„Twin Peaks: The Entire Mystery“: David Lynch meldet sich zurück

Für eine aufwendige Blu-ray-Box hat sich der Regisseur endlich wieder in den Schneideraum begeben – und präsentiert uns nun vorab nie gezeigte, wertvolle 90 Minuten aus „Twin Peaks“.

Wird uns David Lynch noch immer im Unklaren lassen, ob Special Agent Dale Cooper den Kampf gegen den dämonischen BOB gewinnt? Blut auf dem Boden, der FBI-Mann (Kyle McLachlan) auch, dann wird er von seinen Kollegen gestützt, zuvor hatte er seinen Kopf wie ein Wahnsinniger gegen den Badezimmerspiegel geschlagen, bis es klirrte. Cooper sagt die sehr unheimlich klingenden Worte: „It struck me as funny“ (Foto), „ich fand das irgendwie lustig.“ Der Agent ist scheinbar von einer fremden Macht besessen. Es ist die letzte Szene, damit sind die 90 Extra-Minuten von Lynchs „Twin Peaks: The Entire Mistery“ (Paramount) vorbei.

Die Badezimmer-Szene ist die verlängerte Version des Cliffhangers der zweiten „Twin Peaks“-Staffel von 1991. Die Serie wurde danach wegen schlechter Quoten abgesetzt, das Schicksal der Hauptfigur Dale Cooper ist bis heute Gegenstand unzähliger Fan-Diskussionen, jedenfalls trägt der abrupte Schluss unfreiwillig zum Ruhm der Serie bei. Es ist ein Jammer, dass es nie weiterging mit „Twin Peaks“!

Schaut sich eigentlich noch jemand die ganzen Extras, Featurettes, Making-Offs, Bloopers, Blubs usw auf DVD- und Blu-ray-Boxen an? Das Zeug erschlägt einen meist, man lässt es liegen. Wer das bei dieser Edition jedoch auch so hält, der verpasst eines der spannendsten Film-Ereignisse der letzten Jahre: David Lynchs aufwendigste Schnittarbeit seit seinem bis heute letzten Kinowerk, „Inland Empire“ von 2006. Und das nicht mal für die Leinwand, sondern versteckt in einer Blu-ray-Box, hinter mehr als 30 Folgen „Twin Peaks“ und dem ebenfalls beigefügten Kinofilm „Fire Walk With Me“ (1992) – auf der letzten von zehn Discs. Für „The Entire Mistery“ hat der Regisseur eineinhalb Stunden verschiedener Szenen, die es nicht in die Kinofassung geschafft hatten, editiert und in eine chronologische Reihenfolge mit derart sanften Abblenden montiert, dass sie wie ein eigener Film erscheinen. So was sollte eigentlich auf der Leinwand gezeigt werden.

„The Entire Mystery“, der Titel trifft es ganz gut. „Entire“, „komplett“, und nicht etwa „resolved“ wie „gelöst“ – denn die Geheimnisse um die fiktive Kleinstadt Twin Peaks und ihren Bewohnern, sowie den spirituellen Entitäten BOB und MIKE, haben Serie und Kinowerk bereits behandelt. Wer wissen will, was es mit der „Black Lodge“, dem „Arm“ sowie diesem klobigen Ring auf sich hat, der Zeitreisen ermöglicht, braucht sich in der „imdb“ einfach nur die FAQ-Sektion zum Film durchzulesen.

Was „The Entire Mystery“ dafür bereit hält, sind feine Porträts und unzählige Andeutungen. Dass Lynch auf sie einst verzichtet hatte, beweist nur, wie sehr damals schon er auf das Vermögen des Zuschauers gesetzt hatte, selbst Schlussfolgerungen herzustellen.

Nun, da wir alles analysiert haben, ist das Gesamtwerk der reine Genuss. Bitte zurücklehnen: Wir sehen in einer – gemein fotografierten –Einstellung, wie Dale Cooper sich tatsächlich mit seiner Sekretärin Diane, die wir bislang nur aus seiner Ansprache in ein Tonbandgerät kannten, von Angesicht zu Angesicht unterhält; später sehen wir Jürgen Prochnow, verkleidet als Dreigroschenoper-Penner; eine längere Szene mit – dem als Schauspieler wie immer groß auftretenden – David Bowie als interdimensional reisenden Agenten. Hier kann er so furchterregend schreien, dass danach keiner mehr Witze über sein „Dancing In The Streets“-Video machen sollte. In anderen Szenen werden wir Zeuge, wie die Familie Palmer einen sehr lustigen, sehr rührenden Dialog auf Norwegisch am Esstisch einstudiert; später erhält Laura eine geheime Briefnachricht, die sie auf ihre finale Begegnung mit einem Engel einstimmt; und nicht zuletzt, wie der teuflische BOB das menschliche Antlitze von Laura ins Schreckliche zieht, bis hin zur absolut regungslosen Grimasse. Dies sind die besten Momente, die David Lynch aus seiner 135-minütigen Kinofassung von „Fire Walk With Me“ strich. Und sie sind wahnsinnig gut.

