicksalhafteste Bekanntschaft war, mit 17, der Filmregisseur Ken Russell, der völlig besessen von der Kleinen gewesen sein muss und sie oft zu sich nach Notting Hill einlud, zu Filmnächten in der Küche. Russell, im November 2011 verstorben, glaubte derart blind an die zusätzlichen Talente des Models, dass er Twiggy 1971 in seinem Musical „The Boy Friend“ besetzte.

Diese Hauptrolle, glaubt sie, war am Ende die Keimzelle für all die unzähligen Jobs als Sängerin, Tänzerin, Schauspielerin und Moderatorin, mit denen sie nach dem Ende ihrer Modelkarriere 1970 bis heute die Zeit gefüllt hat. Das stimmt sicher. Es ändert nichts daran, dass Twiggy eben auch das sprichwörtliche Nichts-richtig-Können erfunden hat. Dass sie, so gerne sie ihre Karriere als großes Entwicklungsdrama sieht, heute doch vor allem für ungefähr 25 Fotos bekannt ist, für die sie im Lauf von vier Jahren in den Sixties Modell stand.

Ist es nicht frustrierend, mit über 60 zu wissen, dass man alle seine wirklich anerkannten Werke schon mit 20 vollendet hatte? „Ja, das ist es“, sagt Twiggy. „Aber nur, wenn ich mich hinsetze und zu lange darüber nachdenke. Denn auf der anderen Seite: Habe ich nicht riesiges Glück gehabt? Twiggy in Japan, Russland, Deutschland, egal wo – überall auf der Welt kennen mich die Leute! Die Sixties-Twiggy ist so was wie meine kleine Freundin, die sitzt auf meiner Schulter und ist immer dabei. Aber das Wichtigste: Ich selbst bin noch da! Ich hatte Glück. Man muss das doch mal positiv sehen!“

An der Stelle taucht ihr freundlicher Ehemann Leigh Lawson im Wohnzimmer auf, erinnert sie an Interviews mit der „regionalen Presse“, die angeblich in zehn Minuten beginnen. Wahrscheinlich nur ein Zeichen, das sie ausgemacht haben. Und auf dem Weg zur Garderobe, vorbei an den vielen Bildern, den Plakaten, den Artworks aus Ken-Russell-Filmen und Twiggy-Zeichnungen vom „New York Times“-Chefkarikaturisten, die wie in einem Museum die Wände füllen – da begreift man erst so richtig, wie sehr diese Frau mit sich und ihrer Karriere im Reinen sein muss, wenn sie das alles jeden Tag sieht. Oder wie sie sich wünscht, es zu sein.

Im Flur hängt ein großer, ge-rahmter Abzug, ein Schwarz-Weiß-Foto, das Brigitte Lacombe 1999 fürs „Times Magazine“ gemacht hat. Twiggy und Kate Moss, Haare zurück, Köpfe zusammengesteckt. „Das Interessante ist“, sagt Twiggy noch, „dass wir beide eigentlich viel zu klein waren, um Models zu werden. Trotzdem sind ausgerechnet wir die zwei, die jeder kennt.“

Die Moral am Ende? „Man sieht hieraus auch, dass die wahre Erhabenheit nur im Gemüte des Urteilenden, nicht in dem Naturobjekte, dessen Beurteilung diese Stimmung desselben veranlasst, müsse gesucht werden.“ Immanuel Kant, der alte Popkritiker-Fuchs. Wahrscheinlich Twiggys Lieblingsphilosoph.

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