Im Anschluss an den 90-Minüter empfiehlt sich das für die Edition geführte Kneipen-Gespräch („Between Two Worlds“) zwischen Lynch, Ray Wise (Leland Palmer), Grace Zabriskie (Sarah Palmer) und Sheryl Lee (Laura Palmer). Der Talk ist unterhaltsam, wenn auch etwas albern, da der Regisseur sich hier mit den Schauspielern zunächst in character unterhält, die drei Mimen nach mehr als 20 Jahre wieder versuchen in ihre alten Rollen zu schlüpfen, und wie sie aus heutiger Sicht zur Familie stehen. Wir müssen uns also vorstellen, dass dort am Tisch auch zwei Tote sitzen. Laura: „Ich liebe meine Familie mehr denn je“.

Großer Dank geht an Ray Wise, der während des Gesprächs Lynch auf einen weiteren Film, dessen ersten seit fast zehn Jahren, festzunageln versucht. „Yeah, i … i would definitely like to do it, and to do it with you“, sagt der Filmemacher gerichtet an seine drei Darsteller, sichtlich berührt.

Twin Peaks – das Phänomen

Noch immer geht ein Raunen durch die Welt, wenn auch nur das kleinste Gerücht darauf hindeutet, dass David Lynch seine Serie „Twin Peaks“, die es seinerzeit nur auf zwei Staffeln (1990-1991) gebracht hatte, wieder beleben könnte.

„Twin Peaks“ bot das bis dahin größte Puzzle der Fernsehgeschichte. Aus einem reinen „Who dunnit?“, der Frage, wer die Teenagerin Laura Palmer (Sheryl Lee) ermordete, entwickelte sich im Verlauf ein Spiel mit Identitäten, Übersinnlichem, Illusionen und lebenden Toten. Im Mittelpunkt standen surreale Charaktere: Allen voran der stoische, aber freundliche Agent Dale Cooper (Kyle McLachlan); für einen guten Kaffee und ein Stück Kirschkuchen hatte er immer Zeit, selbst wenn ein Unbekannter es auf seine Ermordung abgesehen hat.

Das fiktive Örtchen „Twin Peaks“ war die Kulisse für eine Lynch-Fantasie, die er schon für seinen Film „Blue Velvet“ (1986) angewandt hatte: Hinter jeder idyllischen Kleinstadtfassade verbergen sich Charaktere mit unergründlichen Motiven. Der Regisseur engagierte dafür eine hochkarätige Besetzung aus Kinodarstellern – neben McLachlan etwa Piper Laurie, Everett McGill, Joan Chen, Grace Zabriskie und Ray Wise – und mit Angelo Badalamenti einen Komponisten, der mit Daily-Soap-Motiven ebenso spielen konnte wie mit Synthesizer-Klängen, durch die man in tiefste Abgründe blickte. Lynch behandelte das Medium Fernsehen mit größtem Respekt, viele Episoden waren wie Kino – „Twin Peaks“ war 1990 damit Vorreiter jener aufwändig produzierten Serien, die ab der Jahrtausendwende das TV revolutionierten, wie „The West Wing“ und „Six Feet Under“. 

Wegen stark nachlassender Quoten wurde „Twin Peaks“ nach nur zwei Staffeln abgesetzt; sie endet mit einem der wohl besten Cliffhanger überhaupt. „Gerne hätte ich gesehen, was aus Dale Cooper in Staffel drei geworden wäre“, sagte Lynch in einem Interview. Dazu ist es nicht gekommen. Mit „Fire Walk With Me“ schob er 1992 einen unterschätzten Kinofilm hinterher, der die Vorgeschichte von Laura Palmer erzählte. Bewusst sparte der Regisseur darin den Humor der Serie aus; die Städte waren nun voller bösartiger Menschen. So neuartig der Zugang zu „Twin Peaks“ auch gewesen ist, die Zuschauer hatten erst einmal genug von Cooper, Laura und Co, der Film wurde verrissen.

Aber jene schweren, roten Vorhänge, die in „Twin Peaks“ den geheimnisvollen „Red Room“ des Unterbewussten ausstatten, die nahm David Lynch mit. In seinem Film „Mulholland Drive“ von 2001 sollten sie noch eine große Rolle spielen.

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